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Vorwort des Herausgebers
ОглавлениеIch rechne es mir zu Ehre an, die Papiere meines Freundes HHS im siebten Jahr seines Rückzuges aus der Öffentlichkeit letztwillig ordnen zu dürfen, den Nachlass eines, der sich zuletzt, ehe er sich hinter den Mauern des Klosters Mariendamm zurückzog, schonungslos offenbarte, ein Simplizissimus, ein Don Quijote, ein Parzival des Landes Thuringia, dem alten deutschen Kernland. Hatte er sich bei der Herausgabe seiner Lebenserinnerungen im Jahre 1984 noch hinter dem einfachen unauffälligen Namen Jakob Ponte verbergen müssen, so lag es sicherlich in seiner Absicht in einem später abzurundenden Werk fürderhin als Jean-Jacques, Dr. phil. Wilhelmi-Ponte aufzutreten, und als der natürliche Sohn Professor Wilhelmis, im Konkubinat gezeugt, um nach mancherlei absichtlich herbeigeführten Verwirrungen und Verschleierungen seine wahre Herkunft bekennend aufzutreten. Die Statistiker nehmen im Übrigen an, dass jedes fünfte in bürgerlichen Kreisen geborene Kind unehelich, das heißt, im Ehebruch gezeugt wurde, eine Tatsache, von der die Schriftsteller aller Zeiten Gebrauch gemacht haben; an der Identität Wilhelmi-Pontes, wie sie hier enthüllt wird, besteht kaum mehr ein Zweifel. Es sei ferner darauf verwiesen, dass im Verlaufe des Zweiten Weltkrieges Hunderttausende ihre Väter verloren oder sie nicht kannten, dass sie ihren Erzeuger manchmal erst nach Jahrzehnten fanden. Da sanken denn alte Söhne noch älteren Vätern an die eingesunkenen Brüste oder häufiger an die Bäuche, um gemeinsam das Geschick zu beklagen, das ihnen den väterlichen Segen vorenthalten hatte und die kindliche Liebe. So perfekt unsere Physis, so unvollkommen ist eben leider unsere Psyche. Es scheint in der Tat dem Bastard ein schwereres Los beschieden zu sein, als dem gewöhnlichen Nachkommen …
Als jener Jakob Ponte, im Jahre 1935 geboren, als er zur sozialen Korrektur seiner Persönlichkeit im Jänner 1962 wie es damals Sitte gewesen ist, in die Produktion verschickt wurde, schien ein begnadeter Künstler, Literat und Akademiker seiner Zukunft beraubt. Alles war ungewiss, viel mehr war es nur zu gewiss. Viele brave Menschen sind heute derzeit am Werke, ihre tragischen Schicksale aufzuarbeiten; so nennen die Rechtgläubigen der freudschen Sekte diese ihre Archiv- und Suchtätigkeit, um sich an der Klagemauer einzufinden, beziehungsweise des Irrtums zu zeihen. Sie müssen es tun, um weiterzuleben, und sie tun es solange, bis sie aus dem Prozess ihrer Katharsis wie neu geboren hervorgegangen sind. Wilhelmi-Ponte jedenfalls war seinerzeit A.D. 1961 nach menschlichem Ermessen verloren. Braunkohle; die Heutigen erinnern kaum noch etwas an diese rückständige Form der Energiegewinnung, wo ihre Dächer gläsern gedeckt sind oder es jedenfalls werden sollen, die das Sonnenlicht in Energie umwandeln, ja, falls diese scheint, indessen sie beim abendlichen Fernsehen die Fenster schließen, um das erschütternd surrende Geräusch der Windkrafträder über ihren Köpfen fernzuhalten. Um zu telefonieren, allzeit und jederzeit, setzen sie sich dem Elektrosmog aus, der unsichtbaren Strahlung, zum Schaden ihrer inneren Ordnung. O Jahrhundert, O Wissenschaft, es ist eine Last zu leben, möchte man unseren Schiller berichtigen. Wo die jetzt aufgefüllten Senken und Gruben naturähnliche Areale und Gewässer bilden, an deren Ufern Schilf und Heidegewächse stehen und Bäume gedeihen, in deren Zweigen Singvögel herumhüpfen, wenigstens während des europäischen Sommers, und nur die wenigen Arten, welche noch nicht ausgerottet sind, dort hat also unser Held einige Jahre in Schande und in Elend zugebracht, ehe sein überraschender Aufstieg begann, an welchem der Dirigent Wimmer-Fanselow einen ungewissen gleichwohl aber hohen Anteil hat, auch ein Musiker, ein anderer zwar als der, welchem Leipzig die sanfte und friedliche Revolution verdankt und die östliche Welt ihre vorläufige Wiedereingliederung in den segensreichen Neokapitalismus der westlichen Hemisphäre. Aber immerhin, für unseren Helden war dies alles nicht nur ein Gewinn. Wilhelmi-Ponte wähnte sich mit seiner Frau Helene, seiner kleinen Schwester und Gattin, wie er sie einst zärtlich genannt, Anno Domini 1984 in Sicherheit, im dauernden Wohlstand lebend; er sah sich vielfach geehrt und privilegiert, aber die mir durch den Präfekten Pater Hochleitner aus dem Kloster der Heimsuchung Mariendamm, dem Leiter des dortigen katholischen Gymnasiums und Chef der Glaubenskongregation beim Pater Provinzial, überwiesenen Blätter zeigen doch ein anderes Bild, nicht gerade das eines reuigen Sünders, sie bieten auch keinen in sich geschlossenen Erzählfluss, was mir als Verleger die Herausgabe dieser Blätter in Buchform ungemein erschwert hat. Auf dem Wege seiner Läuterung hat der Verfasser, seinem Alter und seiner Erfahrung nach nicht mehr unter dem Zwang stehend, zu publizieren und auf alle Rezensionen wie auf das Feuilleton und die Öffentlichkeit geglaubt pfeifen zu können, da nun einmal alles ganz eitel ist, wie der Prediger in seiner biblischen Reportage über uns sagt, hat die Perspektive und die Zeiten je nach seiner Laune sprunghaft gewechselt, wie es ihm in den Sinn kam. Im Grunde dienten ihm seine Aufzeichnungen wohl nur noch zur Unterhaltung überständiger theologischer Schriftgelehrter, unter denen er allerdings ein gewisses, ein hohes Ansehen genoss, bis er seinen Vortrag abbrach und schlicht verstummte. Ich denke jetzt an das Gemälde des Rembrandt, auf dem das Malergenie eine Gruppe Menschen in einen düster-grellen Zusammenhang gebracht hat, bis ihm die Auftraggeber empört Respekt und Honorar verweigerten; dieses Werk dürfte heute auf dem sogenannten Kunstmarkt zig Millionen einbringen. Ähnlich das Ensemble der Zeitgenossen Pontes in ihren lächerlichen und tragischen Posen und Verwandlungen, in denen sie sich zögernd wiedererkennen! Der nunmehr dieser ganzen Sammlung, mehr Kolportage als Roman, überschriebene Titel Karrieristen und Denunzianten ist von mir als autorisiertem Herausgeber nach gründlicher Überlegung gewählt worden, unter Benutzung von Teilen des ersten Entwurfes 1984, Der Hades der Erwählten. Zwar gehört das falsch Zeugnis reden wider unseren Nächsten seit undenklichen Zeiten zum Topos des Homo sapiens, wie die uns angeborene Niedertracht, aber der durch die vorsätzlich falsche oder einseitige Interpretation des Begriffes Stasi in die Irre geführte Zeitgenosse mag damit aktuell eben nur das spezielle billige politische Spitzeltum verknüpfen, nicht aber die allgemeine Neigung zum Verrat als uns eigen, eine uns in die Wiege gelegte Heimtücke, bei der wir nicht selbst den Henkersknoten binden, sondern ihn von anderen knüpfen lassen, um der Exekution amüsiert und anonym beizuwohnen. Wer wird es denn wagen, sich der Öffentlichkeit als Denunziant zu präsentieren und darzulegen, mit welchem Lustgefühl er seinen Bruder ans Messer lieferte, wie er der Rechtgläubigkeit in den Arsch kroch, auch wenn er davon keinen materiellen Nutzen hatte! Na, also! Wie auch die heutigen, Parlamentarier, Minister und Parteigänger ihren Aufenthalt im After des demokratischen Großherrschers, als angenehm warm und angemessen empfinden und als Ort der Lust anderen empfehlen. Allein jeder verriet und verrät jeden, und selbst Heilige fürchten das Gerücht, wie wir aus den Zeugnissen vieler Märtyrer wissen. Beispielsweise legte der Kirchenvater Augustinus dem Missionar seines Zeitalters nahe, ruhig das Mittel der Folter anzuwenden, wenn er einen Taufunwilligen anders nicht kirren und in die christliche Gemeinschaft zwingen konnte, ähnlich wie die rechtsstaatlichen Exekutoren verfahren, um einen ihnen nicht genehmen Mann aus ihrer Mitte auszuschließen. Am Beispiel der Doktorin Helene Buder-Ponte ist zu lernen, dass es auch eine Frau sein kann, die das Beil schwingt …
Um das gegenwärtige Bild unseres Helden zu liefern; seit seinem Aufbruch ins physische Leben A.D. 1935 bis zum Millennium sind oder waren runde fünfundsechzig Jahre eines Auf und Ab dahingegangen. Jean-Jacques lebte seit der sogenannten Wende, der dritten in seinem Leben, das heißt der Kolonisierung des Ostens und der Wiedererweckung des demokratischen Kapitalismus, nach einer Interpretation des amerikanischen Präsidenten Bush, der uns die Folter wieder schmackhaft machte, bescheiden aber wohlhabend und zurückgezogen mit seiner kleinen Schwester und Gattin in seiner thüringischen Heimat. In den Folgejahren trafen ihn viele Schicksalsschläge und menschliche Verluste, bis er dem öffentlichen Leben entsagte wie jener Simplizissimus, der gleich seinem Vater, dem alten Einsiedel, in die Wälder ging, um Eicheln zu fressen und Quellwasser zu saufen, und um endlich die ewige Seligkeit zu erringen und zum Vater einzugehen. Nun, ganz so schlimm wurde es nicht, dank seiner herrlichen Tochter, der kühnen Amazone und Sauromatin Brunhilde, der weiblichen Lichtgestalt dieses Buches und die Hoffnung nicht nur ihres Vaters Wilhelmi-Ponte, sondern der Menschheit schlechthin, also beinahe nicht von dieser Welt wie inzwischen alle Frauen ...
Wir wissen nicht, ob unser Schmerzensmann noch unter den Lebenden weilt und sich vor uns verborgen hält; jedenfalls aber ist er dort angekommen, von wo er einst aufgebrochen war, um sein Glück zu machen. Dass sich unser Mann am Ende seiner sprachwissenschaftlichen Studien den Texten der altägyptischen Totenbücher, vornehmlich dem Totenbuch des Ani, widmete, einem Geheimschreiber des sogenannten neuen Reiches, dass sich Wilhelmi-Ponte den 42 Gottheiten stellen und ihre Fragen nach seiner sittlichen Lebensführung mit dem stetigen aber beharrlichen nein, dem sogenannten negativen Glaubensbekenntnis beantworten wollte, ehe er sein Herz in die Waagschale legte, zeugt von dem bedeutenden sittlichen Mut eines Mannes, der in den Geheimakten des vergangenen Staates als Informeller Mitarbeiter Evangelist geführt wurde und beiläufig diesen oder jenen ans Messer geliefert hat. Sein Herz müsste nun bei dem Wiegevorgang leichter sein als eine Feder!
Ich nehme die Erzählung aus der Hinterlassenschaft nach einem Umweg dort auf, wo der Held ins Leben trat, wo er stieg und fiel, weise und glücklich wurde, an der Seite seiner Lebensgefährtin Helene Buder-Wilhelmi-Ponte, nehme sie auf, nach mehr als zwanzig Jahren und der Erstveröffentlichung seiner Lebenserinnerungen A.D. 1984, an denen ich, wie erwähnt, einige Ergänzungen und Änderungen in seinem Sinne vorgenommen habe. Lassen wir ihn also angehen, den Cantus firmus und geben wir ihm gelegentlich selbst das Wort, wie er den Vätern im Refektorium oder auf Spaziergängen im Klostergarten oder anderswo seinen Lebenslauf mit einem Zitat zu beginnen pflegte, das als Leitfaden herzusetzen mir ein Bedürfnis ist: Wohlwollender Leser; vernimm die Bezeichnung, die ich dir gebe. Denn wahrlich, wenn du nicht wohlwollend wärst und geneigt, die Worte ebenso wie die Handlungen der ernsthaften Personen, die ich dir vorstellen will, im guten Sinne aufzunehmen, wenn du dem Autor nicht den Mangel an Übertreibung, den Mangel an moralischer Zielsetzung und so weiter und so weiter verzeihen wolltest, würde ich dir nicht raten, weiterzulesen.
Diese Erzählung wurde in Gedanken an eine kleine Anzahl von Lesern geschrieben, die ich niemals sehen werde, was mich sehr betrübt; ich hätte so viel Vergnügen daran gefunden, die Abende mit ihnen zu verbringen. Ich habe sehr lange mit Lucien Leuwen zusammengelebt; er ist der Held dieser Geschichte, die im Grunde nicht wirklichkeitsgetreu ist, wie auch eine andere, nicht gerade sehr vornehme, die ich vorzeiten veröffentlichte. Er war von der École Polytechnique verwiesen worden, weil er zur Unzeit spazieren gegangen war ... So der unsterbliche Stendal! Lassen wir ihn also wirklich angehen, den Cantus firmus.