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1. Kapitel
ОглавлениеBevor der Krieg endete, brachte Mama der lange gehegte Plan, mich in eine höhere als die Volks- oder Gemeindeschule zu schicken, auf den Einfall, mich bei unserem Gymnasium Justus von Liebig anzumelden.
Wir, Großmutter und ich, hatten uns gefragt, weshalb Mama nicht längst nach Weimar oder sonst wohin zu ihrer Luftabwehr abgereist war; auf Fragen, gab sie keine klare Auskunft, aber wir glaubten, dass sie vergeblich auf ihren Ehemann wartete, oder bloß auf ein Lebenszeichen dieses Herren. Sie ging häufig zum Standesamt, um sich zu erkundigen, ob endlich das Jawort meines Stiefvaters eingegangen sei, aber diese Gänge waren bisher vergeblich gewesen. Großvater verteidigte unterdessen das thüringische Vor- und Vaterland; er war eingezogen und zur Bewachung einer Barackenanlage eingesetzt worden, in der die sogenannten Fremdarbeiter aus allen Himmelsrichtungen lebten und sicherlich auf das Kriegsende lauerten, das sie wieder in ihre jeweiligen Heimatländer spedieren würde, nachdem sie uns die Hälse umgedreht hatten. Und übrigens wimmelte die Stadt von Flüchtlingen aus den bedrohten oder schon verloren gegangenen Ostgebieten des Reiches.
Mama schickte sich trotz allem an, dem Direktor des Gymnasiums ihren Sohn als seinen künftigen Pennäler einzuschwätzen. Aus unerklärlichen Gründen waren meine Leistungen recht mäßig geworden. Mir waren sie erklärlich; ich war der Schule überdrüssig. Helene aber sprach mit Hochachtung und Neid von der Bildungsstätte; wer eineHohe Schule besuchen dürfe, dem stünde alles im Leben offen. Hingegen wusste ich recht wenig darauf zu erwidern, befürchtete, dass mit diesem Wechsel eher die Ansprüche an mich steigen würden, als mir einen realen Nutzen einzutragen.
Ihr Schicksal war ungewiss. Mamas Brief an ihre Schwester war lange unbeantwortet geblieben, bis endlich die amtliche Nachricht einging, dass Helenes Mutter Opfer des britischen Bombenterrors geworden sei und unter den Trümmern des Wohnhauses im Berliner Stadtteil Moabit ihr Grab gefunden habe. Diese Mitteilung nahmen alle Hausgenossen ziemlich gleichgültig auf; dass Helene trauerte, konnte ich nicht feststellen; von mir zu schweigen. Die Familie hatte wohl zu lange getrennt und zerstritten gelebt, als dass sich die Bindungen vertiefen konnten. Was mich betraf, so konnte ich im Tode dieser Frau durchaus keinen Verlust sehen, da ich sie nicht gekannt hatte. Jedenfalls war das Mietshaus mitsamt ihrer Wohnung in Moabit durch eine feindliche Sprengbombe gründlich getroffen und zerstört worden; nach Meinung Großmutters kam für diese Tochter, einer religiös Abtrünnigen nicht einmal mehr das Himmelreich in Betracht. Unter anderen Umständen hätte sie vielleicht ihren Neffen gebeten, der verstorbenen Tochter eine Totenmesse zu lesen. Demnach war Helene also eine Halbwaise und musste bei uns bleiben, was weder ich noch Großmutter beklagte, wenn auch aus unterschiedlichen Gründen. Nein, der Verlust ihrer Eltern brachte meiner kleinen Schwester weniger als nichts ein, obschon ich sie scheinheilig zu trösten suchte.
Eifervoll unterzog sie sich der Mühe, mich auf die Anforderungen eines Gymnasiums vorzubereiten, mir Aufgaben aus den Lehrbüchern zu stellen, die sie sich in der Stadtbibliothek zu verschaffen gewusst hatte. Ihre altkluge Sanftmut steigerte sich noch, wenn ich störrisch auf ihre Rügen reagierte. Sie bedeutete mir, ich habe dankbar zu sein, sollte ich in diese Hohe Schule aufgenommen werden. So kam es dahin, dass ich manchmal den Dummen spielte, um sie zu einem ihrer Trostsprüche zu veranlassen oder um sie loszuwerden. Später bin ich ein Opfer dieser Rolle und meiner Torheit geworden, aber was weiß ein Knabe von der Tragik des Weiblichen, nach Schnitzler, wenn er meint, im weiblichen Wesen das ihm nahe und angenehme gefunden zu haben.
Eines Tages also nahm mich Mama bei der Hand und besuchte mit mir das altehrwürdige Gymnasium. Um es gleich zu bemerken, die Schule selbst habe ich nie betreten, weil das Rektorzimmer in einem gesonderten Haus untergebracht war, in dem auch die Wohnung des jeweiligen Herren über einige Generationen Pennäler lag, allerdings nur, solange er bedienstet war. Danach hatte er die Wohnung für seinen Nachfolger zu räumen, falls man ihn nicht gnadenhalber weiter wohnen ließ.
Unterwegs beim Gang unter den alten Bäumen des Stadtwalls wurde mir flau; ich wäre am liebsten wieder umgedreht. Auf dem trüben Wasser tummelten sich Enten, wie gern hätte ich mit ihnen getauscht. Das Steintor auf dem Wall stand fest da wie eh und je, und ich empfand, um wie viel Sachen dauerhafter sind als menschliche Wesen, denn dieses steinerne Ding hatte alle und alles überlebt.
Wir warteten im Flur, um vorgelassen zu werden. Dunkel stand Mamas Profil gegen das Fenster und mir fiel auf, dass ihre Nase ein wenig aufwärts gebogen war, zum Himmel zeigte, und dass sich ein Doppelkinn zu bilden begann, was ihr nicht übel stand. Ihre hohe, hinten aufgesteckte Frisur erlaubte es ihr, den kleinen Hut weit ins Gesicht zu ziehen. Endlich durften wir ins Zimmer des Direktors eintreten, eines kleinen dicken Menschen mit einem Kugelkopf. Zwischen seinen Lippen sahen zwei große Schneidezähne hervor, wie die Nagezähne eines Kaninchens, er konnte offenbar den Mund nicht ganz schließen, und ihn übrigens auch nicht halten, wie sich schnell erweisen sollte. Überhaupt erinnerte der Mann ein wenig an einen Rammler, vielleicht weil er den Kopf einzog und die Ohren an den Kopf legte, wenigstens meinem Eindruck nach, wenn er eine seiner hinterhältigen Fragen an uns gerichtet hatte. Eilfertig notierte er meinen Namen, als wolle er sich meiner unwiderruflich versichern. Eher beiläufig ließ er sich meine Zeugnisse der Volksschule zeigen; ich hoffte allerdings, dass ihn meine elenden Leistungen abschrecken, und dass er mich zurückweisen würde, allein dem war nicht so …
»Soweit bei Jakobs Leistungen die Einschulung in ein Gymnasium überhaupt möglich ist«, sagte Mama heuchlerisch; sie würde mich gegen alle Widerstände hier eingeschult haben, falls sie es sich in den Kopf gesetzt hatte. »Er soll eine klassische Bildung erhalten«, setzte sie nach. Ich fand es nur dumm, mich herauszustreichen, denn ich sah mehr als sie; dieser Mensch interessierte sich nicht für die Benotung meiner Leistungen; er hatte offenbar andere Gründe Schüler zu angeln. »Ah, ja, natürlich. Sie sind gewerbetreibend?«
»Meine Eltern sind es«, erklärte Mama. »Wie mein Gatte, Herr von Oe, gehöre ich augenblicklich der Luftabwehr bei der Außenstelle Weimar an«.
Der Direktor nickte, als habe er vorausgesehen, dass Mama von der Gewerbetreibenden zur Gräfin aufgestiegen war und gerade die Feindflieger am Himmel aufspürte, um sie der Vernichtung durch unsere Nachtjäger auszuliefern, was freilich leider nur noch selten gelang. Dann wechselte der Direktor das Thema. »Hat bei dem jungen Mann die Pubertät schon eingesetzt?«
Ausgeschlossen, das müsse sie als Mutter doch wissen, sagte Mama entschieden, die im Grunde ja nichts von mir wusste, die kaum sich selber kannte und der meine Entwicklung ebenso ein Rätsel gewesen seine dürften wie mir selber. Nebenbei bemerkt war ich bei der Entdeckung einiger Haare an den in Betracht kommenden Körperstellen von selbst darauf gestoßen, dass sich in mir etwas fürchterlich Neues abspielte.
»Glauben Sie einem alten Schulmann, es gibt mehr Dinge in einem Pennälerleben, als wir uns träumen lassen«, erklärte der Direktor überzeugt. Da es Zeit wurde einzugreifen, weil ich plötzlich Lust verspürte, in dieser Einrichtung aufgenommen zu werden, wenn auch nur, um zu erfahren, was Pubertät bedeutete, sagte ich mit fester Stimme, dass ich mich freuen würde auf die Hohe Schule zu kommen, dass es immer mein sehnlichster Wunsch gewesen sei, der höheren Bildung teilhaftig zu werden. Misstrauisch beäugte mich der Schulmensch; er traute mir sichtlich nicht, womit er durchaus recht hatte. Ein solches Schülerexemplar mag ihm in vierzig Jahren nicht vorgekommen sein. Er zog einen Fragebogen aus der Schublade, legte ihn vor sich hin und trug die Daten unserer äußeren Verhältnisse ein, Adresse und Geburt, was alles in einen Fragebogen gehört. Bis zu der Frage, ob ich schon Mitglied des Deutschen Jungvolkes sei, ging alles gut. Es entstand eine Pause und ich dachte, was kommt nun noch? Sich zurücklehnend, beherrscht aber siegesgewiss mit dem Bleistiftende auf die Tischplatte klopfend, sprach der Direktor leichthin verschlagen genug, es fehle nur noch eine Kleinigkeit, der arische Nachweis, wie er nunmehr laut Gesetz von jedem vollwertigen jungen Deutschen verlangt werde, zum Schutze des deutschen Blutes. Anders gehöre der jeweilige Kandidat in eine Konfessionsschule, ja wenn sich denn hier noch eine finde, was man im Schulamt beim Rathaus erfragen könne. Wie sie wisse, dürften Juden und Mischlinge in keine deutsche Schule mehr aufgenommen werden. »Aber«, sagte er still, »es ist ja noch Zeit genug, bis zu seiner Umschulung, das Rassezeugnis zu beschaffen.«
Bestürzt blickte Mama zur Seite; um Zeit zu gewinnen, entnahm die ihrer Handtasche ein kleines umhäkeltes Tuch und tupfte sich die Mundwinkel, aber ich sah, dass ihre Hände zitterten. Dann steckte sie es wieder ein und knipste die Tasche zu, was ein scharfes Geräusch gab, und wie eine Kampfansage klang. Von diesem Augenblick an konnte ich in diesem Schulfuchs nur einen persönlichen Feind sehen. »Nun, ich kenne ihr Geschäft am Markt, ihre alteingesessene geschätzte Familie. Ihren Herrn Vater, einen Parteigenossen, kenne ihn von der Liedertafel; wie ich schon sagte, beschaffen Sie den Nachweis, bei Ihren Verbindungen eine reine Formsache natürlich«, wiederholte der Direktor. »Ihr jetziger Gatte ist aber nicht der Vater ihres Sohnes, wie?« Hieraus ersah ich, dass Mama mit ihrem Fehltritt der Stadt einen dauerhaften Gesprächsstoff geliefert hatte, was dieser Hasenmann gewissenlos ausnutzte, um uns bloßzustellen. »Nein«, sagte Mama kalt, »aber ich werde mich bemühen, Ihnen das verlangte nachzureichen.«
Im Stadtpark auf dem Rückweg entlud sich ihr Zorn. »Was denkt sich dieser Affe eigentlich? Woher soll ich für dich einen arischen Nachweis nehmen?«
»Vielleicht von Doktor Wilhelmi«, schlug ich nichts ahnend ahnungsvoll vor, womit ich zwar auf dem richtigen Wege war, ohne einen Grund für diesen Vorschlag bei der Hand zu haben, aber nicht gut bei Mama ankam. »Werde nicht unverschämt«, rief sie aus, »du hast ja keine Ahnung, um was es hier geht.« Doch ich hatte diese Ahnung und sprach aus, was alle dachten oder wussten, unter Umständen der unerwünschte Spross eines schäbigen Hebräers zu sein, somit ein Mischling. Will noch hinzufügen, dass ich mich nicht etwa schämte, sondern mich eher für einen interessanten Sonderfall hielt.
»Bist du verrückt? Seh’ ich aus wie eine Jüdin?« Obschon ihre Person nicht infrage stand, zeigte sie auf ihre Nase und auf ihre langen seidenbestrumpften und sehenswerten Beine. »Sind meine Beine vielleicht krumm wie bei den Juden? Mein Haar ist blond, früher war es sogar hellblond. Innerlich war ich überhaupt immer blond. Jetzt trag ich das Haar ein wenig gebleicht, wie in der Reichhauptstadt üblich. Seinerzeit ist in diesem verfluchten Nest viel geklatscht worden. Also halte besser den Mund und warte alles ab.« Ich schwieg, als ich sah, dass sie mich nicht verstehen wollte, da es ja nicht um sie ging, bei der die Beschaffung des Ariernachweises keine Schwierigkeiten gemacht hätte, sondern um jenen Herrn, dem ich meine Existenz verdanken sollte.
Am Abend tagte der Familienrat. Hochwürden, von dem sie Zuspruch erwarteten, sah gedankenverloren hinunter auf dem Markt. »Nun sagen Sie was«, fuhr ihn Großmutter an, »da unten finden Sie keine Antwort, was soll aus Jakob werden? Was soll Maria tun? Seien Sie jetzt kein Dummkopf und halten Sie keine Kanzelrede. Geben Sie einen praktischen Rat«, drängte ihn Großmutter. »Soll dieser Graf Jakob adoptieren? Ja, wenn es ihn denn gibt.« Aber mein Wahlvater schwieg und blickt weiter hinunter auf den Mark und sagte nachlässig, wer weiß, wie lange alles noch dauere. Man könne ja tatsächlich kaum etwas anderes machen als abwarten …
Mama fuhr endlich zurück nach Weimar; ihr Fall wie auch der meine blieb also vorerst ungelöst. Eines Tage stand eine Frau mit einem zu groß geratenen Knaben im Laden und zeigte ein amtliches Schreiben vor, die Einweisung in unsere Wohnung, gegen die Großmutter im Rathaus zwar sogleich Sturm lief, weil wir selbst schon beengt genug seien, aber gar nichts ausrichtete, trotz ihrer trefflichen Beziehungen zur Obrigkeit. Die beiden neuen Hausgenossen kamen mir sehr gelegen; sie hatten eine weite Reise hinter sich, waren von weither, nämlich aus dem fernen Ostpreußen, und sie hießen Frau von Schramm mit Sohn Ehrenfried von Schramm. Dies veranlasste Großmutter vielleicht zur Nachsicht und brachte sie auf den Gedanken, für ihre Tochter eine Art Standesbeziehung zum Adel herzustellen. Sie erklärte also der Mieterin, dass ihre Tochter, meine Mama, just durch Heirat eine Gräfin Oe geworden sei, indessen nahm die neue Mieterin diese Nachricht nur gleichgültig auf, als habe es damit nicht viel auf sich. In meiner Erinnerung ist sie eine unauffällige mütterliche Frau, eine Kriegerwitwe und ohne alle Mittel zumal; sie sprach langsam und in einem uns fremden Dialekt und war keineswegs zu beneiden. So kam es denn, dass die beiden Schramms vorläufig neben den Kammern im Obergeschoss des Knochenhauerinnungshauses erbärmlich genug untergebracht wurden. Der Knabe Ehrenfried war ein stattlicher Bengel, gegen den ich wie ein Zwerg wirkte. Sachen hatten die beiden nicht mitnehmen können, aber ein landwirtschaftliches Gut zurückgelassen; ihre Koffer waren mitsamt dem Schiff untergegangen, das sie mit vielen anderen aus dem Kessel Ostpreußens hatte herausbringen sollen. Es war torpediert worden und die Mehrzahl der Passagiere ertrank oder erfror im eiskalten Wasser, aber die Schramms konnten aufgefischt und gerettet werden. Diese Schiffstragödie liefert bis heute Vorlagen für Filme und Dokumentationen mit mehr oder minder verlogenen Kommentaren, als seien die Opfer an ihrem Schicksal schuld. Die Schramm durfte nunmehr Großmutters Küche und unser Geschirr benutzen, bekam Holz und Briketts, um das kleine Zimmer zu heizen, in dem die beiden hausten. Für uns junge Menschen brach eine fröhliche, leider aber kurze Zeit an, die schönste meiner Kindheit. Wasser für Tee summte im Kessel auf den Ofen in meiner Kammer, ich betätigte mich als Wirt der uns zugeflogenen Gäste. Helene bereitete ein Getränk aus Früchten für uns, und wir sahen von meinem Fenster aus über die verschneiten, vom Kältedunst überlagerten Dächer. Wenn einer die Tür öffnete, zog der Wind eisig durch den Raum, denn es war ein harter aber schöner Winter.
Meine kindlichen Vorstellungen sollten bald erfüllt werden, falls ich den Weltuntergang und die Auferstehung erwartet haben sollte. In den Wochen des letzten Kriegsjahres fiel bei ruhigem Wetter fast täglich Schnee. Unser Haus wirkte geisterhaft dunkel und leer, nein, es war leer.
Mama weilte in Weimar; wochenlang hörten wir nichts von ihr; nur Großvater erschien regelmäßig, um die Wäsche zu wechseln und uns zum Widerstand anzuhalten, sollten die Feinde, Bolschewisten und das Weltjudentum zumal in unser Städtchen eindringen, um uns zu vernichten. Er war zuversichtlich, was unseren Sieg anging und streng mit den Feinden. Täglich könne der Führer den Einsatz der neuen vernichtenden Waffen befehlen; in diesem Glauben bestärkt, fuhr er wieder zum Wachdienst. Indessen hatten wir von der Schramm gehört, wie die Russen in den Städten und Dörfern Ostpreußens gehaust hatten und ich fühlte die Ungewissheit vor dem kommenden in jedem Winkel des Knochenhauerinnungshauses nisten. Um nicht missverstanden zu werden; nicht dass ich Angst hatte, es war eher eine neue Art Spannung, Beklommenheit und Neugier, was mich in Aufregung hielt, aber die Angst der anderen, Großmutter vielleicht ausgenommen, die niemals und vor niemandem Furcht hatte, war sicherlich real. Großvater fürchtete sich vor der Zukunft, mit Recht, wie sich herausstellte und meine Großmutter bereitete sich auf ihre Weise auf den Untergang vor. Zweimal wöchentlich kam mein Wahlvater, den ebenfalls nichts anfocht, der die Ruhe selbst blieb, um uns in all diesen Schicksalsfragen zu beraten. Sollten wir aufs Land ins Bayrische hinein flüchten, wo Großmutter Angehörige hatte? Würden eher die Amerikaner hier sein, als die Russen oder die Engländer, und wer uns noch alles das Fürchten lehren und den Frieden seiner Art bringen wollte; wer war vorzuziehen von diesen unseren Feinden und Räubern und Mördern? Kamen sie alle gleichzeitig, um uns kalt zu machen? Manchmal glitten Großmutters forschende Blicke über mich, aber die Hoffnung auf meine Sehergabe konnte ich eben jetzt nicht erfüllen, und nicht vorhersagen, was geschehen werde …
»Uns bleibt nur die Hoffnung auf den Herrn«, sprach mein Wahlvater, der für sich am wenigstens zu fürchten schien. In der Tat mochte ihn sein geistlicher Rock vor den zu erwartenden Übergriffen schützen, so dachte ich wohl. Großmutter sagte, es erscheine ihr ziemlich überflüssig, wer zuerst hier sei; die Sieger würden bekanntlich alles nehmen. »Sie sind und bleiben sich alle gleich, so war es immer, dagegen ist nichts zu machen.« Er nickte bestätigend und ich folgerte, man würde uns das Haus über dem Kopf anstecken und die Kehlen durchschneiden oder umgekehrt. Ja, ich fragte mich ernsthaft, bei wem von uns sie damit anfangen würden. Helene erblasste und brach in Tränen aus; in Großmutter setzte sich das ihr eigene männliche Wesen durch, als sie ihre Enkelin anherrschte: »Heul nicht! Dir wird nichts geschehen. Was hättest du auch zu verlieren?«
Belustigt griff Meister Fabian ein. »Na, na, liebe Frau Großtante, und die Keuschheit? Wir alle sollten in den kommenden schweren Stunden einander lieben und achten und jedermann sei jedem eine Hilfe.« Spöttisch schielte ihn Großmutter an. »Ach, sollten wir? Na, ich bin vergeblich meiner beiden Töchter Hüterin gewesen, um die Sache mit den brüderlichen Hütern abzuwandeln. Weshalb meine beiden Kinder immer nur von mir wegwollten; haben Sie dafür eine Erklärung? Ich will Ihnen etwas sagen, lieber Neffe, bevor Ihr Reich der Liebe anbricht, müssten einige Leute in die rostigen Eisenkäfige gesetzt werden, die seit dem Mittelalter an dem Turm da baumeln.«
»Und an wen denken Sie«, fragte er neckend. Sie wehrte ab, wolle sich hüten und Namen nennen, sah nachdenklich Helene an, dann schüttelte sie bedauernd den Kopf und seufzte: »Am Ende ist es gleich, an wen sie ihre Dingsda, Unschuld verliert. Sagen Sie mal, ist eine Vergewaltigung eine Sünde, die wir Weiber zu beichten haben? Oder zählt sie zu den Lässlichen?« Schweigend hob er die Schultern ... »Wie nun, soll ich dich aufs Dorf bringen, bis auf Weiteres?« wendete sie sich mitfühlend an meine kleine Schwester Helene. Da sich alle Sorge plötzlich um sie drehte, begann ich darüber nachzudenken, weshalb sie gefährdeter sein könnte als wir, und worin dieses kostbare Gut bestehe, um dessentwillen sie in Sicherheit gebracht werden sollte. Aber diese beiden Frauen, die Alte und die Junge, waren sich nähergekommen, als ich es jemals für möglich gehalten hatte, wie ich vorwegnehmend bemerke.
»Ich bleibe, wo du bist«, sprach Helene fest; es war das erste deutliche Zeichen weiblicher Solidarität und der Beginn meines Vertrauens in die praktische Vernunft der Weiber, von der wir Männer ausgeschlossen bleiben. Dies sei klug, schloss Großmutter befriedigt. »Wenn nicht ich, wer soll dann mit diesem Pack fertig werden?«
»Aha! Sehen Sie wohl«, sagte mein Wahlvater lachend, »hättet ihr der Liebe nicht, und sie hört ja auch nimmer auf, selbst wenn sie eigene Wege geht. Nein, bleibt alle beide, auf der Landstraße ist es sicher ebenso gefährlich wie hier. Eher fürchte ich die Gefahr, die von Ihrem Mann ausgeht, liebe Großtante. Er spielt den Krieger, dürfte aber dieser Rolle wohl nicht gewachsen sein und Unheil über uns heraufbeschwören.«
»Das fürchte ich auch«, bestätigte Großmutter. »Nun lassen wir es gehen, wie es will; so haben wir es doch wohl immer gemacht, wie?«
Das Reich, der Führer, die Nazis, das Deutsche Volk, wie dieses Gebilde auch immer je nach Standpunkt bezeichnet wird, unternahm eine mächtige Anstrengung, um sich seiner Feinde zu erwehren, wie in den Zeitungen zu lesen stand. Viel davon war bei uns nicht zu spüren. Ohne dass mich Visionen heimsuchten, sah ich dieses Mal dem realen Überlebenskampf ziemlich gleichgültig zu, erlebte zum Beispiel wie Großvater die Umgestaltung des Adolf-Hitler-Platzes mit seinem gotischen Rathaus, dem historischen Brunnen, dem falschen Roland, dem Hotel Zum Löwen, meiner mutmaßlichen Zeugungsstätte, vornahm, und das Café am Markt zu seinem militärischen Hauptquartier machte.
Er ließ die inzwischen beschäftigungslos gewordenen Fremdarbeiter aus dem von ihm bewachten Lager nach Müllhaeusen verfrachten und in die Kellerräume des Rathauses sperren, von wo sie zum Bau der Barrikaden herausgerufen wurden; er ließ sie das Kopfsteinpflaster aufreißen und mit allerlei Gerümpel zu einer Festungsmauer aufschichten, den Markt nach allen Seiten hin uneinnehmbar verbarrikadierend. Tag und Nacht war sein Bauwerk von den Heimatkriegern besetzt und bewacht, um die militärische Lage doch noch zu unseren Gunsten zu wenden. Von meinem Fenster aus konnte ich von oben herab hinter diese Barrikade blicken; was ich sah, machte einen tiefen und sonderbaren Eindruck auf mich. Es war kein ernsthafter Krieg zu sehen; ein paar alte Herren saßen in Hut und Mantel auf mitgebrachten Schemeln oder Klappstühlen, wussten nicht wohin mit den ihnen ungewohnten Schießgewehren und befummelten ihre Pfeifen, rückten die drückenden Koppel über ihren schlaffen Bäuchen zurecht und erhoben sich mühsam, wenn Großvater sie antreten ließ. Zweimal täglich pflegte er sie zum Zählappell aufzurufen. Irgendwo hatte er den Militärmantel eines Leutnants ergattert, über seine Joppe gezogen und sah ziemlich soldatisch aus. Hin und wieder erholten sich alle im Café Links von den Unbequemlichkeiten des Wartens auf den feindlichen Angriff.
Eines Tages aber waren seine Fremdarbeiter aus dem Rathauskeller geflüchtet und sicherlich auf dem Weg nach Hause. War das Städtchen tagsüber noch etwas beschäftigt, so senkte sich bei Dunkelheit vollkommene Ruhe über und unter die Dächer Müllhaeusens. Ein paar versprengte, aber immerhin noch einer regulären Truppe angehörende Landser stießen zu uns, sahen sich die Barrikade an und verschwanden schleunigst in Richtung Westen. Herr Links, mit einem wärmenden Ulster angetan und einer Skimütze auf dem Kopf, einem Gewehr mit langem Lauf, wie ich noch keins gesehen hatte, schloss sich den Barrikadenkriegern an. Oberstudienrat Kniri, in ähnlichem Zivil wie Herr Links, aber mit einem neuen Wehrmachtsstahlhelm verließ sein Haus am Waldhang und kam ebenfalls hinzu. Anstatt eines Karabiners führte er als Waffe ein altes französisches Seitengewehr aus dem Kriege von 1870/1871 und versicherte, es habe schon einmal im Bauch eines Feindes gesteckt; er hoffe, dass ihm Großvater wenigstens eine Pistole verschaffen werde. Allein es gab weder Waffen noch Munition.
Im Laden stolperten wir über Bündel Panzerfäuste und ein Maschinengewehr, das freilich ebenfalls aus Mangel an Munition nicht mehr eingesetzt werden konnte, dessen Lauf aber immerhin bei geöffneter Ladentür drohend auf den Marktplatz gerichtet war. An den Abenden berieten die Kommandeure im Hause oder im Café am Markt die Lage und wärmten sich die Nasen beim Punsch, denn es war ein kaltes Frühjahr. Hinter der Barrikade blieben nur zwei Wachposten. Großvater kontrollierte sie von Zeit zu Zeit und schärfte ihnen ein, wachsam zu sein, keinesfalls ihren Posten zu verlassen. Einige Tage lang waren schwere Kettenfahrzeuge durch das Städtchen gerollt und ohne Halt in Richtung Bayern weiter gefahren. Jetzt zeigte sich allerdings kein Militär mehr, obschon Großvater nach Artillerie und Flugzeugen telefonierte und jeden Augenblick das Eintreffen der Entsatzarmee erwartete, oder den Einsatz der neuen Waffen. Er bekam weder das eine, noch das andere, dafür aber drängten sich immer mehr Flüchtlinge aus den östlichen Gegenden des Reiches herein und Großvater schickte sie weiter ins Bayrische, weil die Stadt eine Festung war und verteidigt werden müsse und weil es keinen Platz für die Aufnahme solcher Menge an Menschen mehr gab.
Wie alles uns betreffende spielte sich auch der Untergang des Dritten Reiches vorwiegend im Erkerzimmer des Knochenhauerinnungshauses ab. Der Kaffee war uns ausgegangen, aber Herr Links opferte aus seinem verborgenen aber fast leeren Weinkeller einige Flaschen zur Stärkung unserer Hoffnungen auf eine Wende. Mama hielt sich übrigens nicht bei uns auf, sie war sicherlich noch auf der Suche nach ihrem Gatten, denn die Flugzeuge des Gegners schwirrten ungehindert herum. Immerhin spendete mein Wahlvater allen geistlichen Trost, wie allgemein zu beobachten ist, dass sich bei Katastrophen die verstockten Atheisten für alle Fälle Gott zuwenden, um ihn nach ausgestandenem Schrecken einen guten Mann sein zu lassen. Eines Morgens war es dann so weit; ich hörte ein gewaltiges Brausen und Rasseln, sprang aus dem Bett und eilte ans Fenster. Oben auf der Barrikade standen Großvater, Herr Links und Oberstudienrat Kniri; jeder von ihnen schwenkte ein weißes an einem Besenstiel befestigtes Tuch. Ein Panzer mit offener Luke, in der ein fremder Soldat stand, rollte beinahe gemütlich und jedenfalls langsam, eher neugierig als kriegerisch heran und hielt dicht vor Großvaters Panzersperre. Über alle Gassen und Straßen quoll eine Armada von Fahrzeugen auf den Markt, die Hindernisse wie Spielzeug beiseiteschiebend. Zwischen den Autos und Hauswänden zwängte sich eine Menge uniformierte Menschen.
Helene, meine kleine Schwester, stellte sich stumm zu mir und reichte mir ihre zitternde Hand. Verwundert blickten wir Kinder auf das Welttheater unter unserem Fenster. Steifbeinig stieg einer der Soldaten aus dem Panzer und winkte Großvater und seine beiden Assistenten heran; sie reichten ihm demütig die weißen Fahnen; dann trieb der Sieger seine drei Gefangenen vor sich her hinüber zum Rathaus. Erstaunliches geschah dann doch; von der Treppe eilte der Erste Bürgermeister mit seinen alten Ratsmännern herab und überreichte dem Offizier, als solchen stufte ich ihn ein, die Schlüssel der Stadt auf einem Kissen, zum Zeichen unserer Kapitulation. Das war ein wenig Mittelalter, und diese Amerikaner mögen sich auch über uns, wie über diese Stadt gewundert haben. Plötzlich entfaltete sich am Rathausturm eine Fahne mit allerlei Streifen und Sternen, wie ich noch nie eine gesehen hatte, hing lang herunter; indessen unserer Reichsflagge mit dem Hakenkreuz eingezogen und auf den Platz hinunter geworfen wurde. Diese Zeremonie wurde von knatternden oder peitschenden Schüssen aus Handfeuerwaffen begleitet, offenbar um ein wenig Siegestaumel zu erzeugen. Überall hängten die besiegten Müllhaeusener jetzt weiße Fahnen heraus und immer noch rollten Fahrzeuge auf den Marktplatz. Soldaten stiegen aus, reckten die steif gewordenen Beine und standen unschlüssig herum, die Kriegswende, viel mehr, das Kriegsende war da.
»Jetzt kann ich vielleicht bald nach Hause«, sagte Helene bedrückt und zugleich zweifelnd. Dass sie wegwollte, versetzte mir einen Stich. Ich gab zu bedenken, wie gut sie bei uns aufgehoben sei, zumal sie ja in Berlin kein Zuhause mehr habe. Aus einer Gruppe Zivilisten, die an unserem Haus vorbeistreiften, schrie einer hämisch und frohlockend zu uns herauf, dass Großvater und die anderen Nazis im Hof des Rathauses gerade erschossen werden, was ihnen recht geschah; jetzt werde mit uns aufgeräumt. Zwar konnte ich mir keinen Grund denken, weshalb sie ausgerechnet meinen Großvater, diesen braven alten Knaben erschossen haben sollten, da er ja am Ende die Stadt dem Sieger unversehrt übergeben hatte, aber möglich war alles. Ohne Verzug lud sich Großmutter das Maschinengewehr auf und schleppte es zum Rathaus; einer der Panzerleute nahm es ihr kopfschüttelnd ab und trug das Zeug als Kriegsmaterial die Treppe hinauf. Furchtlos folgte sie ihm, um sich zu erkundigen, wohin sie Großvater gebracht hatten, wurde aber nicht eingelassen. Von einer Hinrichtung Großvaters wusste sie also nichts zu berichten, hatte aber auch keine Auskunft über sein Schicksal bekommen können.