Читать книгу Jakob Ponte - Helmut H. Schulz - Страница 13
9. Kapitel
ОглавлениеEine schöne Menschenseele ist Gewinn, sagt Herder, und just dieser Fund gelang mir in früher Jugend, als Frucht des Krieges, der demnächst in seine letzte Phase eintreten sollte. Ich preise den Tag, als meine Helene in mein Dasein trat, unverhofft, wie sie auch wieder verschwand infolge der sogenannten Wendezeit, die uns alle so glücklich gemacht hat. Schöne Seelen sind rar, und wenn sie vorkommen, nicht immer ein reiner Gewinn; denn wo Licht ist, ist auch Schatten. Ich fand diese schöne Seele an einem Wochentag des Herbstes 1944, also im Hochzeitsjahr meiner armen Mama und der historisch wie literarisch Sachverständige wird begreifen, dass ein so wichtiges Jahr nicht einfach übergangen werden kann; so will es unser Gewissen und unsere ästhetische Kultur.
Rückerinnernd habe ich der Zeitgeschichte zwei Ereignisse beizusteuern; das eine hängt mit einem Aufsatz zusammen, den Doktor Wilhelmi, damals noch in der SS-Uniform, über mich verfasst und in der Zeitschrift Der Nationalsozialistische Arzt veröffentlicht hatte. Mama hat ihn mir damals häufig und stolz referiert, obschon ich sicherlich nicht alles begriffen habe. Ob sie Sinn und Inhalt der Studie über mich selbst verstand, mag dahingestellt bleiben. Sie bewahrte ihn für mich bis nach Kriegsende auf; danach verbarg sie die Zeitung, die ja unter dem Zeichen des Hakenkreuzes stand und deshalb streng verboten werden musste. Da er zu lang ist, um ihn im Wortlaut wiederzugeben, aber für das Verständnis meines verschlungenen Lebensweges nicht ohne Interesse sein dürfte, hier eine kurze Erläuterung dessen, was mein Leibarzt, während der nicht vollzogenen gesetzlichen Ehe mit Herrn von Oe und darüber hinaus über meine seelischen Fähigkeiten gedacht hat.
Es müsse dem Fachmediziner an der Früherkennung von Schizophrenen im Allgemeinen wie im Besonderen gelegen sein; das präschizophrene Kind sei zwei Arten Botschaften ausgesetzt, die ihm seine Bezugsperson ständig zukommen lasse. So ziehe sich die Mutter beispielsweise bei Annäherung des Kindes von diesem zurück, empfinde andererseits jedoch ihr Verhalten als Zwiespalt und versuche, dieses durch verbale Zuwendung zu kompensieren; ihr liebevolles Verhalten kommentiere ihr feindseliges. Das Kind müsse, um mit seiner Bezugsperson zu überleben, die Täuschungsmanöver der Mutter unterstützen, in dem es eigene Botschaften falsch, also reziprok, charakterisiere. Gehe das Kind auf die Simulation der Mutter ein und nähere sich ihr liebevoll, so löse dieses Verhalten Angst oder Hilflosigkeit in der Mutter aus; sie ist in eine Bezugsfalle gegangen. Dies alles führe, je länger, je mehr, zu einer Pseudogemeinschaft, die aus Angst vor Disharmonien den Konflikt scheue. Um die Scheingemeinschaft zwischen Mutter und Kind aufrechtzuerhalten, entwickeln sich eine ganze Reihe schwer zu durchschauender Mechanismen, um die Situation dennoch beherrschbar zu machen. So werde der Konflikt durch das Wahrnehmungsverhalten der Personen aufgeweicht, womit natürlich keineswegs die stets vorhandene Gefahr von Divergenzen ausgeschaltet werden könne. Es komme zum sogenannten Rubber Fance ...
Man beachte, dass sich bereits die technischen Begriffe amerikanischer Gelehrsamkeit konspirativ einzubürgern begonnen hatten, wahrscheinlich durch die internationale Fachpresse, die dem Autor natürlich zugänglich war. Dass Herr Wilhelmi einige Jahre später, nach seiner Rehabilitierung vor einem Gericht, die Tätigkeit als Psychologe und als Psychotherapeut in der Landesnervenheilanstalt aufnehmen konnte, daran durfte ich also immerhin vorbereitend mitwirken.
Aber weiter: Mutter und Kind schließen sich gegen die Außenwelt innerhalb eines selbstgenügenden Sozialsystems ab, ein Verhalten, das die Wirkung der als chaotisch, als entleert empfundenen Welt aufzuheben suche. In der selbst geschaffenen Pseudogemeinschaft werde in Rollenstrukturen existiert: Ein wertbesetztes sinnvolles Gefühl für die eigene Identität könne dabei nicht erlangt werden. Diese potenzielle Schizophrenie zeige ein beträchtliches Geschick, die familiäre Komplettarität zu erfüllen. Es entstünden Mythen, Legenden, formalisierte Mechanismen. Die scheinbare Widerspruchsfreiheit der Familie lebe in einer subkulturellen Welt dieser Mythen und Legenden, es würden zwanglose Lebensweisen entwickelt, die nach Ritualisierung strebten ...
Nach dieser Beschreibung, wie sie noch einmal in den Publikationen des Institutes für Sozialwissenschaft auftauchte, als Replik ist es kaum noch möglich, auf diesem Erdball eine Familie zu finden, die nicht unter die Schizophrenen einzuordnen ist, was in der Tat die Sozialgeschichte bestätigt hat. Idioten landauf, landab, unten wie oben, durch falsche Erziehung produziert. So der hier in Betracht kommende Teil des Aufsatzes, der teuflisch klug war. Dass sich unser Hausarzt in einem Schlussrevers nationalsozialistisch äußerte, als er auf die durch Rassemischung latente Schizophrenie hinwies und seinen Kollegen empfahl, wohl zu unterscheiden zwischen einem therapierbaren Krankheitsbild und dem ererbten unheilbaren, sei immerhin vermerkt. Auf Mama muss dieser Artikel eines angehenden Seelenklempners einen erschütternden Eindruck gemacht haben. In den Tagen, als sie sich bei uns in Müllhaeusen aufhielt, beschäftigte sie sich eingehend damit, und wir waren ihr ausgeliefert. Ich entsinne mich, dass sie den Artikel studierte, laut daraus vorlas und mir, der ich nichts davon hören wollte, Fragen stellte, die ich nicht beantworten konnte. Sie spickte ihre Zitate mit Fragen: »Ist es so gewesen, Jakob? Sag deiner armen Mama die Wahrheit! Leben wir in einer subkulturellen widerspruchsfreien Welt von Mythen und Legenden? Sprich! Lass mich nicht im Unklaren!«
»Nein, Mama«, sagte ich, Mitgefühl oder überhaupt Gefühl vortäuschend, »das tun wir gewiss nicht. Wir haben uns sehr lieb«, ich verhielt mich also in der Tat verbal kommentierend, um im Ton dieser Pseudowissenschaft zu bleiben, sprach aus, was ich nicht dachte oder fühlte und bis heute für Kauderwelsch halte.
»Dann sag mir doch, ob du, als ein präschizophrenes Kind, in Wahrheit zweier sich widersprechender Botschaften ausgesetzt bist. Nein, ich darf mich nicht vor dir zurückgezogen haben, wo du mich gesucht hast.« Großmutter, die uns zuhörte, lachte sie aus, und schickte sie an den Kochtopf, um Pflaumenbrei zu rühren ...
Genug. Viel später, als ich mehr von der Situation verstand, in der wir uns damals alle befunden haben, wurde mir klar, wie weit sich der Arzt Wilhelmi vom Pfad der Tugend entfernt hatte, vielleicht wirklich in der Annahme, bei mir die Spuren früher Schizophrenie auf der Spur zu sein, und sich in die Fußstapfen der Psychoanalyse begab. Am Ende dieses Weges stand das Seelenexperiment, dessen Opfer ich beinahe geworden wäre, hätte ich mich in sein Krankenkollektiv eingliedern lassen, wo sie alle den Aufstand gegen sich selbst proben mussten. Aber gemach, dahin kommen wir erst noch. Mir war sicher durchaus klar, dass Mama scheinbar hart mit sich ins Gericht ging, nur wusste sie im Grunde nicht, weshalb und wofür sie sich selbst strafen sollte. Der eigentliche Fall war nicht ich, sondern sie, die mich nicht wirklich liebte, zur Mutterschaft wohl überhaupt unfähig, aber konventionell auf diese Rolle festgelegt war, und andererseits durch meinen Anblick ständig an die Enttäuschung, an einen Fehltritt mit seinen Folgen erinnert wurde. Dass die Dinge anders lagen, werde ich zu gegebener Zeit wahrheitsgemäß aufdecken. Kurz gesagt, wir waren tatsächlich alle in die von ihm beschriebene Bezugsfalle geraten; darin wenigstens hatte Doktor Wilhelmi recht. Anzuschließen ist hier nur noch, welche Spätfolgen dies zeitigte, wie der Leser noch sehen wird, falls er Geduld und guten Glauben an die Wahrheit von autobiografisch gefärbten Büchern aufbringt.
Leicht könnte der Verdacht beim Leser entstehen, ich benutzte meine Leiden gleichsam als spielerisches Moment, wie es literarisch üblich ist. Dem ist nicht so, ich bleibe immer bei der Wahrheit in der Überzeugung, dass sie zu einem solch edlen Charakter wie dem meinen gehört. Wir denken in Bildern, und die Welt ist in hohem Maße unsere Welt, weil wir sie in unseren Bildern besitzen. Woher diese Bilder kommen, ist eine andere Frage. So haben sich manche optische Eindrücke bei mir sozusagen auf Bildtelegramme reduziert. Ich sehe die Baracke des Führerhauptquartiers Wolfsschanze, als sei ich dort gewesen, sehe sie einfach deshalb, weil dieses Bild tausendfach reproduziert wurde. Bei dem Wort Führerlage fällt mir ein, wie der Tisch aussah, der den Führer schützte, oder die Vorsehung, als die Stauffenbergbombe hochging und als nach menschlichem Ermessen kein einziger Mann überlebt haben konnte. Wer denkt nicht gleich mir an die Filmbilder, als der Führer seinem Gast, dem gerade von Otto Skorzeny befreiten Duce, die zerstörte Baracke zeigte! Will sagen, was wäre in unserem Kopf, hätten wir nicht diesen Schatz an falschen, an gefälschten, nicht einmal vorsätzlich gefälschten Bildern! Zum Exempel: Ich hörte am 22. Juli von der Affäre, ohne einen Anfall, ja ohne einen Eindruck davon gehabt zu haben. Verwundert fragte mich Hochwürden, ob ich denn nichts vorhergesehen habe, wie gewöhnlich, und es überfiel mich heiß die Entdeckung, dass meine von allen gefürchteten Fähigkeiten in diesem Falle versagt hatten, oder dass sie überhaupt einmal abhanden gehen könnten. Großmutter stichelte verdrossen: »Es wundert mich, lieber Neffe, dass Sie noch nicht organisiert sind; etwa in der Vereinigung nationalsozialistischer Propheten, da Sie ja an die Hellseherei von diesem Bengel glauben!«
»Ach, verehrte Großtante, Sie mit Ihren Sticheleien; es lohnt sich schon über den Fall Ihres Enkels, als eines ungewöhnlichen Kindes nachzudenken.« Da sei sie aber gespannt, entgegnete Großmutter.
Ich folge seinem Tagebuch bei der Wiedergabe dessen, was er damals geäußert haben will, und ich habe auch Ursache, dieser Epistel zu vertrauen. Sie, also Großmutter, hätte gar nichts zu erwarten gehabt, denke sie sich das Attentat als gelungen, den Führer und ein paar Generale beseitigt; an ein Militärregime der Antihitlerkoalition mit einer Junta als Handlanger könne ihr persönlich kaum gelegen sein, auch an keinen Bürgerkrieg, und das Argument der späten Historiker, es wären Menschenleben gerettet worden, sei eben nur stichhaltig, wenn man ein paar Hunderttausend Russen und Asiaten nicht zu den Menschen rechne, sondern zu den Untermenschen, denn der Krieg sollte ja, soweit ihr bekannt, im Osten weitergeführt werden! Mit welcher Umständlichkeit, mit wie vielen Skrupeln und Dilettantismus der Aufstand dieser Generalstabsoffiziere in Szene gesetzt worden sei, dieses stundenlange Warten und Telefonieren, dieses Sich-nicht-einig-werden-können, das blieb ihr wie auch mir damals natürlich nicht verborgen. Und überhaupt ist die hier nachzutragende Volksmeinung als unstatthaft zurückzuweisen, die der Aktion skeptisch gegenüberstand. Leider verstand ich es nicht, meinen Angehörigen ein, wenn auch unbeholfenes, Bild des Geschehens zu vermitteln. Aber zurück zu meiner Erzählung.
Endlich sollte meine Cousine Helene Buder zu uns stoßen. Mama hatte sie eigentlich von Berlin abholen wollen oder sollen, sich aber anders besonnen. Sei es, weil sie auf ihren Gatten Rochus von Oe wartete oder aus einem anderen Grunde; sie überwies ihrer Schwester Geld für den Fahrschein und Helene musste die Reise nach Müllhaeusen allein antreten, aber Mama und ich sollten sie vom Bahnhof abholen. Mama legte also ihr Kostüm an, wand etwas um ihr aufgefärbtes Haar, das sie als Turban bezeichnete und schlüpfte in die Pariser Pumps. Bevor wir losgingen, bekamen wir von Großmutter Instruktionen; wir sollten uns nirgends aufhalten, keine dummen Fragen beantworten, falls wir von einem neugierigen Zeitgenossen angesprochen wurden und ohne Umweg nach Hause kommen. Die Sache war die. Mit vierzehn Jahren mussten junge Mädchen in ein sogenanntes Pflichtjahr, seit Beginn des Krieges wurde sie dienstverpflichtet und in einem Rüstungsbetrieb eingesetzt; der Staat lenkte also ihre Arbeitskraft in eine dem Krieg dienliche Richtung.
Wir gingen am Stadtwall entlang; ich fragte Mama nach Herrn von Oe, ihrem Grafen, aber sie gab ausweichende Antworten. Am Bahnhof angekommen, wurde uns gesagt, der Zug habe Verspätung, wir gingen ins Bahnhofsrestaurant. Aufgrund unserer Zugehörigkeit zur besseren Gesellschaft Müllhaeusens waren wir hier bekannt, zumindest Mama war es. Erinnere ich mich zutreffend, dann war sie im Saal erster Klasse einst zur Zwiebelkönigin gekürt worden, eines der rustikalen Volksfeste unserer Gegend. Wir bekamen also von dem knapp gewordenen Wein des Hauses, während wir auf die Ankunft des Zuges warteten. Das Lokal war schwach besucht; ein paar Landser hockten um einen Tisch und glotzten trübe in ihr Dünnbier. Schräg von uns am Nebentisch bemerkte ich einen Herrn, der im Thüringischen Boten, unserer Heimatzeitung las, und ab und zu einen Blick über den Zeitungsrand zu uns herüberschickte. Er nickte meiner Mama zu, und sie grüßte zurück; der Herr tat nichts, um mit uns bekannt zu werden. Nervös entnahm Mama ihrem Etui eine Zigarette und klopfte den Tabak fest, plötzlich warf sie ihr Glas um, stieß einen kleinen Schrei aus und nun endlich faltete der Herr seine Zeitung zusammen, stand auf und trat an unseren Tisch. Mit einer zuvorkommenden Geste bot er Hilfe an, fragte, ob man sich nicht kenne; vom Geschäft, Ponte am Markt, kam ihm Mama zu Hilfe. Erfreut nickte er; sie hielt ihm ihre Rechte, den Handrücken nach oben auffordernd hin und ich erlebte zum ersten Male das Ritual eines wahrhaftigen Handkusses. Indessen dachte ich, dass sie entschieden Glück bei Glatzköpfen hatte, denn der ihr den Handrücken geküsst hatte, war Träger einer spiegelnden Kahlkopfes. Mama bezichtigte sich des Ungeschickes, worauf er sagte, es mache nichts, komme man sich doch auf diese Weise näher; Ponte, das Uhrengeschäft am Markt; habe er sie dort nicht schon gesehen? Sie nickte und setzte sich zu ihm hinüber; ich blieb zurück, allein, nachdenklich und betroffen. Was heißt, Ponte am Markt, dachte ich. Gräfin Oe doch mit einem gräflichen Sohn, wenn auch nur adoptiert! Wenn alles gut ging. Jakob Maria Ponte von Oe? Fabelhaft.
Der Kellner kam und zog das Tischtuch ab, höhnisch bemerkend, dass die Huren immer frecher würden, und ich begriff sogleich, dass diese Injurie gegen Mama gerichtet war, und setzte mich unter Protest, ohne die Einladung abzuwarten, hinüber an ihren, also an den anderen Tisch. Mama blieb nichts übrig als mich vorzustellen, ihren lieben kleinen Jungen, einer Halbwaise, da sie so gut wie verwitwet sei, meine Mahnung überhörend, dass wir eigentlich gekommen seien, um meine Base Helene abzuholen. Gehässig blinkerte sie mich an, und blies mir ihren Zigarettenrauch ins Gesicht, und sie trank ein Glas nach dem anderen und würde in Kürze nicht mehr handlungsfähig sein, wie ich voraussah. Schließlich reagierte sie nicht einmal auf meine kühne Erfindung, ihr Gatte, Herr von Oe, erwarte sie, da er überraschenderweise auf Urlaub gekommen sei, ihrer Behauptung, ich sei Halbwaise und sie Witwe offen widersprechend. Der Kahlkopf musterte mich aufmerksam und mit abweisender Kälte; leise sprach er auf Mama ein. Ich aber, spürend, dass er mich zu entfernen trachtete, fürchtete ihn nicht, sondern blieb ruhig sitzen, stand ich doch in einem innigeren Verhältnis zu Mama als er. Auch legte er oft wie zufällig seine Hand auf ihren Arm, und sie nahm diesen nicht weg, was sie meiner Meinung nach hätte tun müssen. Hin und wieder lächelte der Kerl und sie schüttelte den Kopf, verführerisch lachend wie Marika Rökk, und ich sah, dass ihr Nein keineswegs eindeutig ausfiel. Über ihren Verrat verstimmt, sah ich ihr ins Gesicht. Auch das war also Mama. So hatte sie vielleicht mit dem Argentinier gesessen, rätselhaft und verrucht aussehend und Zigaretten rauchend, ein gefährliches unberechenbares Wesen. Sie trank immer schneller; da zog ich mich beleidigt zurück und ging auf den Bahnsteig.
Dort stand ein junges Mädchen, einen halben Kopf größer als ich, mit dünnen Unterarmen, die aus einer verschossenen Strickjacke hervor sahen; entsetzt beschloss ich, die Verwandtschaft mit dieser Vogelscheuche bis zum äußersten zu verleugnen, falls es sich wirklich um meine Cousine Helene handeln sollte. Sie suchte offenbar nach jemand, ließ aber ihr Gepäck, eine Tasche, nicht aus den Augen. Unter keinen Umständen konnte ich mit ihr bei Tageslicht durch die Stadt gehen ...
Seht, junge Menschen urteilen in der Regel oberflächlich! Die Zeit verstrich, meine Cousine stand hilflos auf dem Bahnsteig; zuletzt senkte sie den Kopf und weinte jämmerlich, was einen Umschwung in meinen Gefühlen herbeiführte. Sie war schutzlos, sie bedurfte meiner Hilfe, so trat ich näher und gab mich zu erkennen. Aufschluchzend fiel sie mir um den Hals und befeuchtete mein Gesicht. Um dieser Heulerei ein Ende zu machen, winkte ich einen alten hinkenden Dienstmann und übergab ihm die Tasche, hieß ihn vor dem Bahnhof auf uns warten und führte Helene ins Bahnhofsrestaurant, um Mama abzuholen. Der war unterdessen jedes Urteil abhandengekommen; sie hielt mit hochrotem Kopf die Hand des kahlen Herrn, oder er hielt ihre; gleichviel.
Ich sagte mir, dass sie für die nächsten Stunden ausfallen würde, gab daher keine langen Erklärungen ab, sondern verlangte einfach Geld. Sofort langte der Herr in die Tasche und gab mir einen Zwanzigmarkschein. Als Gegenleistung versprach ich ihm, zu Hause zu sagen, Mama sei dienstlich aufgehalten worden und käme später. Darauf klopfte er mir auf die Schulter und bezeichnete mich als einen brauchbaren Menschen.
»Brauchbarer Mensch? Mit dem hat alles angefangen«, rief Mama schrill und auf mich deutend. Wir traten auf den Vorplatz. Den Dienstmann schickte ich ins Knochenhauerinnungshaus mit dem Bescheid, die jungen Herrschaften kämen nach. Zielbewusst handelnd, benahm ich mich gleichmütig und überlegen, aber diese Haltung lässt sich leicht als Ergebnis meiner Selbsterziehung erklären; ich war ein junger Mensch, der seine Angelegenheiten schon mit Umsicht zu ordnen wusste. Meiner Cousine zuliebe trat ich entschiedener auf, als es mir zukam. Fremd in der Stadt, getrennt von Zuhause, ohne Freunde, das war schlimm genug. Wir schritten zum Stadtwall, indessen ich auf die Baudenkmäler, den Turm, das Gymnasium, unsere Kirchen hinwies, aber Helene hörte nicht zu. Sie war in Gedanken noch bei dem Auftritt im Bahnhofsrestaurant.
»Säuft sie immer so viel?«, fragte sie. Ich gab gemessen zur Antwort: Meine Mama sei im Allgemeinen eine Heilige, sie säuft nicht. Bedrückt setzte sich Helene auf eine Bank am Wall. Die Hände vor das Gesicht gelegt, schluchzte sie schon wieder. Das Heulen machte mich nervös; ich musste es ihr abgewöhnen. Sie fragte, ob es hier oft Fliegeralarm gebe. Ich verneinte und betrachtete ihr Gesicht aus der Nähe. Helene hatte grüne Augen, rotes Haar und einen übergroßen, gegen die weiße Haut scharf abgesetzten Mund. Freilich lag in ihren Zügen auch eine patzige und freche Herausforderung. Schließlich berührte ich ihr Haar; es knisterte wie elektrisch geladen. Überrascht sah sie mich an, verächtlich die Lippen schürzend. Kühn legte ich meinen Arm um ihre Schulter. Plötzlich weinten wir beide über das Ausgestoßensein, ich über ihre schöne Seele, sie über sich selbst, zwei verlassene Kinder im einsamen Stadtpark, deren Eltern mit anderem beschäftigt waren. Wir schlossen Freundschaft; was mich betraf, so war ich entschlossen, sie zu meiner Frau zu machen, also gelegentlich zu heiraten, was denn auch wahr wurde, als die Entscheidung herangereift war ...
Mit Helene war ein Element der Unruhe, etwas Revolutionäres in unser bürgerlich-mittelständisches Haus gekommen. Zum ersten Male lebte ein Mädchen dauernd in meiner Nähe, eines, das ich roch, fühlte und schmeckte. Unter den Strahlen, die dieses Wesen aussendete, gedieh ich wie Unkraut in einem Kornfeld. Von Helene erfuhr ich endlich etwas über meine Tante, ihre Mutter. Sie war fortgezogen, um den Siemens-Werkmeister, den Berliner Karl Buder zu heiraten, was keiner begreifen konnte. Wie vermochte ein Mensch zu existieren, ohne etwas zu verkaufen oder zu reparieren und Anspruch auf den Titel Frau und Herr zu erheben? Die Provinz verband nicht immer und nicht überall mit dem Begriff Werkmeister eine Art Edelproletarier. Dem Familienzweig Ponte-Buder haftete also ein Makel an, und es war denn auch weniger Familiensinn, wenn Großmutter das Kind ihrer ausgestoßenen Tochter aufnahm. Für Helene mag es hingegen wenig Verlockendes gehabt haben, in einem fremden Haushalt zu nähen, zu stopfen, zu bügeln, Kinder zu hüten und aufzuwaschen. Großmutter hielt es für ein beispielloses Opfer, ihre Enkelin zu kleiden und zu ernähren.
Obschon mein Sinn für Gerechtigkeit nicht sehr entwickelt gewesen ist, stellte ich mich auf die Seite Helenes, weil diese Erstaunliches an Trotz und Widersetzlichkeit leistete und die Erwachsenen in Schach hielt. Großmutter pflegte zu sagen, sie wisse nicht, was diese Mutter ihrem Kinde beigebracht habe, angesichts der Unkenntnis, einen Haushalt ordentlich zu führen. Entsetzt schrie sie auf, als Helene etliche Teller beim Spülen zerbrach; alle Hausgenossen eilten in die Küche und fielen über sie her, die sich breitbeinig auf einen Hocker setzte und das Donnerwetter über sich ergehen ließ; ein anderes Mal war meine arme Mama das Opfer, als sie sich anschickte, ihrer Nichte Belehrungen in gutem Benehmen zu erteilen. Anstatt von der richtigen Seite, wie Mama aufgefüllt bekommen wollte, kleckerte Helene die Suppe auf das französische Kostüm. Ich aber jubelte innerlich über diese Revolte gegen unsere Sitten. Weiß Gott, ich war meiner kleinen Schwester, wie ich sie aus einem Grund nannte, der bald aufgehellt werden soll, verfallen. Bei ihr fand ich die Wahrheit, das Leben und die Liebe, denn wir hausten gemeinschaftlich im Dachgeschoss des Knochenhauerinnungshauses. Helenes Kammer lag neben der meinen. Abends, wenn alle im Hause schliefen, erwachten wir zum Leben. Als reinliches Kind wusch sich Helene gründlich vor dem Zubettgehen von Kopf bis zu den Füßen, so wie sie es zu Hause gelernt hatte, und sie tat es in paradiesischer Unbefangenheit.
Ihr Vater frönte einem Kult, der darauf beruhte, sich vollständig entkleidet der Luft und der Sonne auszusetzen. Nach Helenes Berichten hatten sie in Friedenszeiten während der Sommermonate in diesem fröhlichen Urzustand gelebt, waren leichtfüßig an den Stränden irgendeines Sees auf und ab gegangen und hatten sich die Haut bräunen lassen. Bei ihr trat die ersehnte als Ausdruck von Naturkraft und Gesundheit genommene Bräunung leider nicht ein, weil ihre Haut dem harten Licht keine Abwehr entgegensetzte. Indessen hatte diese Erziehung eben auch zur Folge gehabt, dass es ihr an christlichem Schamgefühl gebrach, wovon ich, dank meiner Erziehung ausreichend oder schon zu viel besaß. Wenn auch vorerst nur verbal auf den Sündenfall hingewiesen, betrachtete ich neugierig oder lüstern das Hautweiß der Rothaarigen. Über Rippen starrten die rötlichen Knospen eines gerade aufbrechenden Busens; an Achselhöhlen und Scham kräuselte sich farbloses Haar. Ich lernte jedoch nicht nur den Mädchenkörper, ich lernte auch meinen eigenen Leib kennen. Sie ermunterte mich, an ihrem Bad in der Zinkwanne teilzunehmen. Endlich ließ ich mich überreden und betrat eine neue Welt. Gemeinschaftlich suchten wir auf unseren Häuten nach den Zeichen unserer Bestimmung; glaubt es oder lasst es bleiben, der letzte und schäbigste der Götter Griechenlands, der miserable Priapos, regte sich in mir und tat ein Wunder. Ich war keusch wie Joseph und unbehaart wie ein Grottenolm. Helene wusste schon einiges mehr von der Wahrheit, aber lange nicht genug, um das Wunder zu erklären. Wir befühlten das priapeische Wunder, ergingen uns in Mutmaßungen über die Ursache dieser Verwandlung und fanden alles merkwürdig. Das Wunder erlahmte, wie die Mehrzahl aller Wunder bei Wiederholungen an Wert verlieren, ließ sich aber zu unserer Freude nach einer gewissen Pause wiederholen. Helene erklärte, dieses Ding diene der Zeugung von Menschen …
Dieses Organ musste mir und allen männlichen Wesen Macht über die Weiber verleihen; das empfand ich dunkel und innerlich erhaben. Frauen ermangelten eines solch prächtigen Gliedes, das sich steil aufrichten konnte wie eine Drohung, was meine Cousine in der Tat als Nachteil des Weiblichen gegenüber uns Männern empfand, und was sie mit Neid und Missgunst erfüllte, woraus sich, wie der Zeitgenosse erlebt hat, ein auf sich selbst gerichteter Feminismus entwickeln kann. Helene und ich, Frau und Mann befanden sich also in einem Gegenüber, dennoch standen wir bald in einem herzlichen Verhältnis geschwisterlicher Art zueinander. Von Mama sprach Helene nur abfällig, unterdrückte auch in ihrer Gegenwart keineswegs die Lachlust, wenn Mama von sich selbst als Gräfin sprach. Alle im Hause hielten meine Cousine für halb verrückt, jedenfalls für unerzogen. Beizukommen war ihr freilich nicht. Großmutter musste ihre Enkelin neu ausstatten; sie kaufte Kleider und Schuhe, räumte ihr schließlich sogar Taschengeld ein, aber etwas gab es doch, womit ihr gedroht werden konnte, kam die Rede darauf, sie nach Berlin zurückzuschicken, wurde meine unfromme Helene zahm.
Eines Tages überhörte mich Hochwürden in Religionsgeschichte; beiläufig erkundigte er sich nach dem Befinden unserer neuen Hausgenossin, dem jungen Mädchen, das vor den Bomben geflüchtet sei, aber ich kann hier auf die allbekannten Geschichten und Histörchen über den schrecklichsten aller Kriege verzichten und bei meiner Lebensgeschichte bleiben. Dass Helene auf unbestimmte Zeit bei uns bleiben würde, hoffte ich nur zu gern, gab also meiner Befriedigung Ausdruck, eine kleine Schwester bekommen zu haben; ein mir zufällig entschlüpftes Wort, ich hatte wohl einen älteren Bruder von seiner kleinen Schwester reden hören. Ungewollt brachte ich meinen Vater damit auf einen Einfall. Es geschah sicherlich nicht ohne pädagogische Absicht, dass er die Bibel aufschlug und milde lächelnd bei dem Kapitel des Hoheliedes Halt machte. Ich fragte ihn, als er die Epistel vom Weinstock, der Sprosse und vom Most der Granatäpfel, beendet hatte, was das bedeute und er verließ den engen Pfad der Tugend und erläuterte: »Nun, Granatäpfel sind die runden Brüste der Frauen ähnlich, und der Weinstock, aus dem es sprießt, nun ja ... «, er lächelte und seine mächtigen Hände formten die Schalen von Halbkugeln. Es konnte nicht ausbleiben, dass sein pastorales Gewissen erwachte, er sagte, man dürfe einen Körper, den fremden wie den eigenen, nicht befühlen, nicht besehen oder beriechen, ohne den Teufel herbeizurufen.
Die Ereignisse, wie ich sie schilderte, gingen parallel mit anderen. Es will mir nicht gelingen, sie chronologisch wiederzugeben, obschon ich mit der Niederschrift keineswegs die eitle Absicht des Autors auf einen oberflächlichen literarischen Erfolg verbinde. Trotz der Freuden, die ich mit Helene genoss, wurde ich abermals von meinen Leiden heimgesucht. Schwerer denn je erkrankte ich, warf mich fiebernd auf dem Lager herum, von quälenden Bildern gepeinigt, und wie immer umstand der verbliebene Rest der Familie mein Bett und erging sich in Mutmaßungen. Hochwürden blieb bei seiner Auffassung, es müsse sich um eine durch übersinnliche Mächte gesteuerte Sache handeln, ob dämonischer oder göttlicher Natur, wäre noch auszumachen. Er war somit fein heraus, wie man so sagt; Anschauungsmaterial böten die Lebensgeschichten der Heiligen ausreichend. Aus mir hätte ein guter Reporter werden können. Sein Gesicht verschwamm vor meinen Augen zu einem rot glühenden Fleck; Mama, noch immer oder schon wieder bei uns und auf ihren verschollenen Gatten wartend, schüttelte traurig den Kopf über den Zustand ihres Kindes, und Großmutter bemerkte nicht ohne Hohn, das Märchen von der Empfängnis ohne Sündenfall könne wohl nichts anderes erbracht haben, als einen halb blöden Knaben, dem Kind des Staubsaugervertreters und einer Gräfin-Witwe, dazu zwei streitende Gelehrte in dieser verrückt gewordenen Welt; ihr reiche es ...
Meine Erkrankung zog sich über mehrere Tage hin; inzwischen ging eine große fremde Armee im tiefen Winter an der Oder in Stellung, zeitgleich mit der Meldung, der Führer setzte gerade den Tag des Sieges vermittels der eingesetzten Wunderwaffe fest. Da gingen die Symptome meines Leidens natürlich zurück. Während der Genesung stand mir Helene bei. Nach dem Bad, das sie in meinem Zimmer nahm, schlüpfte sie in ein Nachthemd und legte sich zu mir, um mich zu trösten. Einmal brachte sie ein Filmalbum mit und zeigte mir ihre Favoritinnen, wir hatten beide den gleichen Geschmack; ich sah eine sehr schöne Frau, die auf allen Fotos nach oben sah, als befände sie sich ständig in der Kirche und blicke hinauf zum Orgelprospekt, aber Helene sagte, es handele sich nur um Zarah Leander, die in einem Film Der Blaufuchs eine schöne Rolle gespielt und auch gesungen habe, so schön, dass alle in Tränen gebadet aus dem Kino gekommen seien, alle jene, die den übrigens nicht jugendfreien Film sehen durften. Sie sei reich, wie alle Stars und eine Freundin von Goebbels. Helene verschränkte die Arme hinter dem Kopf und kniff die Augenlider zusammen. Es war aber nicht ihre eigentliche und erste Heldin, wie sie mir am Bild der Tänzerin La Jana enthüllte. Letztere stand in einem durchsichtigen Hemd vor einer Wand; irgendetwas auf ihrer Stirn blinkte und glänzte, ähnliche den Klunkern in Großvaters Vitrinen. Stumm zeigte Helene auf ihre eigenen dürren Stelzen, sodass ich folgerte, ihre Wünsche gingen in Richtung dieser La Jana, also dem Fache einer lyrischen Tänzerin, und brüderlich spendete ich ihr meinen Segen. Nach einem kurzen Augenblick hoffender Zustimmung, ob ich meine, sie könne auch so sein oder werden, lehnte sie als Schwindel und schäbiges Mitgefühl meinen Beifall ab.
Filme hatte ich viele gesehen, ohne ähnliche Wünsche mit den Helden zu verbinden wie meine kleine Schwester. Ich musste nicht wünschen, was ich schon besaß. Eines Sonntags, wir saßen bei Tisch, rührte mein lieber Wahlvater in seiner Kaffeetasse, um Zucker und Sahne zu verteilen und sprach Helene an; er habe sie noch nie bei einer Andacht gesehen, wie das komme? Helene antwortete schnell und patzig: »Wir sind Atheisten.« Er hatte trinken wollen, nun setzte er die Tasse wieder ab und sah sie sprachlos an. »Nehmen Sie einen Kognak«, schlug Großmutter vor, »mit diesem Mädchen werden Sie nicht fertig!« War es Stolz, was ich heraushörte?
Dabei blieb es zunächst. An einem schwülen Spätwintertag Anno Domini 1945 mit föhnartigem Wetter besuchte ich ihn auf Weisung der Alten, ohne zu ahnen, weshalb er mich sprechen wollte. Am Fenster stand sein Lesepult mit einem aufgeschlagenen Buch, an der Wand hingen ein Kruzifix und etliche gerahmte Bilder sakralen Inhalts. Mein lieber Vater deutete auf einen Stuhl; ich setzte mich ahnungslos ob der Feierlichkeit, die er an den Tag legte. Beiläufig fragte er nach den Namen der Sonntage des Kirchenjahres; Ostern stand zwar nicht vor der Tür, aber ihm gefiel es, sich nach den Sonntagen zu erkundigen, die zu diesem Fest hinführten. Laetare, fiel mir nach strengem Nachdenken ein; er half weiter: »Judica, und ...« Ich verlegte mich aufs Raten, kam an den Schluss der Reihe und schlug verlegen vor, Passion. In rechter Ordnung lerne Jesu Passion, so viel war mir erinnerlich. Er funkelte mich grimmig an: »Weil du unter dem Einfluss dieser Ketzerin stehst!« Innerlich musste ich ihm zustimmen, fand aber seinen Zorn ein wenig übertrieben; er schlug vor, Invecare, Reminiscere, Occuli, Laetare, Judica und Palmarum ...
Palmarum machte also eine Ausnahme, während alle anderen Sonntage mit dem Wort identisch schienen, wich Palmsonntag rücksichtslos von der Regel ab, falls es eine gab. Aber Hochwürden verfolgte diese Spur nicht weiter, indem er mir aus einer Schachtel Mundpastillen anbot, sprach er ernstlich mit mir. »Hör!« Er wollte wissen, wie sich diese Ketzerin Helene bei uns eingelebt hatte und ich gab arglos Auskunft. Ihr könntet meinen, in mir ein so gescheites wie durchtriebenes Kind gefunden zu haben, so schilderte ich ihm die nächtlichen Ergötzungen; gab auch auf seine Frage, ob sie und ich etwa auch gemeinsam nackt badeten, was ich nun nicht mehr leugnen konnte. Zwar hatte ich endlich verstanden, worauf das hinauslief, aber er was zu spät. Als es heraus was, sagte er kopfschüttelnd: »Jakob, du bist das erstaunlichste Kind unter meinen Söhnen. Was, um Himmels Willen, habe ich dir eigentlich beigebracht? Na, wünschte ich mir einen leiblichen Sohn, müsste er dir sicherlich ähnlich sein.« Er schloss seine Überlegung mit dem Vorschlag, die Sache schleunigst zu bereinigen. Ich bekundete, wie sehr ich ihn liebe und verehre, und wir gingen also ins Knochenhauerinnungshaus, wo er mich in mein Zimmer hinaufschickte, ich sollte warten, bis ich gerufen werde. Was ich tat. Heftiges schreien brandete alsbald zu mir hinauf, sodass ich hinunter ins Wohnzimmer stürzte. Mamas Morgenrock stand vorn offen, sie hatte wohl vergessen, ihn zu schließen und ließ uns schwarzseidene mit zierlichen Spitzen besetzte Unterwäsche sehen. Nur Großmutter saß ruhig strickend am Tisch und verfolgte die Auseinandersetzung Mamas mit meinem Wahlvater stumm und nur mit Blicken. Fassungslos fragte meine arme Mama den Geistlichen: »Und sie hat ihn zusehen lassen; hat sie dich zusehen lassen«, wendete sie sich an mich. »Zweifellos, ja«, sagte Hochwürden, dem das Lachen in den Augenwinkeln saß. Da es sinnlos gewesen wäre, sich dumm zu stellen, ging ich weiter, als von mir verlangt worden war und berichtete, was ich gesehen und getan und gerochen hatte, meinem Wahlvater hasserfüllte Blicke zuwerfend. Ach, er war ein Verräter gleich jenem Judas, den die Evangelisten verurteilt hatten, sich selbst zu erhängen. »Weiter«, rief Mama, völlig außer sich, »rede oder ich vergesse mich! Meiner Schwester werde ich den Marsch blasen. Worauf sie sich verlassen kann! Und diese Göre muss natürlich aus dem Haus. Oder ich.« Da griff Großmutter helfend ein. Ja, sie wisse oder sie ahne es, nach Paris könne die Tochter derzeit nicht, aber bis Weimar gehe es noch immerhin. »Was haben wir denn eigentlich? Ist der Blitz eingeschlagen«, wendete sie sich fragend an ihre Neffen. Der lehnte ab, das wohl nicht, biologisch gesehen. »Aha, haben wir in der Kinderzeit nicht auch solche ..., na, lassen wir es dabei bewenden. Was dich betrifft, liebe Tochter; hat dein Graf nun endlich sein Jawort hinterlegt? Oder warten wir immer noch darauf? Tief errötend schwieg Mama. Was bei mir eine lässliche Sünde, das vernichtete sie, und weshalb Großmutter ihre Enkelin Helene in Schutz nahm, klärte sich auch auf, als mein Vater vorschlug, wirklich zur Tagesordnung überzugehen; er jedenfalls habe seine Pflicht getan. »Aber gewiss doch«, zog Großmutter den Schlussstrich unter diese Affäre, »Sie haben sich wie immer nicht allzu weit herausgelehnt. Wie wir sehen, hat jeder genug vor seiner eigenen Tür zu kehren. Was das Mädchen betrifft, wissen Sie zufällig eine saubere, nicht zu teure Hausgehilfin?« Verdrossen sagte Hochwürden, dass die Heilige Kirche kein Arbeitsamt sei. »Ganz so, wie ich dachte, da sind wir also einig«, sagte Großmutter. Von diesem Aufruhr erfuhr Helene nichts.