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7. Kapitel

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Großvater reiste im Auftrage der Partei unseres Gaues nach Berlin, um den totalen Krieg auszurufen, also um unseren Sieg näher rücken zu lassen. Er blieb ein paar Tage in der Stadt und schilderte uns eindringlich die von Briten und Amerikanern angerichteten Verwüstungen. Wir waren auch durch Mama über die Lage unterrichtet; neu aber war etwas anderes. »Nun sag, was du willst, Alte, aber ich musste unsere Tochter besuchen, wollte wissen, ob sie überhaupt noch lebt«, sagte er im kleinen Kreis unserer Familie beim Kaffee im Erkerzimmer. Ich horchte auf; von einer Tochter, also meiner Tante, in Berlin hörte ich zwar nicht zum ersten Mal, diese Berlinerin war eine handfeste und unangenehme Tatsache, wegen ihrer Verfehlungen. Namentlich Mama vermied es, überhaupt ihren Namen auszusprechen, und so kommt es, dass ich bis heute nicht weiß, wie meine Frau Schwiegermutter mit Vornamen eigentlich geheißen hat, Zeit und Umstände haben es auch nicht mehr wichtig sein lassen. Allerdings glaube ich mich daran zu erinnern, dass meine Frau Helene, meine Base, das heißt, ihre Tochter anlässlich unserer Trauung vor dem Standesamt erklärt hat, urkundlich nichts über den Tod ihrer Mutter beibringen könne. Indessen fand sich der Eintrag ihrer Geburt in unserem Katasteramt und Hochwürden Fabian gedachte ihrer als sein Firmkind. Sie wohnte bei uns in Müllhaeusen, bis sie ihren Mann kennenlernte, einen Werkmeister und Atheisten, mit dem sie durchbrannte und für uns verloren war.

Mein Wahlvater tadelte Großvaters Handlungsweise nicht. Er lobte: »Das haben Sie gut gemacht, Joseph, menschlich gesprochen. Und wie geht es ihr?«

»Ihr Haus steht zwar noch inmitten von Ruinen, sie selbst ist dienstverpflichtet, von ihrem Mann hat sie gar nichts gehört; er war zuletzt als Dolmetscher in Griechenland.«

»Was dieser Kerl bei den Griechen macht, möchte ich wissen«, bemerkte Großmutter trocken, um überhaupt etwas Negatives beizubringen. Der Alte erzählte weiter, dass sie ein Kind, eine Tochter hätten, irgendwohin kinderlandverschickt, die jammervolle Briefe nach Hause schreibe. »Ach, was! Wie alt ist denn die Kleine?« fragte Hochwürden interessiert.

»So um zwölf«, meinte Großvater. »Ich habe Briefe von ihr gelesen. Also, wir sind schließlich die Großeltern und keine Unmenschen.«

»Doch«, sagte Großmutter mit Nachdruck, »ich schon. Ich will gar nicht anders sein, als ein Unmensch. Überhaupt, mein Alter, habe ich Verschiedenes mit dir zu besprechen; hier wird sich manches ändern.« Die Besprechung zog sich ein wenig in die Länge, es kamen Dinge zur Sprache, die mich nichts angingen und bald darauf wurde Großmutter Hausbesitzerin, Ladeninhaberin und meine Base zu uns geholt. Sie kam ins Haus, allerdings in der Hauptsache, weil wir ein Dienstmädchen brauchten. Es gab längst keine mehr, nicht einmal mehr beim Arbeitsamt; alle waren dienstverpflichtet. Großmutter schaffte es jedoch, sich eine solche Kraft zuteilen zu lassen. Helene Buder, so ihr Familienname, wurde als Hilfe erlaubt, was man seinerzeit als ein Pflichtjahr bezeichnete und der Erziehung wie dem Glück junger nationalsozialistischer Mädchen diente. Ehe ich auf den Eintritt Helenes als einem wichtigen Einschnitt in mein Leben näher eingehe, ist von einer Gefahr zu berichten, die eine drohende Gestalt annehmen konnte, und die jedenfalls alle bezüglich meiner Zukunft gehegten Pläne zunichtemachen würde, falls sich kein Wunder ereignete.

Hierzu ist weiter auszuholen; meine Familie bekannte sich nach Herkommen zum edlen Volksstamm der Thüringer. Thüringen war unsere Heimat in einem großen deutschen Vaterland. Historiker nennen dieses Vaterland Reich und den Staat die Reichsidee; ganz früher waren wir sozusagen Römer im Heiligen Römischen Reich. Nach ungenannt vielen Wenden lebten wir zu meiner Zeit, weil das Römerreich längst untergegangen war und das zweite Reich nach dem Ersten Weltkrieg beendet werden musste, im Dritten Reich Adolf Hitlers. Indessen können wir noch von Glück sagen; denn die Franzosen haben sogar fünf Republiken hinter sich gelassen, zu meiner Zeit waren sie erst in der Vierten Republik. Überdies aber lebten wir auch in Gauen; einst hatten die Thüringer dem Reich die wilden Ungarn ferngehalten, Kraft der Heiligen Lanze Kaiser Ottos des Ersten. Mein Lehrer Fabian in Sachen Geschichte zeigte mir die Abbildung dieser Reliquie, die in einem Wiener Museum ausgestellt wurde; ich sah zwar nur ein Stück rostigen Eisens, war aber immerhin stark bewegt bei dem Gedanken, dass wir vermittels dieses Dinges ein Reich geworden waren. Durch unser thüringisches Land zog sich eine Kette von Burgen, die ich nach und nach mit Großvater oder meinem lieben Vater Hochwürden besucht hatte, in der Mehrzahl arge Ruinen und Trümmer einstiger Größe. Auch ohne lange Erklärungen sah ich, von einem höheren Punkt hinabgeblickt, dass sie alle an der großen Straße lagen, um den Handel zu schützen oder um die Kaufleute ihrer Habe zu berauben.

Thüringer waren hart, zäh, aber auch mildtätig, wenigstens manchmal, vor allem waren sie Christen. An die Wartburg habe ich besondere Erinnerungen bewahrt. Nicht nur dass der Landgraf dort Liederfestivals abzuhalten pflegte, auf denen sich die Minnesänger des Reiches mit der Harfe, statt mit dem Degen bekämpfen; auf ihr hatte auch der Ketzer Luther mit dem Teufel gerungen. Man zeigte mir bei einem Besuch den dunklen Fleck an der Wand seines Zimmers, das von dem Tintenfass herrührte, welches er als Junker Jörg, Satan entgegen geschleudert, und ich überlegte, ob Tintenflecke vierhundert Jahre lang sichtbar bleiben. Mein Vater, der es von Amts wegen nicht mit Luther hielt, meinte, man werde die Tinte gelegentlich erneuern, wenn sie verblasse. Er besaß aber genügend geschichtliches Verständnis, um mir die Gründe für die Reformation als einen Konflikt der Deutschen mit der römischen Kurie zu deuten; gleichwohl galt ihm Doktor Luther als ein Ketzer, dem er als Philologe denn doch manches nachsah. Dies alles und unsere Dickschädel hatte die Rebellion der Deutschen gegen das Papsttum begünstigt, mit großen Folgen für die Thüringer nach sich gezogen und nicht nur für sie. Meine Familie war freilich standhaft im alten Glauben geblieben. Aus der Hand meines geistlichen Lehrers bekam ich die Reime des Dichters Walther von der Vogelweide, las sie in Klausur und machte ihn dank der Verse „Ich saß auf einem Steine und legte Bein auf Beine“ zu meinem Lieblingssänger.

Nein, wir konnten wohl stolz darauf sein, unseren Ursprung auf die Thüringer und einen eisenharten Landgrafen zurückzuführen, ich zumal war nicht wenig stolz auf meine Vergangenheit wie auf die Sagen über meine Landsleute und wäre nicht auf den Gedanken gekommen, ihnen nicht zuzugehören. Ob er in Rom gewesen sei, fragte ich meinen Vater Hochwürden anlässlich des Wartburgbesuches, was nahelag, weil sich unser Tannhäuser vermittels einer Pilgerreise in Rom dem Papst vorstellen ließ und so weiter. Fabian bejahte es und fügte traurig hinzu: »Sogar mehrmals. Als junger Geistlicher gedachte ich eines Tages Kardinal zu werden. Im Kriege, ich war achtzehn Jahre alt, konnte ich zwar noch mit einem Studium beginnen, kam dann jedoch zur Sanität ... Ah, Rom! Eines Tages werden wir gemeinsam in die Heilige Stadt pilgern, Jakob, denn ich habe große Dinge mit dir vor!« Dazu äußerte ich mich nicht.

Seht, auch er hatte über mich beschlossen, ohne mich zu fragen. Da es in solchen Fällen besser war, wie ich aus den Erfahrungen der hinter mir liegenden Kindheit wusste, den Erwachsenen ihren Willen zu lassen und einfach die Zeit abzuwarten, ging ich darüber hinweg und wendete mich der Aussicht ins Tal zu. Es war Winter, der Berg war vom Schnee wie eingezuckert. Die Wintersonne ließ die Früchte der Eberesche rot aufleuchten, die noch nicht das Opfer der Fröste geworden waren. An den Laubbäumen hing verwelktes gelbes oder braunes Laub, und eine Masse kleiner bunter Sänger, Standvögel oder Wintergäste, bevölkerte die Ebereschen. Ich glaube, es war das erste Mal in meinem Leben, dass ich eine Landschaft als schön empfand, und das herbe winterliche Bild in mich aufnahm. Freilich war es dem Tannhäuser nicht gut ergangen, aber in meinem Herzen blühte Sympathie für diesen Schlaukopf.

»Jedenfalls«, erklärte mein Vater im belehrenden Ton, »sind Christen, wenn sie Germanen sind, gleichwohl zu Kämpfen solcher Art bereit, wie sie Tannhäuser bestanden hat, und ermangeln der romanischen oder welschen Oberflächlichkeit.« Dies, um zum Wesentlichen zu kommen, war nicht so dahingesagt, denn seit einiger Zeit gab es an meiner Volksschule ein Lehrfach Lebenskunde, in welchem unsere menschlichen Eigenschaften auf das Ahnenerbe zugeführt wurden. Zwar war es recht angenehm zu hören, dass wir nach einem ehernen Lebensgesetz besser waren als andere, aber die wahren gesellschaftlichen und sittlichen Verhältnisse in Germanien ließen sich für uns Jungnazis kaum versüßen. Unsere struppigen Vorväter saßen in rohe Tierfelle eingehüllt, am Feuer und rösteten erlegtes Wild oder nagten an Knochen, den Speer neben sich, so auf einem der Rollbilder, wie sie im Unterricht verwendet wurden. Ihre Weiber sahen kaum besser aus, aber es mag eine Urkraft in diesem Volk gesteckt haben, die sie den Römern überlegen machte. Gleichviel, als wir an diesem Wintertag auf dem Wartburgberg standen, fühlte ich mich der germanischen Rasse deshalb tief zugehörig, weil die Natur ringsum am ehesten an das ursprüngliche Dasein der Voreltern erinnern mochte.

Ich hatte Verdacht geschöpft; gerade weil die Frage meiner Herkunft stets unbeantwortet blieb, war in mir der Verdacht entstanden, mit mir könne etwas nicht in Ordnung sein. Doktor Wilhelmi, der Rassebeauftragter in Müllhaeusen und Herr in Puffenrode, schien entschlossen, meine diesbezügliche Akte ein für alle Mal offen zu halten. Mamas Tagebuch enthielt die Notiz, dass wegen des Krieges gründliche rassische Nachforschungen über mich nicht möglich seien und auf den Frieden vertagt werden müssten, mit einem Ausrufzeichen. Hier nun, auf der Wartburg mit für jeden sichtbaren Zeichen des Deutschtums, beschloss ich, die Aufklärung meiner Herkunft selbst in die Hand zu nehmen und ihr auf den Grund zu gehen.

Mein Haarschopf war dichter und leider auch dunkler, um nicht zu sagen schwarz geworden; von meiner Augenstellung ließ sich in rassischer Hinsicht ebenfalls nichts Günstiges melden. Die Lider blieben länglich geschlitzt, meine Lippen waren aufgeworfen und die Haut blass. Nicht, dass ich mir nicht gefiel oder dass mir mein Körper Sorge bereitete, im Gegenteil, ich war ein gewandter Bursche, schnell auf der Aschenbahn, rasch im Ringen und kühn beim Raufen, behielt auch die Ruhe, solange mir mein Gegner körperlich nicht stark überlegen war. Ohne Zweifel hatten die Germanen ähnliche Eigenschaften besessen, nur sahen sie eben auch breit und behäbig aus, zu schweigen vom Gelb bis Rot ihrer Haarzotteln. Wie Caskorbi erläutert hatte, schnitt der junge germanische Krieger sein Haar erst, wenn es ihm gelungen war, mindestens einen Feind zu töten. Jedenfalls aber würde sich kein Germane schwarzen Haares gerühmt haben, wie die von ihnen erbeuteten Sklaven, die auf den Rollbildern mit blödem Gesichtsausdruck im Hintergrund herumlungerten, falls sie nicht den Asen, also Wotan zumal, zum Opfer gebracht und gerade aufgehängt worden waren, bezeugten. Um die Sache weiter zu verfolgen; meine nächsten Angehörigen pflegten auf Fragen nach meinem Vater unwirsch zu werden und mich abzuweisen, das machte die Sache nicht einfacher. Auf meine Frage erklärte meinen Wahlvater Hochwürden, wie ich wisse, kenne Gott keine Rassen, habe Gestalt, Farbe und Herkunft seiner Kinder ohne Rangordnung geschaffen und unterscheide die Menschen hinsichtlich ihres Bekenntnisses zum Christentum. Hier wären zwei Klassen voneinander zu trennen, erstens die in Unwissenheit lebenden und nach Offenbarung dürstenden; man bezeichne sie als Heiden. Sie träten bei Kenntnis über die Gestalt und die Absicht Gottes für gewöhnlich heiter zum christlichen Glauben über. Dies nenne man Missionierung. Aus späterer Erkenntnis füge ich hinzu, falls sie sich jedoch störrisch zeigten, wurden sie verbrannt und kamen auf diese Weise ins Fegefeuer, wie überhaupt die Heidenmission zu mancherlei Missverständnis zwischen Missionar und Täufling geführt hat. Bei der zweiten Klasse liege der Fall schlimmer, fuhr er in seiner Erklärung fort, da handele es sich um Menschen, die des Lichtes schon teilhaftig gewesen, sich aber von Gott wieder abgewendet hätten. Diese hießen Gottesleugner, Häretiker, Atheisten, Agnostiker man sage von ihnen paganus est, oder paganus erat, denn man habe sie meistenteils verbrennen müssen. Damit war die Frage nach meinem Herkommen unbeantwortet geblieben, und ich sah wohl, dass sich mein Vater um die Wahrheit herumdrücken wollte, oder aber die Frage gar nicht verstand.

Was die Rassen betreffe, so handele es ich um eine Angelegenheit der Naturwissenschaftler, wogegen nichts einzuwenden sei; die äußere Gestalt, der Knochenbau, die Haut, der Gesichtsschnitt und die Instinkte seien ja wirklich bei den Rassen erkennbar anders. Er kam aber doch auf den Kern des Problems. »Ohne Zweifel«, sprach er besonnen, »muss man davon ausgehen, dass zwischen der jüdischen Rasse und anderen, der unseren zumal, erhebliche Unterschiede bestehen«. Damit drückte er aus, was allgemein als unbestreitbar galt.

Bei meiner Nachforschung auf eigene Faust geriet ich an Jan Links. Jan versagte leider ebenfalls vollständig; er unterschied nach Talent und nach musikalischen Begabungen, wie ihm sein Musiklehrer beigebracht hatte. Für ihn gab es die Klasse der Musiker und die andere, die der Banausen. »Aber angenommen, Jan, Johann Sebastian wäre ein Jude gewesen«, stellte ich ihm vor Augen. Jan sprach, Talent werde von irgendeinem Gott gespendet, wer diese Gabe empfange, müsse als auserwählt betrachtet werden. Farbe und Gestalt eines Talentierten spiele dagegen eine unbedeutende Rolle, wiewohl die schwarzen Neger wie die gelben Chinesen nur einer primitiven Musik, mehr unangenehme Geräusche hervorbringen würden, was sie allerdings minderwertig mache. Schließlich nahm er seine Erklärung aber doch zurück, als er hinzufügte: »Dumme Frage; Bach war natürlich kein Jude«. Mit Musikern konnte dieses Problem nicht erörtert werden und so zog ich hinaus zum Haus am Wald zu den Naturwissenschaftlern.

Kniri fummelte am Mikroskop herum, der alte Herr Oberstudienrat betrachtete mit einer Lupe die Einzelheiten eines Stiches aus seiner großen grafischen Sammlung. Auf meine Frage legte er die Lupe aus der Hand und lehnte sich in seinem Stuhl zurück. Er war ein schöner Mann mit länglichem Gesicht, blauen Augen und schneeweißem Haar, auf der Oberlippe trug er einen dichten Bart, der ihm bis in die Mundwinkel hineinwuchs, kann ich hier nur wiederholen. »Nun«, sagte er, sich an seinen Sohn wendend, junger Mann, dies sei eine Bewährungsfrage! Mein Freund erklärte geläufig, es gehe vor allem darum das Volk als Ganzes gesund zu erhalten, wenn man die Generationsfolge sichern wolle, darum, die Natur gewissermaßen nachzuahmen, die Krankes und Untaugliches durch Unterdrückung ausscheide.

»Wir alle«, bestätigte der Oberstudienrat, »sind die vorläufig letzten Glieder einer langen Kette. Jedoch war unser Erbgut einst gesund und kräftig, gut, wie auch unsere seelischen Anlagen. Leicht können wir erkennen, dass nicht jeder Deutsche heute noch die als germanisch erkannten Merkmale besitzt. Dafür ist Jakob selbst auch ein treffliches Beispiel. Ich würde ihn unter die dinarischen Menschen einreihen; unter seinen ostischen Vorfahren; in ihm befindet sich ein fremdes, ein uns feindliches und giftiges Blut, eine Tatsache, die ihn von unserer Rassegemeinschaft freilich zunächst nicht völlig ausschließt, weil ein Rest seines Blutes vielleicht noch gesund ist. Es wird eine Zeit dauern, zwei oder drei Generationen, bis alles in Ordnung kommt, aber der Anfang ist gemacht«.

Auf seine Anweisung nahm Karl vom Buchregal ein Lexikon oder Werk mit den Abbildungen anderer Rassen und Stämme und wir hielten uns ein wenig länger mit der Abstammungslehre Darwins und seiner Theorie von der Entstehung der Arten durch Auslese auf. Vielleicht war es dem Alten entgangen, dass mein Wissensdurst andere und verborgene Ursachen hatte, als den Drang nach solcher Erkenntnis. Er trat ans Fenster und winkte uns heran. Am Ausgang des Tales lag die Anstalt Puffenrode, wir konnten die Schornsteine des Heizhauses erblicken, aus denen Rauch aufstieg. »Dort«, sagte er, »geschieht vielleicht das eine Wichtige, die Beseitigung unwerten Lebens. Ihr solltet früh darüber Bescheid wissen und keine falsche weichliche Humanität in euch aufkommen lassen. Mit Berechtigung dürfen wir sie alle als Antisemiten bezeichnen, Klopstock, Herder, Goethe, nicht zu vergessen Fichte, Schopenhauer, Wagner und wer noch, die alle in unserem Raum gewirkt haben, den Juden als Volksvergifter erkannten und des realen Humanismus nicht ermangelten. Schlagt tot, das Weltgericht fragt nach den Gründen nicht! Übrigens aber ist es noch zu früh, um näher auf die Sache einzugehen«

Ich war weit davon entfernt, diese Feststellung meiner Minderwertigkeit als glaubhafte Mitteilung anzusehen und ihr düstere Folgen zuzumessen. Der Oberstudienrat fasste es abschließend in schlichte Worte: »Man schläfert die unheilbar Kranken ein, denke ich, irgendwie, und das ist alles«. Karl, der Käfersammler, entfaltete mit einer Präpariernadel die Flügel eines getöteten Kerbtieres. Sein Vater sah zu und fuhr belehrend fort: »Die Arten erhalten sich selbst gesund, indem sich nur die Stärksten und Besten fortpflanzen können. Damit kommt nur das vorzüglichste Erbgut zum Tragen. Wird diese Regel gestört oder durch Menschen verhindert, so bricht der gesunde Stamm zusammen, lebensunfähige Kümmerlinge werden gezeugt, und die Rasse geht unter. Wie der Führer sagt: Das Leben ist Kampf, und wer nicht kämpfen will in dieser Welt des ewigen Ringens, verdient das Leben nicht; oder mit den Worten des Klassikers: Und setzet Ihr nicht das Leben darein, nie wird euch das Leben gegeben sein … Vielleicht habt ihr nicht alles verstanden, aber die deutsche Jugend kann nicht früh genug mit den Problemen der Evolution bekannt gemacht werden. Merkt es euch ihr Knaben!«

Karl begleitete mich ein Stück auf meinem Nachhauseweg. Offenbar hatte er das Wesentliche des väterlichen Vortrages schneller erfasst als ich, oder er war früher und besser von ihm unterrichtet worden; die Schlüsse, die aus dem Vortrag des Alten zu ziehen waren, lagen für ihn auf der Hand. Er sagte mir mein Schicksal voraus, mit der Empfehlung, mich nach einem unbedenklicheren Vater umzusehen, da ich anders keine Aussicht habe, in unser Gymnasium Justus von Liebig aufgenommen zu werden. Am Ende könnte ich vielleicht Uhrmacher im Geschäft meiner beiden Alten werden. In der Periode, als ich mich mit dem Rassestaat befasste, überlegte ich wohl, was Artus Hengst und die Seinen über solche Fragen dachten und wer oder was sie waren. Ich spreche hier von meiner selbstständigen Überlegung, will sagen, ich fand heraus, dass es verschiedene Rassen in unserem Städtchen zu geben schien. Wenn es den Landgrafen gegeben hat, der sich hart schmiedete, wie die Sage berichtet, so musste er vom Schlage dieses Artus Hengst gewesen sein, und sollte einmal Mangel an gesunden Männern herrschen, so würde Artus ohne Zweifel an die erste Reihe gerufen werden.

Um ihn allein zu treffen, musste ich früher als gewöhnlich aufstehen und warten, bis er mit seinem Schrippensack kam. Was wäre, dachte ich erschrocken, wenn es eines Tages keine Bäcker und keine solchen Dienstleistungen mehr gäbe oder wenn sie in nicht genügender Zahl vorhanden wären? Ohne Zweifel würden die Menschen in unserer Stadt zwar nicht Hungers sterben, aber doch großen Mangel leiden, ein Fall, den ich mir nicht vorstellen konnte und wollte.

Langsam folgte ich Artus auf seinem Gang, sah, wie sein großer weißer Beutel immer leerer wurde, bis Artus in die Straße einbog, wo der Bäcker, Erzeuger all dieser Schrippen, den leeren Sack entgegennahm und seinen Boten entlohnte. Der bedankte sich und ging seiner Wege. Ich trat an die Seite meines Schulgefährten und nahm seinen Schritt auf. Artus schenkte mir keinen Blick, zeigte sich aber auch nicht eingeschüchtert, da ich ihn doch bei einer niedrigen Tätigkeit beobachtet hatte, was ihm nicht entgangen sein konnte. Da er störrisch schwieg, beschloss ich aufs Ganze zu gehen und sagte, dass für die Verteilung von Schrippen auf deutsche Beutel doch eigentlich Fremde zuständig seien; unsere Aufgabe bestehe darin, Brötchen zu essen, die andere gebacken und wieder andere verteilt hätten. Artus schwieg weiter und blickte geradeaus. Ich sagte: »Artus! Oberstudienrat Kniri ist imstande, in Müllhaeusen einen Rassestaat zu errichten. Du solltest dich dazu äußern, hältst du es für möglich oder wahrscheinlich, dass dir eine andere Rolle zukommt als die eines Brötchenverteilers, indessen mir die höhere Bildung verwehrt sein würde? Sag etwas! Sprich dich aus«. Trotz dieser gehobenen Rede gelang es mir nicht, ihn zum Sprechen zu bringen. »Nicht sehr freundlich«, sagte ich. »Nun, du wirst Gründe haben zu schweigen. Lassen wir es denn.« Es war mir leider unmöglich, etwas Vernünftiges aus Artus herauszukriegen. Meine Ängste gediehen weiter.

Dann aber geschahen ablenkende Dinge, die zuerst Mama, später im gewissen Sinne auch mich betrafen, bis ganz zuletzt die von mir erwartete Base Helene Buder im Städtchen eintraf.

Jakob Ponte

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