Читать книгу Jakob Ponte - Helmut H. Schulz - Страница 8

4. Kapitel

Оглавление

Le silence du peuple est la lecon de roi; ob es Königen, Präsidenten, Parteivorsitzenden oder Sekretären und dem Papst gegeben ist, Erkenntnisse aus dem Schweigen des Pöbels zu ziehen, diese Frage entscheidet der Meister Mirabeau immerhin positiv als Lehrstück für die Herrschenden. Wenn das Schweigen eines Volkes die Mächtigen vor Fehlern warnen soll, so ist Beredsamkeit noch lange keine Zustimmung zu ihren Irrtümern. Die Verhältnisse in einer Provinz sind fast immer kleinlich; hier kommt alles später an; vielleicht ist die Provinz gerade deshalb ein Spiegelbild für die Verhältnisse eines Landes. Die Diktatoren großer Reiche bieten neben ihrer Albernheit immerhin gelegentlich das Bild erhabener Macht; ihren kreisbevollmächtigten Satrapen bleibt nur die Rolle des Popanz und der Lächerlichkeit. Zwar sollte ich mich solcher Urteile enthalten, zumal ich mich nicht mit Politik abgegeben habe und auch künftig nicht zu befassen gedenke, aber eben solche Sätze wie die des Mirabeau geben auch noch dem heutigen Zeitgenossen zu denken; sie sollten es wenigstens. Unabhängig späterer Überlegungen ist festzustellen, dass meine Visionen nur vor den Ereignissen eintraten; zum Exempel: Seit den Tagen des Mai, mit dem Beginn der Angriffshandlungen im Westen, hatte ich mich außerordentlich wohlgefühlt, war ganz auf der Höhe des gemeinsamen Impetus der Provinz, sich als Teil einer Großmacht zu fühlen. Auch als die britisch-französische Armee bei Dünkirchen eine schwere Niederlage erlitt, die Briten aber gleichwohl in ihrer Masse der Vernichtung entgingen, befand ich mich, ohne genauere Kenntnis der militärischen Vorgänge natürlich, noch in Hochstimmung wie alle Provinzler. Um die letzten Wochen des Juni finde ich im Tagebuch Mamas Eintragungen wie: Heute wurde der Waffenstillstandsvertrag mit Frankreich unterzeichnet! Bei Jakob keinerlei seelische Erkrankung; ein strahlend gesundes Kind tritt mir entgegen!. Gut!

Der von Mama erwähnte, der die Kriegshandlungen beschließende Vertrag wurde am 22. Juni 1940 unterzeichnet, für diejenigen, die sich für dergleichen Datierungen noch interessieren. Ich stand zwischen meinem fünften und meinem sechsten Lebensjahr; wenn mir schon keine tieferen Einsichten abverlangt werden durften, und wenn die Eintragungen in Mamas Tagebuch eine persönliche Anteilnahme an den weltgeschichtlichen Dingen nehmen, so hätte von meinen Verwandten und dem Stadtvolk Müllhaeusens doch wohl erwartet werden dürfen, an die Zukunft über dieses Abkommen hinaus zu denken. Aber, um gerecht zu sein, von einer Niederlage war weithin keine Spur zu erkennen, und meine telepathischen Fähigkeiten bezogen sich nun einmal nicht auf Niederlagen, sondern bloß auf die kommenden Siege. Möglicherweise ist mir deshalb meine telepathische Fähigkeit abhandengekommen. Ein Volk kann vielleicht in corpore jubeln, aber offenbar nicht ebenso einmütig sich selbst misstrauen. Einstweilen feierten wir mit der ganzen Provinz. Vor meinem Fenster dröhnten die Trommeln, es flatterten die Fahnen, und das alte Rathaus legte Festschmuck an. Kindisch bezog ich indessen alles auf mich und sah glücklich hinunter auf die trommelnden Kinder, die vielleicht noch des Glückes teilhaftig werden konnten, in den Kampf zu ziehen. Die Provinz wollte und konnte von den Ermahnungen der Welt, den Juden und den Kommunisten und allgemein andersgläubigen Toleranz zu gewähren, nichts wissen.

Natürlich liegt auch immer eine Absicht in der erzeugten und beförderten Stille, von der Mirabeau spricht. Als ich aus Anlass des Sieges und der Idee absoluter Ordnung, einer erhabenen und siegreichen Diktatur, auf meine Weise Beifall spendete, wusste ich nicht, was ich tat. Gleichsam von selbst entstand in mir der Zwitter aus opponierender Stille und verzückter Staatsanbetung, die bis heute an uns Deutschen als Topoi zu studieren ist; immer ist das Gegenwärtige das moralisch Recht! Es ging mir, wie ich nochmals betone, seit dem Angriff auf den Westen und dem Sieg in Frankreich seelisch ausgezeichnet, obschon die Leiden, die ich und alle anderen vor sich hatten, abzusehen gewesen wären, und es ist nicht ohne Interesse, mitzuteilen, was Doktor Wilhelmi in einer weiteren Schrift über mich wissenschaftlich darlegte. Er charakterisierte meine Leiden als das Hölderlinsyndrom, das er als solches natürlich ablehnte; ich werde zu gegebener Zeit darauf zurückkommen, kann mich für jetzt auf den Ausschnitt aus der Zeitschrift Der Nationalsozialistische Arzt, den Mama aufbewahrt hat, berufen.

Auf dem Platz vor meinem Fenster herrschte also die ausgelassenste Stimmung. Ein Junge im schönen braunen Hemd mit Koppel und Schulterriemen, mit Halstuch im Lederknoten, das Kriegsmesser an der Seite, hängte sich die Landsknechtstrommel um, kreuzte die Schlegel sieghaft über dem Kopf, der mit einem braunen Käppi, einem Schiffchen, bedeckt war, und ließ sie auf das Kalbfell niedersausen! Nach einem dumpfen Wirbel mischten sich die heller rasselnden Flachtrommeln in den Schlachtgesang der großen Trommel; zugleich hoben ältere Jungen die blinkenden Fanfaren. Hände auf die Hüften gestützt, brachte die männliche Jugend ihre Instrumente in Blasposition, indessen alle kleinen Geschäftsleute am Platz vor die Türen traten, die Hände zum Deutschen Gruß hoben oder anders Beifall bekundeten. Aus allen Fenstern wurden die Fahnen mit dem Hakenkreuz gesteckt, und auf dem Balkon des Rathauses erschienen die uniformierten Notabeln der Provinz. Einer hielt die Siegesrede, immer wieder vom Beifall unterbrochen. Zuletzt sangen wir alle die feierlich getragene Weise des Deutschlandliedes, unsere Nationalhymne und daran angehängt das Kampflied der Sturmabteilungen: Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen. Das optische Bild des Volksfestes ist hier noch wiederzugeben; die großen und kleinen Verkaufsbuden, umlagert von Menschen, grünen, braunen, schwarzen Uniformen und Frauen allen Alters und Aussehens, die Kapellen auf den Podesten, Märsche und Schlager intonierend, Possen reißende Ansager auf kleinen Bühnen, volkstümlich kostümierte Jugend aus den umliegenden Dörfern, die Kultur-, Tanz- und Singkreise thüringisch-deutschen Brauchtums, schließlich der Auftritt Großvaters in der vordersten Reihe seines Männergesangvereins, intonierend: Das ist Lützows wilde verwegene Jagd ... Eijah.

Ich durfte bis in den Abend aufbleiben, bis zum Fahnenappell. Unweit des zischenden Brunnens errichteten Stadtarbeiter einen Holzstoß. Ringsum standen wir Provinzler und sahen erwartungsvoll zu. Kräftige junge Leute in braunen Uniformen, Menschenblöcke bildend, betraten im Gleichschritt den Platz. Einer setzte in tiefer Stille den Holzstoß in Brand; und wirklich züngelte die Flamme hochauf und beleuchtete ihre martialischen Gesichter. Flamme empor, hieß es, steige mit loderndem Scheine und so weiter … Mit gewichtigem Ernst blickten alle in das prasselnde Feuer, ich an der Hand meines geistlichen Lehrers Hochwürden Fabian. Großmutter stand ebenfalls bei uns, Großvater und Mama fehlten. Seit dem Nachmittag hatte sie keiner von uns mehr gesehen. Ich dachte nicht weiter über ihre Abwesenheit nach, was auf dem Platz geschah, war interessanter. Durch das Geprassel des Feuers klang die Stimme des Führers der Jugend. Was er sagte, verstand ich nicht, aber die Stimmung am Abend der Siegesfeier ist mir im Gedächtnis geblieben. Wir hielten aus, bis der Holzstoß verglimmt war. Im Gleichschritt verließen die Kolonnen den Platz; zuletzt verliefen sich die Leute, und die städtischen Arbeiter beseitigten die Reste des Brandes. Bis zu unserem Haus waren es nur ein paar Schritte. Großmutter forderte ihren Neffen auf, ein Glas mit ihr zu trinken.

»Mein alter Narr nutzt die Gelegenheit zu einer Saufpartie, natürlich«, sagte Großmutter verärgert. »Ich kann Ihnen versichern, die Ehe ist im Allgemeinen ein Kreuz, und zwar für beide Seiten; meine ist eine Strafe. Seien Sie froh, einem bösen Weibe entgangen zu sein.«

»Wie man es nimmt, liebe Tante. Schlecht getroffen haben Sie es mit Ihrem Mann eigentlich nicht, aber es ist immer dasselbe mit euch Weibern, mit eurer ewigen Unruhe, euren andauernden Erwartungen und Sehnsüchten, Symbol und Abbild der Schlange.«

Lachend sagte Großmutter: »Sie tun mir zu viel Ehre an, aber sonst mögen Sie recht haben. Wie war das mit dieser verflixten Viper im Paradies? Auf dem Bauche kriechen und Dreck fressen soll sie? Kinder unter Schmerzen gebären. Und da fällt mir ein, dass auch meine Tochter noch nicht im Bett liegt.« -

»Vielleicht doch«, sagte er, »wenn auch nicht ihrem Eigenen; nach der Beichte werde ich es wissen.«

»Was hat uns der Tag gebracht? Was denken Sie?« fragte Großmutter.

»Die Frage ist, was er uns genommen hat«, erwiderte er, »wenn nicht den Rest unseres Verstandes.«

Großmutter schlug vor: »Spielen Sie eine Partie Schach mit mir! Übrigens, wissen Sie, was unlängst drüben in Weimar passierte, ich meine, in dem Lager? Da fielen ihnen ein paar Leichen von einem Laster auf die Straße, die ins Krematorium gebracht werden sollten. Tolle Zustände, wie.«

»Ja, ich hörte davon, und besser bringen Sie dieses Kerlchen mit den langen Ohren zu Bett, ehe wir uns in Einzelheiten verlieren.«

Gern wäre ich noch aufgeblieben, aber Großmutter ließ sich nicht erweichen.

Meine arme Mama musste in diesen Tagen die schwierige Aufgabe lösen, mich zu einem guten Christen und zugleich zum nationalsozialistischen Staatsbürger zu erziehen. Ich sollte gebildet sein, eine allseitig gebildete Persönlichkeit werden; in einer arbeitsteiligen Welt ein holder Traum, von der ursprünglichen gewollten Ungleichheit der Menschen einmal abgesehen. Als Mama an einem Mittwoch ihren Entschluss im Familienkreis verkündete, mich in die Kinderstunde zu senden, stellte Meister Fabian seine Kaffeetasse auf den Tisch und blickte sie prüfend an, eine Erklärung fordernd. Auch Großmutter verbarg ihr Erstaunen nicht. »Und warum soll Jakob in den Kindernachmittag geschickt werden?«, fragte sie.

»Erstens haben wir als Gewerbetreibenden allen Grund, nicht aufzufallen, und zweitens ist es nur gut, wenn Jakob mit Kindern seines Alters spielt.« Dieser Erklärung setzten sie keinen Widerstand entgegen und Mama brachte mich also eines Tages in einen Kindergarten am Rande unserer Stadt und übergab mich einer Tante. Diese Tante zu schildern, will ich versuchen, obschon das Ereignis lange zurückliegt. Ich konnte hier zum ersten Mal meine Fähigkeit zur Parodie freien Lauf lassen. Anfangs stotterte ich sie an, weil ich ihren Namen nicht behalten konnte, nannte sie einmal sogar Herr. Mama hatte gesagt, hier sei ihr Kleiner, er spiele Klavier, singe wie ein Engel und werde später das Geigenspiel erlernen oder nach Südamerika auswandern, um das Deutschtum zu verbreiten. Zwar seien wir religiös, was uns aber nicht daran hindere, dem Führer unsere Kinder zu schenken. Anscheinend gefiel der Tante diese Rede, denn sie nickte ungefähr so wie eines jener Männchen, die ein Gelenk im Genick haben und bei jeder Erschütterung mit dem Kopf wackeln; solche Nickfiguren standen damals in vielen Schaufenstern. Zufälligerweise fragte sie nicht nach meinem Ariernachweis; vielleicht aber nahmen sie es damit nicht so streng wie üblich. In der kurzen Zeit meines Wirkens in einer nationalsozialistischen Kinderstunde habe ich nie Gelegenheit gefunden, meine Talente zu beweisen, weil wir anderweitig beschäftigt waren. Das Musizieren der Jugend war damals übrigens noch harmlos, gemessen an den heutigen Tonparametern, dem Hämmern von Elektrogeräten und Überschallanlagen, durch die jede läppische Tonfolge zur Kampfansage an uns geworden ist … »Ich denke, es wird gut sein, dass er zu Ihnen kommt«, hatte Mama meine Übergabe an eine staatliche Erziehungseinrichtung beendet. Vielleicht dachte Mama, sie hätte das Ihrige getan, indem sie mich teilte, in eine dem christlichen Gott reservierte, und in die andere, weltliche Hälfte, die dem Führer gehörte.

Dem Zeitgenossen brauche ich das Verfahren, kindliche Seelen zu manipulieren, nicht zu erklären; er ist genügsam bekannt mit der Prozedur. Unter der Aufsicht dieser Tante sangen und spielten und tanzten wir kleinen Blödiane wie junge Hunde um sie herum, lernten Gedichte und sagten sie auf, und taten mancherlei Unsinniges. Der Raum, in welchem alles geschah, war klein; an der Stirnwand hing ein Führerbild, davor stand ein Tisch für die Tante, und an diesem Tisch in T-Form ein weiterer Tisch für uns, vielleicht zwölf oder fünfzehn kleinen Mädchen und Jungen. Ich entwickelte eine starke Neigung zu meinen gleichaltrigen Gefährten, mein kindliches Gemüt wurde empfänglich für den Anmut der kleinen Mädchen, um deren reine Stirnen zu Kronen geflochtene blonde und braune Zöpfe gewunden waren. Sie erschienen mir allesamt niedlich mit ihren rosigen Lippen und dunklen oder hellen Kinderaugen. Es gab natürlich auch weniger auffallende Gören mit glattem Haar und farblosen Augen, aber diese interessierten mich weniger. Die Jungen gefielen mir auch, obschon ich mit keinem nähere Bekanntschaft schloss.

Ich erwähne mit Nachdruck diese frühe Hinneigung zum Menschen, zum Weibe zumal, die sich bei mir ausbildete; in der Kindergruppe wurde der Keim zu einem vorerst noch dunklen Trieb, der sinnlichen Freude am anderen Geschlecht, in mir geweckt. Ich ging also gern in die Kinderstunde und genoss die Wirkung, die ich selbst ausstrahlte. Neben mir setzten sich die hübschesten kleinen Mädchen, vielleicht weil ich heiter und gesprächig war, vielleicht aus anderen Gründen, wer weiß. Übrigens sagten alle Erwachsenen, dass die Kinderstunde einen guten Einfluss auf mich ausübe. Wir bastelten dem Führer Geschenke, oder wir schrieben Briefe an ihn, ungeachtet der Tatsache, dass wir noch gar nicht schreiben konnten. Alles wurde an den Lustsitz des Reichskanzlers geschickt. Und wirklich, er mag sich über unsere Briefe gefreut haben. Wir selber freuten uns auch, wenn es uns gelungen war, ihm einen Brief zu schreiben, das heißt, der Tante in die Feder zu diktieren. Bei meiner Neigung, alles auf mich zu beziehen, war ich nicht mehr weit davon entfernt, mit dem Führer zu sprechen, ihn zu hören, zu sehen, wie er die Lippen bewegte: Du hast mir geschrieben? Ich danke dir, Jakob! Ich werde mich erkenntlich zeigen«, denn wer etwas geschenkt bekam, dem oblag die Pflicht, seinerseits zu schenken. Ich befand mich also im Zustand völliger Unschuld, die Tante aber auch. Der Führer muss ihre erste und einzige Liebe gewesen sein. Nie gelang es ihr, das Wortpaar Unser Führer auszusprechen und in normaler seelischer Verfassung zu bleiben, meist war sie den Tränen nahe, wie ich mit Erstaunen feststellte. Die Tante fesselte mich also ungemein, und so achtete ich nicht so sehr darauf, was, sondern wie sie es sagte. Ihr Gesicht erinnerte an das eines bestimmten Vogels, und zwar des Schuhschnabels. Seiner eckigen Form wegen passte der Unterkiefer der Tante nicht recht zur oberen Gesichtshälfte. Mit träger Langsamkeit glitten die Lider über ihre gelblichen Augäpfel auf und nieder, was einen verblüffenden Effekt erzielte. Zu Hause probierte ich aus, ob ich auch die Geduld aufbringen würde, meine Lider wie Jalousien zu bewegen, worauf mir Großmutter kurzerhand verbot, solche Grimassen zu schneiden.

Während der wöchentlichen Kinderstunde mussten wir aufstehen, und die Hand zum Deutschen Gruß erheben. Die Tante zeigte, wie man es macht; mit geschlossenen Fingern und steif abgestrecktem Arm. Verzückt starrte sie mit erhobener Hand in die Luft, dazu klappten ihre Augendeckel in der erwähnten Art und Weise, obschon ich nicht weiß, ob diese Lidträgheit allen Schuhschnäbeln eigen ist und nicht nur dem einen Exemplar, das ich im Erfurter Zoo bei einem Besuch gesehen hatte. Zwischen diesen Andachtsübungen hüpften wir im Kreise herum. Kurz gesagt, alles war so albern wie nur möglich, aber nicht ohne Wirkung auf uns, wenigstens auf mich. An den Umgang mit Erwachsenen gewöhnt, war ich Gleichaltrigen voraus und nach anfänglicher Begeisterung des Kindergartens schnell überdrüssig. Mama bestand jedoch darauf, dass ich weiter einmal wöchentlich zur Tante ging, und mir blieb nichts anderes übrig, als zu gehorchen.

Eines Nachmittags, als wir im Erkerzimmer Kaffee tranken, fragte Großvater, was wir eigentlich in der Kinderstunde täten. Treuherzig berichtete ich, dass wir Briefe an den Führer schrieben, worauf Hochwürden verwundert, aber zutreffend bemerkte, dass wir ja noch nicht schreiben könnten. Also musste ich erklären, wie diese Kundgebungen unserer Loyalität zustande kamen. Dummheit, diese sogenannte Tante müsse ein ausgewachsenes Exemplar an Dummheit sein, sagte er. Großmutter nickte, aber sie schränkte ihre Zustimmung auch wieder ein, indem sie darauf hinwies, dass wir kleinen Leute mehr als andere auf den Großmut der Mächtigen angewiesen seien. Im Städtchen kannten sich alle, zumindest kannten sich diejenigen, die etwas vorstellten, oder die sich einbildeten etwas zu sein, und folglich einander hudelten, verabscheuten und anschwärzten. Der Geistliche schlug vor, mich aus der Kinderstunde herauszunehmen, selbst wenn Geschäftsleute bestimmte Rücksichten nehmen müssten, was er respektiere. Ich war aufgeregt, stand ich doch im Mittelpunkt, und ließ mich zu einer Darbietung hinreißen. Des Beifalls gewiss, machte ich vor, wie die Tante mit den Augendeckeln klappte, spielte eine regelrechte kleine Etüde und fragte mit verstellter Stimme: Möchtest du, dass ich dem Führer schreibe, wie lieb du ihn hast? Oder soll ich ihm schreiben, dass du ihn nicht lieb hast? Ich zeigte ihre Art des Deutschen Grußes; es war sicherlich eine gelungene Vorstellung meiner Anlagen und Talente, sodass sich Großvater vor Vergnügen auf die Schenkel schlug, und selbst Großmutter zu einem Lächeln bewegt wurde. Als ich geendet hatte, stieß Mama einen Seufzer des Entzückens aus, und wendete sich an alle mit der Frage, ob ich nicht zum Schauspieler geboren sei. Nur Meister Fabian, auf unser aller Wohlergehen bedacht, lächelte nicht, er hielt den Kopf gesenkt und sagte eindringlich: »Höre, Jakob, du darfst so etwas unter keinen Umständen woanders aufführen!«

Nach einer Weile schickten sie mich nach oben; ich vermute, dass sie meinen Fall besprachen, und mich nicht dabeihaben wollten. Oben betrachtete ich den Bronzekopf des Führers, hob die Hand zum Deutschen Gruß und blickte zweifelnd auf die Büste. Er gefiel mir nicht, ich meine, er gefiel mir als Mensch aus Gips nicht, ich kannte keinen mit einem so kleinen Bart, keinen, der das Haar so merkwürdig zur Seite kämmte. Auch schien mir die Nase des Führers zu groß. Auf dem Platz unter meinem Fenster regte sich etwas, ich öffnete es weit und stellte mich so auf, dass ich gesehen werden konnte und übte öffentlich den Gruß, den ich der Tante abgelauscht hatte. Ein paar Leute blieben lachend stehen, andere zeigten nach oben und drohten mit Fäusten zu mir herauf; erschrocken warf ich das Fenster wieder zu. Mama kam hereingestürzt und fragte, ob ich verrückt geworden sei. Ihre letzten Worte klangen in mir nach: »Gott sei Dank wirst du bald zur Schule kommen, dann hören die Faxen auf!« Aber in die Kinderstunde durfte ich nicht mehr ...

Der Leser, dessen Geduld ich mit den wahrheitsgetreuen Berichten aus meinen frühen Kindertagen in der Provinz womöglich gelangweilt habe, wird fragen, wozu das alles? In der Tat hat noch niemand eine Antwort darauf geben können, weshalb sich politische Zustimmung stets in übertreibenden Formen zu äußern pflegt. Und es sei immerhin erwähnt, dass sich der normale Zeitgenosse regelmäßig und willig unter das Joch des Gefühlskollektivs beugen lässt, und sich dabei mit sich selbst ganz im Reinen befindet. Auch die sogenannte Demokratie zeigt in ihren Ritualen Züge kollektiven Wahns, auch sie muss ihre Anhänger an die Redefront rufen, das Volk an die Pose des öffentlichen Redners und Schauspielers gewöhnen, um es auf eine Lehre einzuschwören, mit der rechten unter dem Schlüsselbein, wo sie das Herz vermuten.


Wir treten nunmehr in meinen neuen Lebensabschnitt ein. Was bis hier geschehen, das sollte in meinem Leben gewissermaßen die Keimzelle für alles Spätere werden, ich war in meinem Grundgestus fertig, meine Erziehung war abgeschlossen. Wenn ich an anderer Stelle sagte, dass ich gut beraten gewesen bin, als ich mir das Knochenhauerinnungshaus zum Schauplatz meines ersten Wirkens aussuchte, so hätte ich mir nach beinahe sechsjähriger Lebenserfahrung wiederholen dürfen, dass es keine schlechte Wahl gewesen ist, eine, wie ich sie nicht besser hätte treffen können, wäre ich gefragt worden. Meine Großeltern sind gewöhnliche, herzenswarme, freundliche, habgierige, ziemlich nutzlose und überdies beschränkte Menschen gewesen; nur meine arme Mama brachte das Element der Gestrauchelten in unser bürgerliches Heim, und Hochwürden Fabian, den Arzt Doktor Wilhelmi an der Seite, geleitete uns sicher durch den unsicheren Alltag, wie die letzten Episoden bewiesen haben. In die Kinderstunde brauchte ich also nicht mehr zu gehen. Mama hielt es nach den Erfahrungen, die ich mit der Tante gemacht hatte, für besser, mich zu Hause unter Kontrolle zu behalten. Merkwürdigerweise sind Weltanschauungslehren darauf aus, die zahlreichen kleinen und großen Einzelwesen, deren Reichtum gerade in ihrer Individualität besteht, gleichzumachen und sich und uns einzureden, wir seien alle von ein und derselben Art, mit gleichen angeborenen Farben, Eigenschaften und Rechten, was augenscheinlich unwahr ist. Da sich dieses Kapitel mit der Erziehung kleiner Jungen und Mädchen befasst, so durfte, was ich zu berichten hatte, auch hier stehen.

Mama abonnierte mittlerweile eine Zeitung für mich, welche sich Die Deutsche Kinderschar nannte. Es handelte sich um ein kindergerecht aufgemachtes Blatt mit lustigen Zeichnungen, kleinen Gedichten und längeren Texten; ich bin nicht sicher, ob ich sie als Prosa bezeichnen darf. Mir gefiel die Zeitung ganz außerordentlich, und Mama sagte das eine über das andere Mal zu Großmutter, sie glaubte, jetzt werde Jakob vernünftig, er nehme Lehre an und könne sich schon sehr gut in diese unsere Welt hineinversetzen. Und das stimmte, obschon ich noch immer nicht lesen und nicht einmal begreifen konnte, warum ich es lernen sollte; also mich beschäftigte die Zeitung sehr, aus der mir Großvater gern vorlas. Nach mehrmaliger Wiederholung konnte ich auch längere Passagen behalten und andere mit meinen Künsten verblüffen. Es war meine Zeitung, und ich erkundigte mich immer dringlich, wann sie endlich komme, falls der Termin ihres Erscheinens meinem Zeitgefühl nach überschritten war. Sie kam stets, wenn auch manchmal mit Verspätung. Ich wusste schon, dass ich mit zunehmendem Alter immer andere Zeitungen bekommen würde, immer größere, mit anderen Bildern und umfangreicheren Texten, und so fort bis hin zum Völkischen Beobachter, den Großvater im Abo erhielt, den Angriff, zu schweigen vom Schwarzen Corps, eine Zeitung, deren Name mir als besonders geheimnisvoll gefiel. In der Provinz wirken Symbole länger und direkter als in großen Zentren mit den Angeboten an Chiffren und Piktogrammen, die sich überdies auch noch rascher abnutzen und verbrauchen. Bis heute aber ist mir ein Gedicht aus jener Zeit im Gedächtnis geblieben, dessen stampfender Rhythmus wahrscheinlich frühzeitig meinen Sinn für das Gebrauchslyrische weckte, indem ich denn auch erfolgreich wurde. Später habe ich auf dieser frühen Erfahrung aufbauen und ein großes Publikum um mich versammeln können; nämlich als ich die Errungenschaften des Sozialismus und dahinter die strahlende Zukunft des Kommunismus in rollenden Zeilen besang, häufiger dachte ich an die erste Zeit meiner künstlerischen Bildung zurück. Daher könnte man bei meiner Autobiografie auch von einem Bildungsroman sprechen. Ein Gedicht lautet folgendermaßen: Wir sind jung, wir sind noch klein, / Wir kennen nicht Kampf noch Sorgen, /Wir wachsen in die Zeit hinein, / Wir sind das Deutschland von morgen! So die Überlieferung, und ich sehe Mama noch vor mir, die Zeitschrift auf den Knien, mit den Händen den Takt des Gedichtes schlagend, während Großmutter aus ihren scharfen beobachtenden Vogelaugen spöttische Blicke zu ihr abschoss.

Hochwürden Fabian bewegte spielerisch die Tasse mit dem Rest Kaffee; er kippte sie so weit, dass die Flüssigkeit jeden Augenblick auszulaufen drohte; mir wäre solch ein Spiel untersagt worden. Interessiert fragte Großvater, ob vielleicht auch Noten dazu abgedruckt seien. In Musik war diese Kunst allerdings nicht gesetzt worden. In jener Zeit, ehe ich aus der Kinderstunde entfernt wurde, stand ich bei irgendeiner Gelegenheit im Wappensaal des Rathauses auf einem Podium, hinter mir die Winzlinge noch aus der Kindergruppe in Reih und Glied unter Obhut der Tante Schuhschnabel, stellte die Füße zusammen, dass sie einen rechten Winkel bildeten, hob die Hand zum Gruß und rief strahlend-frisch: Heil Hitler! Danach sprach ich mein Gedicht. Es muss ergreifend gewesen sein, viele, alle blickten ratlos ergriffen zu Boden oder weinten, standen auf und klatschten Beifall, unser Kreisleiter legte mir seine Hand auf die Schulter. Lächelnd verneigte sich Mama nach allen Seiten. Selbst Doktor Wilhelmi hatte sich von seinem Stuhl erhoben; sie trat auf ihn zu und warf sich ihm um den Hals. Beide hielten sich lange umschlungen, bis Großmutter eingriff, mich grimmig vom Podest herunterholte, mir den Mantel anzog und vor sich hin sprach: »Deine Mutter lässt wahrlich keine Gelegenheit aus, sich ins Gerede zu bringen!« Ich aber erklärte ihr, dass sie nur wütend sei, weil Doktor Wilhelmi meine Mama lieb habe und sie ihn! »Na, wahrhaftig«, sagte sie lachend, »kluges Kind, das du bist! Aber was rege ich mich über diese Hurenwirtschaft eigentlich noch auf!«

Jakob Ponte

Подняться наверх