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2. Kapitel

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Fortschritte in Feinsinnigkeit und Weltläufigkeit lassen sich immerhin feststellen, als ich meine Familie zu analysieren begann; une femme sotte est une benediction du ciel, eine dumme Frau ist eine Wohltat des Himmels, fand auch ich wie der vielerfahrene Voltaire vor mir bald heraus. Eine mit Einfalt gesegnete Familie sichert uns auch glückliche Kinderjahre, vorausgesetzt, der heranwachsende Knabe zeigt sich den Hausgenossen geistig gewachsen, so wie es bei mir der Fall gewesen ist. Übrigens bin ich ein Anwalt der Kinder geworden, angesichts der vielen Verbrechen, die ungesühnt an diesen Wesen verübt werden. Naturgemäß sind sie den listenreichen, ihnen an Kraft überlegenen Erwachsenen ausgeliefert, aber es gibt eben auch jene zierlichen Däumlinge, denen der Himmel Witz genug gab, den mächtigen Großen erfolgreich zu trotzen, und ihre Verlogenheit und Herrschsucht beizeiten zu durchschauen. Gewiss, man kann die kleinen Geister schnell vernichten, kann sie biegen oder brechen, um der Welt endlich jene verbogenen Produkte zu präsentieren, die sich wie Uhrwerke bewegen, Triumphe didaktischer Systeme, wo verwegenere, eigenwilligere Kinder ihre besonderen Wege suchen und allzu oft an sich selbst zugrunde gehen, sei es an einer Krankheit oder einer Droge oder einer Unterart davon, der Liebe. Was ich aus meiner Erfahrung zu berichten habe, liegt ganz auf der Linie selbsthelferischer Aktivität. Mag sein, dass solche Kraft eine Gabe des Himmels ist; ich jedenfalls schnitt im Kampf mit oder gegen meine Familie nicht übel ab. Ich träumte viel mit offenen Augen, wird erzählt, und ich will nicht widersprechen, aber hinzufügen, dass ich sie mit halb geschlossenen Augen belauerte, wie der ruhende Leopard auf seine Beute wartet, immer auf der Hut vor ihnen, vor den angeblichen Wohltaten, die sie mir bezeigten, wie den Verfolgungen meiner verborgenen, ihnen unangenehmen Laster.

Mich beeindruckte das Porträt eines erstaunlich dicken Mannes, von dem der Alte behauptete, er heiße Friedrich der Weise und habe eine Ente zum Frühstück verzehren können, eine respektable Leistung, wenn man bedenkt, dass dieser Fürst noch Zeit fand, zusammen mit seinen Amtsgenossen die deutschen Verhältnisse gründlich zu verwirren. In der Folge flößten mir alle fetten Menschen Respekt ein, schon deshalb, weil ihnen niemand untersagen durfte zu essen, was und wie viel sie wollten.

Aber es geschah wohl frühzeitig, dass mir die hispanisch-kreolischen Züge meines Vaters erschienen, jenes hervorragenden Mannes, welcher eines Tages in Müllhaeusen aufgetaucht war, um Quartier im Hotel Zum Löwen zu nehmen, ein Senor, der alle Welt bezaubert haben dürfte, wenn man voraussetzt, dass sich Mama für alle Welt hielt und noch hält. Von ihm besaß ich die schon erwähnten Hinterlassenschaften. Auf der Meerschaumspitze war ein Pferd zu sehen, das einen Menschen trug. Gefesselt lag er auf dem Pferderücken, er nannte sich Mazzeppa, wie Großvater erklärt hatte. So mischten sich in meine Vorstellungen allerlei Unsinn vom Argentinier und vom unglücklichen Mazzeppa, der eine im Hotel residierend und sich in Luft auflösend, der andere auf ewig an den Meerschaum gefesselt. Die Spitze schmeckte nach einem bitteren Stoff, und Großmutter verbot es mir, daran zu saugen, weil ich danach wie ein Teerfass röche. Ich aber mochte nicht glauben, dass dieser Kavalier zu seinen Lebzeiten mit Teer oder etwas ähnlich Schmutzigem in Berührung gekommen war.

Aus dem Alter herausgekommen, wo ein Kind alles in den Mund steckt und verzehrt, was verdaut werden kann, sich also die Welt auf die ursprünglichste Art und Weise einverleibt - Kannibalen verharren in diesem Zustand, bis sie selbst in die Mägen ihrer Angehörigen gewandert sind, nachdem sie ihrerseits jene dezimiert haben, wurde ich von Mama mit Erinnerungen gefüttert. Märchen bekam ich keine zu hören, Märchen hielt sie für kindisch, aber ich war ein Kind, und es wäre mir zugekommen, in Märchenwelten zu leben. Mama gab mir auch kein Spielzeug und keines jener Bilderbücher, mit denen man die Fantasie der kleinen Plagegeister zu beschäftigten pflegt. Also empfing ich die Welt der Großen aus Mamas Händen, aber es war ihre Welt, nicht die eines Vier- oder Fünfjährigen. Alle ihre Hoffnungen kreisten um den einen Punkt, ihrer Flucht aus der Stadt. Mit Macht zog es sie in die Welt hinaus, aber sie besaß nicht die Mittel, ein unabhängiges Leben zu führen. Großmutter hielt Geld und Familie zusammen. Wenn Mama flehte, uns ziehen oder sie allein gehen zu lassen, prophezeite Großmutter ihr den Untergang. Aus mir machte Mama einen kleinen Erwachsenen, der auf Blockflöten Motetten blies, während sie selbst die Querflöte recht gut handhabte und Großvater das Harmonium traktierte. Solchen Konzerten pflegte sich Großmutter wie alle auf Gewinn eingestellten Naturen mürrisch zu entziehen. Sie flüchtete in einen ruhigen Winkel des Hauses; mit anderen Worten, sie war unmusikalisch, wie das bei auf Praxis und Erwerb gerichteten Menschen häufig der Fall ist, die fragen, was das Billett kostet, ehe sie ins Konzert gehen, die einen billigen Platz im dritten Rang des Hauses kaufen und hinterher finden, dass sich die Ausgabe nicht gelohnt habe.

Von meinem Vater besaß ich in jener ersten Zeit meines jungen Lebens also die Vorstellungen einer betrogenen Frau; das Foto zeigte den Argentinier als ein Produkt intensiver Rassenmischung. Er sah aus wie ein Tangogeiger mit pomadisiertem, glatt gekämmtem schwarzem Haar und dünnem Lippenbart, den Mama einen Menjou nannte. Mir gefiel mein Vater nicht; sein Bild und Mamas Erzählungen nahmen mich überdies gegen ihn ein. Auf dem Foto stand eine Widmung, Hasta la vista, Worte, denen Mama diesen Sinn gab: Hastig wie das Leben. Sie spann ihren Faden. Mein Vater besäße sicherlich enorme Ländereien in Südamerika, auf seinen Weiden würden sich Millionen Rinder tummeln. Man pflege sie dort nicht zu zählen, anders als hier, wo jedem Kuhschwanz eine Schleife angebunden und jedem Ochsen eine Glocke um den Hals gehängt werde. Dort trügen die Caballeros, so hießen dort die besseren Leute, mit Silber und Gold besetzte Kleider und ritten auf wilden Pferden, wie es ihrer Würde entspreche. Wir hier führten ein trostloses Leben, aber wir würden weggehen, auch wenn sich die Alten noch so dagegen sträubten. Was Wunder, dass ich meinen vermeintlichen Vater über die Weiden Argentiniens reiten und die Köpfe seiner Rinder zählen sah, wenn nicht zählen, so sie doch mit Blicken schätzen. Es kam ja wahrhaftig nicht auf ein paar Tausend mehr oder weniger an. Mit Großvater stritt Mama, weil er sich weigerte, den Unterschied zwischen einem südamerikanischen Rind und einer Bauernkuh als ein Problem der Rangordnung ihrer Halter zu begreifen.

Inzwischen war der Krieg ausgebrochen. Großvater hatte die Nachricht zuerst mit einem Schreck quittiert, sich aber nach dem schnellen Sieg über die Polen begeistert in die Rolle des Heimatkriegers hineingefunden. Kriegstüchtige männliche Verwandte hatten wir nicht. Wenigstens kannte ich keinen, aber ich litt weder Hunger noch Durst, bekam zu essen, was ich verlangte. Mutter, Großmutter und Großvater unterzogen sich gern der Mühe, mir den Vielfraß von den Augen abzulesen. Es genügte, dass ich schrie, um meinen Willen durchzusetzen. Also dachte ich darüber nach, als ich denken gelernt hatte, in kindlichen Grenzen, wie ich mich ihren Ansprüchen an meine Arbeitskraft entziehen konnte. Sie verlangten manche kleine Leistung von mir, zu meinem Besten, wie sie sagten, weil sich früh krümmen müsse, was ein Häkchen werden wolle. Ich wollte kein Häkchen werden, und wollte mich demzufolge auch nicht früh krümmen. Dagegen wollte ich es lernen, mein Schicksal erträglich zu gestalten. Es ist übertrieben zu sagen, ich wäre nach einer Strategie vorgegangen, vielmehr regelte sich alles von Fall zu Fall instinktiv und wie von selbst. Rücksichtslos nutzte ich einen Vorteil aus, sobald ich ihn erkannte, und sie schlugen ihrerseits energisch zurück, falls ich ihnen dazu Gelegenheit bot und eine Schwäche erkennen ließ.

Denke ich heute an diese sorglose Zeit zurück, so bin ich erstaunt, wie viel mir davon in Erinnerung geblieben ist, nicht an Geschehnissen, wohl aber an Eindrücken. Dabei stellt sich fast von selbst die Stimme meiner Mama ein. Durch das Donnern der Düsenjäger über meinem Kopf und den aufdringlichen Lärm aus einem halben Dutzend Radios in der Umgebung höre ich ihre sanfte Mahnung, nicht soviel Süßes zu essen. In welchem Schrankfach sie Konfekt aufzubewahren pflegte, war mir gut bekannt, und solange etwas davon vorhanden war, verlangte ich danach. Hingegen würgte ich den Spinat, den sie mich zu essen zwangen, weil er gesund sei, wieder heraus. Heuchlerisch erklärten sie wohl, vom Zuckeressen werde man krank. Mama bleckte ihre Zähne, um mir zu beweisen, wie gut sich diese durch Mäßigung erhalten hatten, aber sie trug nur einige Goldplomben, wie es die Mode damals erheischte. Selbstverständlich verlangte ich nur noch dringender nach Keks, Konfekt oder Schokolade, weil mich diese Esswaren gesund erhielten, mein Glücksgefühl mehrten, nicht aber der Spinat. Der Streit endete gewöhnlich damit, dass ich bekam, was ich wollte. »Du darfst nicht denken, Jakob, ich würde dir dieses Vergnügen nicht gönnen, im Gegenteil, ich würde dir die Welt schenken, wenn sie süß und genießbar wäre, aber das ist sie nicht!« Das widersprach meinen Erfahrungen; es gab sicherlich bei Weitem mehr Saures und Bitteres als Süßes; man musste nur verstehen, das Bittere zu vermeiden. Vermutlich habe ich Mama bei dieser Rede aufmerksam und dreist angesehen, ungerührt ihr Konfekt fressend. Sie fuhr fort in ihrer alten Leier: »Nichts erhoffe ich sehnlicher, als aus der Stadt wegzukommen, aus dieser verdammten Provinz, wenn dein Vater eines Tages hier erscheinen wird. Wir haben Krieg. Wahrscheinlich wird sich unser Volk nach dem Sieg über die Erde ausbreiten, will sagen, dann steht uns die Welt offen«, sie unterbrach sich, um mir eine Frage zu stellen, ob ich lieber in Amerika oder in Frankreich leben wollte. Zweifellos entging es ihr, dass eine vernünftige Antwort auf ihre Frage nicht in meiner Macht lag; sie stellte mir immer wieder solche Aufgaben. Da ich schwieg, entschied sie: »Also Frankreich. Ich bin auch für Paris. Man hat Lebensart in diesem Frankreich, obwohl ... « sie verzog den Mund. Großmutter kam und trieb sie in den Laden an die Arbeit.

Übrigens hatte ich den Krieg vorhergefühlt; so ihr Tagebucheintrag. In jenen Tagen, etwas weniger als einem halben Jahr nach meinem vierten Geburtstag, glitt die Welt allmählich an den Rand des Abgrunds, wie ich ihrem sorgenvollen Gerede entnahm, obschon Großvater bald darauf über unsere Siege triumphierte. Was mir gegeben, das Ende vorauszusehen, das fehlte meiner Familie. Sie wiegten sich in trügerischen Hoffnungen. Mama, Tochter eines nicht unbemittelten Handwerkers und Ladeninhabers, eines Hausbesitzers und charakterschwachen Menschen, der seine Tage im Frieden mit sich und der Welt zu Ende bringen wollte, besaß das Herz eines Desperados; ihr fehlte nur der Anstoß zu tun, was sie sich sehnlichst wünschte, auszubrechen, mehr zu scheinen als zu sein, zu herrschen, eine größere Rolle zu spielen. Vermutlich hatte Großmutter recht; meine arme Mama wäre in einen Abgrund gesprungen, hätte ihr nur jemand verheißen, dort unten würde sie ihr Glück finden. Jedenfalls fühlte ich ihrer Beschreibung nach den August des Jahres 1939 hindurch eine Art Beklemmung in der Brust, was ein völlig neues Symptom bedeutet habe, weshalb sie Doktor Wilhelmi aufsuchen musste, um mich ihm vorzustellen.

Wir besaßen kein Radio und hielten keine Zeitung. Erst im Laufe des Krieges kaufte Großmutter endlich das billige Goebbels-Radio. Ich nehme an, dass keiner von uns damals wirklich wusste, was draußen vor sich ging. Es interessierte sie auch nicht, solange das träge Leben und die frohen Feste wie gewohnt verliefen. Da sich meine Übelkeit hinzog, an der Doktor Wilhelmi nichts zu ändern vermocht hatte, bestand Großmutter darauf, den Rat des Geistlichen einzuholen. Sie trafen sich, da wir ihres Beistandes bedurften, an meinem Schmerzenslager und tranken gemeinschaftlich Kaffee, den Großmutter ihnen servierte, ehe sie ans Werk gingen.

»Nun«, sagte Doktor Wilhelmi, Mama mit den Augen des Frauenkenners wohlgefällig musternd, »Fräulein Ponte, wie geht es Ihnen?« Er redete sie stets mit Fräulein an. Sie lächelte still, hob mit einer berechnenden Geste die rechte Hand bis in Kopfhöhe, sodass der weite Ärmel ihres seidigen Morgenrockes zurückfiel und ihren weißen nackten Arm und einen Teil ihrer runden Schulter sichtbar werden ließ, was selbst meine Jugend als ungehörig und berechnend empfand. Der Arzt, der meinetwegen erschienen war und sich nun an die Zeit vor ein paar Jahren erinnerte, als meine Mama und ich an den sprechstundenfreien Nachmittagen in seine Praxis geweilt hatten, seufzte auf, wohl in Erinnerungen an selige Stunden des Lasters. Ich will bemerken, dass Doktor Wilhelmi das war, was man in der Provinz eine blendende Erscheinung nannte, groß, schlank, helläugig; zu einem schmalen gut geformten Kopf, besaß er vortreffliche Manieren; kurz, er kam aus einer anderen Welt.

»Nun«, sagte Hochwürden Fabian, seinen Gegner nachäffend, »nun könnten Sie eine Probe Ihrer Kunst ablegen, mein Herr!«

Doktor Wilhelmi sagte spöttisch: »Ich würde der Geistlichkeit in diesem Falle den Vortritt lassen. Gewöhnlich kommen Sie ja nach mir.«

Großmutter stellte das Geschirr zusammen, zum Zeichen, dass nun gearbeitet werden müsse, und beide Kapazitäten näherten sich meinem Lager. Der eine suchte nach Veränderungen in meinen Organen, der andere ging den rätselhaften Turbulenzen in meiner christlichen Seele nach, denn ich war ja immerhin ein getaufter Christ. Das heißt, der Arzt behorchte meine Brust, fühlte den Puls, der Geistliche stellte bloß Fragen, an deren Inhalt ich keine eigene Erinnerung mehr besitze, nur seine Aufzeichnungen. »Eine leichte fiebrige Infektion«, erklärte Doktor Wilhelmi, »wie gewöhnlich, ich schreibe etwas auf, täglich zweimal eine Tablette.« Oh, ich erinnere mich gut dieser Tabletten, nach deren Einnahme zu meinem Entsetzen rot gefärbter Urin aus mir heraus floss. Oft genug habe ich diese Art Pillen von Doktor Wilhelmi bekommen. Noch ging der Arzt nicht, wollte offenbar das Urteil des Geistlichen abwarten. Jener setzte sich an mein Lager, legte die Hände übereinander und schloss die Augen. Leise fragte er mich, ob ich geträumt habe, was ich durch Nicken bestätigte.

Hier folge ich der Niederschrift Mamas im Tagebuch; auf der Tageseite am 29. August 1939 steht: Jakob fibril, krank! Kriegsausbruch nahe, wie der Pfaffe vermutet. Mein lieber W. verordnet Tabletten! Lenkt den Verdacht auf Schizophrenie. Wäre furchtbar. Bei uns gibt es keine Geisteskranken …

Aber nun zu den Befunden aus dem Tagebuch meines Wahlvaters Fabian. »Sage mir, was du in diesen Träumen gesehen hast«, verlangte der geistliche Herr. »Erblicktest du den Führer?« Mit ruhigem Gewissen konnte ich nicken, den Führer sah ich wie alle immer und überall, in Schaufenstern und Wohnungen stand oder hing sein Bild, in Gazetten abgedruckt und in Öl gemalt, war er doch der Liebling aller Frauen und Freund der Kinder; er war sozusagen omnipotent.

»Konntest du Soldaten erkennen? Weißt du, was Krieg ist? Wird es Krieg geben?« Vielleicht habe ich allein deshalb keine Antwort gegeben, weil sich Doktor Wilhelmi ziemlich ruppig einschaltete. »Lassen Sie doch diesen Hokuspokus!« Darauf konnte der Geistliche nur milde lächeln, angesichts der wenig überzeugenden roten Pillen der medizinischen Koryphäe.

»Lieber Doktor«, sprach er wohl, denke ich heute, Jahrzehnte später, »es gibt mehr Dinge zwischen Himmel und Erde, als Ihre Schulweisheit sich träumen lässt, sagt jedenfalls der Dichter. Zum Beispiel bin ich sicher, dass dieses Kind Träume und Zukunftsvisionen hat, wie diese auch immer beschaffen sein mögen. Es wird Ihnen schwerfallen, die bewiesenen Fälle solcher Fähigkeiten bei Kindern oder reinen Jungfrauen anzufechten! Es handelt sich da um eine Gnade, der Sie wohl nicht teilhaftig geworden sind. Wer sie besitzt, ist wahrlich nicht zu beneiden. Ihre roten Pillen scheinen dagegen sehr entbehrlich.« Ich mag indessen von seinen Worten überzeugt gewesen sein und sprang ihm mit der Versicherung bei, dass wir Krieg bekommen würden.

»Sie sind verrückt«, sagte Doktor Wilhelmi und nahm seinen Hut, »und der Knabe ist keine reine Jungfrau. Jeder nach seiner Art, aber Ihre Kirche hat ja auch einen Bruno verbrannt und bestreitet nach wie vor die wahre Gestalt der Erde und den Charakter der Schöpfung, viel mehr der Evolution. Aber, zugegeben, eine Antwort weiß ich in diesem Falle auch nicht.« So wird sich hoffentlich der Dialog zwischen beiden abgespielt haben.

Der Arzt zeigte sich betroffen und fuhr ärgerlich fort: »Jakob ist ein überspanntes Kind, von drei Erwachsenen ständig überfordert, einer Mutter, die einen vermeintlichen Fehltritt an ihrem Kind wiedergutmachen will, entschuldigen Sie, Fräulein Ponte, und den Jungen, anstatt ihn mit Hänschenklein und Eiapopeia zu erziehen, mit ihren eigenen Seelenzuständen versorgt; dagegen werden Pillen in der Tat machtlos sein und wenig ausrichten. Kommen Sie lieber wieder regelmäßiger zu mir in die Sprechstunde, Fräulein Ponte«, wendete er sich an Mama, »dann sehen wir weiter.«

»Haha«, sagte der Geistliche, »es hat Sie wohl doch getroffen, dass Ihnen hier kein Erfolg beschieden ist. Wir wissen ja nicht, ob Jakobs Vater vielleicht eine Anlage zum Propheten gehabt hat,« endete er listig. Der Leser möge mir verzeihen, mich hier bereits als Dichter heraufgespielt zu sehen, denn sicherlich reicht meine Erinnerung nicht so weit, einen solchen Dialog wiederzugeben. Aber: Wie bekannt, am 1. September 1939 brach der Krieg wirklich aus, was inzwischen jeder weiß und womit damals jeder rechnete und dessen Ursache sogar manch ein Historiker begriffen hat. Mit einem Schlage wurde ich wieder gesund. Fröhlich sprang ich umher und durfte zu Meister Fabian gehen, um mich zu bedanken und ihm Blumen zu bringen. Dafür ließ Mama ihre plötzlich sporadisch auftretende Migräne hypnotisch von Doktor Wilhelmi behandeln und ging zweimal wöchentlich in seine Sprechstunde. Leider enthält ihr Tagebuch diesbezüglich keinen Hinweis darauf, was diese beiden trieben.

Ich muss an dieser Stelle etwas aus späterer Einsicht einschalten, um dem Arzt Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Doktor Wilhelmi, der sich so skeptisch gab, überwachte nach diesem letzten Vorfall mein Wohlbefinden und meine Zustände systematischer; in wissenschaftlichen Fachblättern wie Der Nationalsozialistische Arzt veröffentlichte er seine Beobachtungen, deren Objekt ich gewesen bin. Die in seinen Artikeln herrschende Metaphysik und Parapsychologie irritierte die Fachwelt keineswegs. Jedenfalls vertrat Doktor Wilhelmi seinerzeit die Auffassung, dass unter gewissen organischen Bedingungen eine Fernübertragung von Gedanken in Form von Bildern durchaus möglich sei, vorausgesetzt, die Speicherung sei diesem Vorgang im Medium vorangegangen. Der germanische Stamm vertraute der Seherin vollständig, wenn sie die Schicksalsrunen warf und daraus die Zukunft weissagte; Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft mächtig. Es wäre an ein Ahnenerbe zu denken … Ja, selbst Dinge, die seinem wissenschaftlichen Weltbild widersprachen, hielt Doktor Wilhelmi für zwar unerklärbar, aber für Tatsachen. Ungewiss wäre nur, ob solche Affektionen pathologischer Art seien oder einer höheren seelischen Gesundheit zugerechnet werden müssten. Mein faustischer Nothelfer befand sich da auf einem recht schmalen Pfad der Erkenntnis, wie man sieht, aber auch Meister Fabian stand nicht weit von ihm entfernt. Da Mama alle mich betreffenden Artikel und manche Äußerungen über mich aufgehoben hat, allerdings korrekterweise das inzwischen gesetzlich verbotene Hakenkreuz auf dem Titelblatt der Zeitungen oder Zeitschriften entfernte, besitze ich über meine frühen Erfahrungen also immerhin bestimmte Nachrichten.

Das Knochenhauerinnungshaus erschien mir unendlich groß und vor allem dunkel. Als ein Kind mit lebhafter Fantasie befiel mich Angst vor großen schwarzen Räumen. Daher mied ich eine Zeit lang alle Gelegenheiten, die Zimmer der oberen Etagen allein und bei Dunkelheit zu betreten, blieb in der Nähe von Mama oder Großmutter, wenn wir dort oben etwas zu tun hatten. So kam ich in dieser Übergangszeit in den Ruf, ein ängstliches Kind zu sein. Immerhin machte ich eine Ausnahme gegenüber anderen Angsthasen, als ich mich meiner Schwäche nicht schämte, sondern offen eingestand, dass mir alles Nachtdunkel nicht geheuer war. Ich befand mich noch im Zustand der Unschuld, und diesem Umstand trug Hochwürden Fabian, der oft zum Kaffee kam, Rechnung, zeigte er mir doch den lebendigen, verhältnismäßig freundlichen Gott des Neuen Testaments, der alles sah, namentlich das, was die kleinen Kinder taten, wenn sie sich unbeobachtet glaubten, der es aber vorerst bei einer leichten Züchtigung bewenden ließ, wenn er uns bei einer Sünde ertappte. Bald lernte ich, dass alle diesseitigen Strafen nicht die einzige Sühne darstellten; in schwereren Fällen griff Gott selbst auf unnachsichtige Art und Weise ein, schickte Krankheiten über uns, oder verordnete ein Missgeschick, etwa eine Beule am Kopf oder ein gebrochenes Glied. Gebt uns die ersten sechs Jahre, verlangen die Weltanschauungslehrer mit guten Gründen, und Hochwürden Fabian kam aus der strengen Ordensschule der Jesuiten im damaligen Feldmünster, ehe er Weltgeistlicher wurde und sich zu Kaffee und Kognak bekannte.

Kampflos wollte ich mich allerdings nicht ergeben, sondern suchte nach Wegen, der himmlischen Aufsicht zu entkommen, oder ihr durch ein wohlbedachtes Vorgehen den Wind aus den Segeln zu nehmen. Zum Beispiel mischte ich gute und schlechte Taten, sodass ein Patt herauskam.

Einmal wöchentlich am Sonntag musste ich Großmutter zur Frühmesse begleiten. Großmutter und ich knieten in der Betbank nieder. Zwar dauerte die Sache nicht lange, erschien mir aber doch als recht lästig und ziemlich überflüssig. Im Sommer machte mir das frühe Aufstehen weniger aus als im Winter. Ich sann also darüber nach, wie ich es anstellen konnte, zu Hause zu bleiben, und fand verschiedene Möglichkeiten, die ich abwechselnd anwendete. Entweder verschluckte ich Zahnputzwasser, oder ich steckte mir etwas in den Mund, behauptend, unbedacht gehandelt zu haben. Großmutter, die es mit äußeren Regeln sehr genau nahm, erklärte, dass ich in diesem unreinen Zustand keiner Messandacht, nicht einmal eines Stillgebetes würdig sei und zu Hause bleiben müsse. Kaum hörte ich die Haustür klappen, schlüpfte ich wieder ins Bett. Meine Erziehung war konfus, manchmal streng, dann wieder lax und wenig ehrlich. So konnte ich auch nicht anders werden, als mir vorgelebt wurde. Mit Vorliebe sprach Großvater vom Dichter Goethe und vom Fürsten Friedrich, wie schon erwähnt. Letzterer hatte es ihm angetan, obschon er ihn auch rüffelte. Einst sollte dieser Fürst, nach einem Wunsch des Papstes, Kaiser der Deutschen werden, und Großvater hatte herausgefunden, dass die Ablehnung dieser Würde Friedrichs Kardinalfehler gewesen sei.

Dass sich der Fürst der Dichter von Kirchen und Religionen fernhielt, weil er seine eigene Religion besaß, wahrscheinlich gar keine, wenigstens keine geoffenbarte, und deshalb eigentlich zu kritisieren war, störte den Alte weniger. Künstlerische Gaben stammten in Großvaters Vorstellungen immer vom Schöpfer selbst, ein Widerspruch zwischen Gott und Talent war für ihn nicht vorhanden, wohl aber ließ er Strenge walten, wenn ich Achtelnoten wie viertel oder gar halbe Noten spielte. »Im Takt, Schafskopf, im Takt!« Der Alte bedeutete mir, wie viel jener Dichterfürst gelernt, wie freudig er sich jeder Mühe unterzogen hatte, um Erfahrungen zum Nutzen und Wohle der Menschen zu sammeln. Faulheit sei diesem Manne fremd, ja, verhasst gewesen. Diese Behauptung, eine Kritik an meiner zur Bequemlichkeit neigenden Lebensweise, wie ich wohl begriff, hielt meines Erachtens einer Prüfung aber nicht stand. Wenn Unsterblichkeit oder wenn bloß Ansehen mit so viel Aufwand errungen werden musste, wie das taktgerechte Notenlesen, dann war die Ökonomie des menschlichen Lebens gestört, die im Ausgleich zwischen Anstrengung und Ausruhen bestand. Vielmehr nahm ich damals an, dass Genialität in der Leichtigkeit bestand, sich die Welt anzueignen. Will sagen, ein Genie ist immer auch ein Genie an Glück, wie ich früh verstand; wer es hat, dem kälbert ein Ochs. Kindlich vorurteilsfrei wendete ich mich mit meinen Fragen an den Bronzekopf des Dichters und erhielt Antwort. Sie ruht bis heute in meiner Seele: Lebe frei von fremden Lehren und Doktrinen! Sei du selbst! Und lass die Leute reden!

Ach, hätte ich mich nur daran gehalten und anderen kein Recht über mich eingeräumt! Nach einem langen Leben sehe ich Menschen gefeiert, deren Leistung in nichts anderem besteht, als einem jämmerlichen und beständigen Mittelmaß. Ewig bleiben die Anbeter des Fleißes in ihrem Schatten. Periodisch freilich steigt aus der Asche der Phönix auf, der den Erdball aus den Angeln heben will. Gelingt es ihm, dann immer zu unserem Nachteil. Menschen sind keine Genies, sie wollen keine sein. Die Giganten geistiger Arbeit werden manchmal unter die Götter versetzt, allerdings lange nach ihrem zeitlichen Ende, wenn ihnen die Erhebung nicht mehr nutzt. Schwerlich kann ich widerlegt werden, aber zurück zu den Erlebnissen meiner Kindheit, der solche Erkenntnisse natürlich verschlossen, wenn auch im Keim bereits vorgeformt waren ...

Gelegentliche Erkrankungen waren ein Segen, dessen Wert ich bald erkannt hatte. Zuerst plagte ich mich mit Husten und Schnupfen, dann verstand es meine kindliche Abgefeimtheit, Nutzen aus meinen Leiden zu ziehen. Tatsächlich bin ich wirklicher Leiden schon früh fähig gewesen, begriff allerdings auch in jungen Jahren, wie viel Glück ich durch die Anwendung meiner natürlichen Anlage zu Verstellung und Lüge ziehen konnte. Heuchelei ist eine verbreitete Haltung in einer Welt schwankender Werte, und ich muss gestehen, dass mich neben den Vorteilen, die mir meine Verstellungskunst einbrachte, beinahe noch mehr die Rolle des Heuchlers selbst reizte. Vermutlich habe ich um dieser Rolle willen sogar Nachteile in Kauf genommen. Nur den Zahnarzt fürchtete ich wie den Tod, der einen lose im Kiefer hängenden Milchzahn mit einem barbarischen Ruck entfernte und mir triumphierend das blutige Stück Knochen in die Angst schwitzende Hand legte. Übrigens litt ich ja auch wirklich, wenn ich mich krank zu meinen Pflichten schleppte, bloß um andere zu täuschen. Ich spreche hier so ausführlich darüber, weil mir scheint, dass die Lüge alle gesellschaftlichen Ränge durchzieht, und neben der allgemeinen Neigung zum Verrat die zweite uns angeborene Eigenschaft ist.

Wenig Gefallen fand ich an der Sucht meiner Familie, mir ständig Versprechen abzufordern, als Blankoscheck für alle Zukunft, etwa, nie mehr zu lügen, keine Süßigkeiten mehr zu essen und ähnlich Albernes. Dafür gab es auch große Verheißungen, die dem Versprechen des Himmelreiches gleichkamen. So sollte ich das Knochenhauerinnungshaus erben und Uhrmacher werden, durfte jedoch das Geschäft nicht weiterführen, wenn es nichts mehr einbrachte, sondern musste es verkaufen, einem Unwissenden andrehen, und ein anderes eröffnen. So die eine der familiären Visionen. Großvater empfand das Dasein eines kleinbürgerlichen Händlers und Uhrmachers als bedrückend, deshalb sollte ich seiner Ansicht nach lieber Künstler werden. Großmutter hingegen hielt den Besitz wie das Betreiben eines Geschäftes für das irdische Glück, mindestens aber für eine der sichersten Lebensgrundlagen. Mama bestand wie gesagt darauf, sobald es die Weltlage gestattete, die Kleinstadt zu verlassen und nach Südamerika oder nach Paris auszuwandern, notfalls in Eisenach oder in Weimar Station zu machen, oder sogar dort zu bleiben, wie ich schon berichtete habe, ohne zu bedenken, wovon sie leben würde.

»Möchtest du nicht Uhrmacher werden, wie Großvater?« diese Frage enthielt eine Drohung, die ein Nein verbot. »Möchtest du mit deiner Mama nach Paris?« Dieser mütterlichen Nötigung konnte ich nur entgehen, wenn ich vorgab, noch zu schwanken. »Möchtest du nicht Künstler, Musiker werden? Wir könnten dich nach Weimar in das Konservatorium schicken.« Ohne meine Fähigkeit, sie zu belügen, wäre ich in diesem Dschungel aus Liebe und Verblendung verloren gewesen. Ich will ein Beispiel geben, wie ich mich durchwand.

Einst stand ich mit dem Alten auf einer Eisenbahnbrücke. Wir blickten hinunter auf die Gleise, und Großvater fragte mich beiläufig, ob ich wohl Lokomotivführer werden wollte. Einen Augenblick lang mochte ich darüber nachgedacht haben, ob ich das wirklich wollte, ehe mir einfiel, was andere Knaben dazu geäußert hatten. Sie alle wollten Lokomotivführer werden, ein Grund für mich, es nicht zu wünschen. Hätte ich einfach ja gesagt, so wäre es zur unumstößlichen Gewissheit geworden: Jakob will Lokomotivführer werden! Warum will Jakob Lokomotivführer werden? Woher hat er das? Lassen wir ihn Lokomotivführer werden! ... Nichts lag mir ferner, Eltern und Großeltern zuleide und zuliebe wollte ich kein Führer werden, schon gar keiner von Lokomotiven. Nun kroch eine solche Dampfmaschine auf Rädern unten entlang, wie eine matte Raupe auf einem blitzenden Lineal. Der Mann, der sie lenkte, blickte mit ernstem, wenn nicht hoffnungslosem Ausdruck in den Augen zu mir hinauf, der es mir verbot, ihm auf diesem Weg zu folgen. Ich brauchte wahrlich keine Belehrung mehr, um zu wissen, was es hieß, Lokomotiven zu führen. Es bedeutete, eine dreckige Mütze auf dem Kopf zu haben, und in einen schmierigen Eisenkasten eingeklemmt zu werden, solange es andere wollten. Mit der Frage war ich also bald fertig, nicht so schnell jedoch mit der Antwort. Noch einmal schaute ich nach unten; der Mann winkte herauf. Ich versagte ihm den Gruß nicht, eine respektvolle Geste meinerseits für den Kapitän eines sinkenden Schiffes. Dann wendete ich mich Großvater zu und gab ihm eine meiner Visionen, ein Bild, das ich übrigens lange in mir trug und leicht beschreiben konnte: Ich sah mich wie der Prophet auf einer Wolke sitzen und Tafeln auf den Knien halten, von denen ich ablas, was andere an meiner Statt tun sollten, sicherlich sehr profane Dinge. Großvater schwieg bestürzt, dann schüttelte er den Kopf und sagte traurig: »Jakob, du bist verloren! Ein Taugenichts, auch wenn er ein Prophet ist, endet im Zuchthaus!« Er hatte recht. Wie soll ich sagen? Mein Ja zum ehrenwerten Beruf eines Lokomotivführers hätte Großvater, hätte sie alle befriedigt und als eine altersgemäße Äußerung hingenommen; einen Propheten wollten sie nicht, der sein Leben im Kerker aushauchte. Ich wäre jedoch der ganzen Herrschaft über mich selbst und durch mich selbst beraubt worden, hätte ich mich zu einem bürgerlichen Beruf bekannt, ehe ich meinen Namen zu lesen verstand! Vielleicht war es das, was ich unklar empfand und weshalb ich widerstand.

Merkt es euch, ihr Knaben! Es mag Wunderkinder geben, zwölfjährige Dirigenten, die ihr Publikum beschwören können, an ihr Genie zu glauben, oder kleine Schachkönige, Knaben also, die durch listige Führung ihrer Treiber zu frühen Ehren kommen und die ihren Dompteuren Ruhm und viel Geld eintragen. Sie müssen jedenfalls ihre Anpassung an die Wünsche anderer teuer bezahlen; wenn der Wind des Lebens sie anbläst, schrumpfen sie zu Nullen, oder sie schlummern in ihrer eigenen Vergangenheit weiter bis an ihr seliges Ende, wie eine Larve in ihrem Kokon. Wie anders nehmen sich dagegen die unsicheren Sprünge der eigenwilligen kleinen Rebellen aus! Ewig löcken sie wider den Stachel, ständig zerren sie an unseren Nerven und werden zuletzt doch Wein, mochten sie sich als Most auch noch so ungestüm gebärdet haben, eine Belehrung durch den Altmeister der Deutschen. In der Tat aber sollte ich am Ende so etwas wie ein Verkünder allerletzter Wahrheiten werden, freilich ohne selbst ganz an meine Sprüche zu glauben, und ich habe den Verdacht, mich damit in keiner kleinen Gesellschaft zu befinden. Leider aber enthält Großvaters Vorhersage meines Erachtens eine grauenhafte Wahrheit, sodass nicht mir, sondern ihm das letzte Wort zufällt. Diese Episode aus meiner Kindheit wurde später oft kolportiert. Jakob will kein Lokomotivführer werden, haha! Den Spott, der damit verbunden war, ertrug ich, eingedenk der Vorteile, die ich genoss, weil ich standhaft geblieben war. Mir ist durchaus klar gewesen, in welchem Maße ich von meiner Familie abhing. Mama, Großmutter und Großvater konnten mich, wenn sie wollten, kommandieren, was von Zeit zu Zeit auch geschah, aber ich durfte mir nicht einfallen lassen, ihnen zu befehlen. Der bloße Versuch hätte sie veranlasst, mich wie einen Hund aufzujagen. Die Beobachtung ihrer Schwächen verlangte meine höchste Konzentration. Darin brachte ich es zur Meisterschaft. Bald vermochte ich es vorauszusehen, wann der Kohleneimer so weit geleert war, dass ihn einer füllen musste. Und es gab viele, allzu viele mit Kohle geheizte Öfen im Hause! Warum sollte gerade ich derjenige sein! Gab es nicht drei rüstige Erwachsene im Haus? Und das Dienstmädchen, der am Ende diese Aufgabe zufiel, die Eimer im Keller mit Kohlen zu füllen und hinaufzuschleppen! Ich schloss mich ein, stellte mich schlafend, entlief ins Freie, bis sie die Sache erledigt hatten. Andererseits lernte ich es auch, Hinfälligkeit und Dankbarkeit vorzutäuschen. Letztere nutzte ich meist zur Vorbeugung und spielte listenreich den einen gegen den anderen aus. Wegen dieser Fähigkeiten hielten sie mich für ein fixes Kerlchen …

Der Tonfall, in dem ich über meine ersten Lebensjahre berichte, mag aus dem Rahmen fallen, aber es muss bedacht werden, dass ich neben der vagen Erinnerung an diese Zeit nur die Möglichkeit habe, den Dingen mit meinen heutigen sprachlichen Mitteln auf den Grund zu kommen, es sei denn, Mamas Tagebücher geben darüber Auskunft. Und, ihr Knaben späterer Zeit, ihr wisst nicht, wie gut ihr es mit euren alleinerziehenden Müttern getroffen habt! Ihr könnt ihnen beinahe alles einreden und vorgaukeln; sie glauben an euch, an eure Begabung wie an eine Offenbarung! Ihr seid ihnen der Mannersatz in ihrem langweiligen Leben, es sei denn, sie wenden sich der Politik zu, um vollends zu verderben, in Geschwätz und Zank. Ich war ein Einzelkind, außerehelich gezeugt, ich trug Mamas Namen Ponte. Auf die Frage, ob ich meinen Papa liebe, hätte ich antworten müssen: »Nein, ich kenne ihn gar nicht, ich habe nur eine Mama«, aber ich sagte verlogen genug: »Ja, ich habe Papa von Herzen lieb. Leider ist er gerade nicht da.« Übrigens handelt es sich wohl um eine blöde Frage, auf die es im Grunde keine Antwort gibt, da einem Kind ja nicht anheimgestellt wird, seinen Erzeuger zu lieben, der es womöglich gar nicht gewollt hat. Facia Pater notus est, quid filius faciat, sagen klassische gebildete Menschen, von denen es damals noch viele gab, aber dass ein Vater über den Tatendrang seines Sohnes stets im Bilde ist, wie es die Römer für wünschenswert erachteten, ist zu bezweifeln. Im Regelfall hat der Erzeuger nicht die mindeste Ahnung, was der pubertierende, masturbierende Sohn treibt, ob er mit dem Geld, welches er ihm abgezapft hat, eine Grammatik kauft, wie er vorgab, oder es mit einer Dirne durchbringt, was nicht die schlechteste Art ist, Geld auszugeben. Balzac hat recht; es gehört zur Jugend, zwar nie Geld zu haben, aber immer welches zu verschleudern, und Mister Hemingway erinnerte sich nur eines Falles, wo einer seiner Söhne beim Besuch Geld mitbrachte, anstatt welches zu fordern. Die Überzeugung des lateinischen Vaters betraf mich allerdings nicht, weil mein Erzeuger entweder ein Lump oder tatsächlich verhindert war, uns nach Argentinien zu holen oder wohin es ihm sonst beliebte. Vaterrolle spielte mein Großvater, ein Mann von mittlerer Statur mit weichem Bauch und auswärts gestellten Füßen. Sein Haar floss in dichten Wellen nach hinten, und der Ausdruck seines Gesichtes verriet den Sybariten, den fröhlichen Esser und Trinker, aber auch einen sanguinischen Menschen, das Gegenteil seiner Frau, meiner Großmutter. Der scharfe Blick ihrer Raubvogelaugen, unter deren Blitzen er sich ängstlich duckte, ließ an ihrem einnehmenden herrischen Charakter keinen Zweifel. Wie schon gesagt, arbeitete Großvater als Uhrmacher und bisweilen auch als Juwelier, aber er war weder ein guter Uhrmacher noch ein talentierter Goldarbeiter; ihm fehlte es an Sitzfleisch. Nur kannte Großmutter seine Schwächen zu gut; mit Strenge bannte sie ihn an seinen Arbeitsplatz; gegen ihre Härte kam er nicht auf. Um ihn durch mich beaufsichtigen zu lassen, hatte sie einen hohen Stuhl neben seinen gestellt, damit ich zusehen konnte, wie er, die Lupe einklemmte, seinen dicken Kopf über das zuckende Uhrwerk beugte und mit einem spitzen Instrument darin herumwirtschaftete. In Augenhöhe kreiselten zierliche kleine Gazebecher mit jenen Uhren, die uns zur Reinigung anvertraut worden waren. Eigentlich hätten sie zerlegt werden müssen, und manchmal ließ sich dieser Aufwand auch nicht umgehen. Meist tat Großvater aber nur, was unbedingt nötig war.

Wir unterhielten uns, das heißt, er erzählte, und ich hörte ihm zu. Es gab allerdings auch Tage, an denen er ruhig längere Zeit arbeitete. Sein Eifer hielt aber nicht vor, er wurde mürrisch und stellte das Reden ein; dann behauptete er, sich nicht wohlzufühlen und verschwand einfach aus der Werkstatt, angeblich einer Besorgung wegen. War es ihm gelungen, der Aufsicht seiner Frau zu entkommen, machte er einen Streifzug durch die Restaurants der Stadt. Beginnend mit dem Ratskeller, wo seine Liedertafel einmal in der Woche übte, zog er allein oder mit einem Kumpan kreuz und quer durch Müllhaeusen. Angeheitert heimgekehrt versprühte er Lebenslust, ohne Großmutters vernichtende Blicke zur Kenntnis zu nehmen. Danach erging es ihm übel, niedergeschlagen saß er an seinem Arbeitstisch und befummelte lustlos die Uhrwerke. Seine Meinungen über das Handwerk und über die Kunden, seine Urteile über Menschen klangen nach seinen Exzessen harsch und niederträchtig. »Alles Murks«, gab er kund, »früher ist es besser gewesen, die Uhren und die Menschen.« Stand er im Begriff, seine Arbeit zu unterbrechen, schob ich ihm ein Werkzeug zu, und er griff in Gedanken danach, legte es nach einem Blick wieder weg und suchte sich selbst das passende auf seiner Werkbank. »Früher«, fuhr er fort, »war auch das Essen besser und also die Köchinnen. Ist das hier ein Leben? Da höre ich diese alte Gewitterflinte«, stieß er ergrimmt aus, »ein gieriges, ein nichtsnutziges Weib. Aber deine Mutter taugt auch nicht viel. Na, die hat ja ihre Quittung gekriegt, durch diesen sogenannten Argentinier, einen gewöhnlichen Vertreter, und zwar in Staubsaugern, haha!« Großmutter warf einen Blick in die Werkstatt, sah ihren Mann arbeiten und zog sich befriedigt zurück, nicht ohne mir freundlich zuzunicken. »Da war sie schon wieder, hast du gesehen? Eine ruhelose alte Megäre«, sagte er leise, »sie denkt, ich weiß nicht, weshalb sie dich hergesetzt hat. Deine Mutter will weg, dazu braucht sie Geld. Aber daraus wird nichts, die Alte rückt nichts raus. Ich muss mir ja auch stehlen, was ich für mich brauche.«

Wir alle hingen von seinem Fleiß ab, die Leute kamen, um ihre Uhren reparieren zu lassen, kauften aber auch den billigen Krimskrams, Vasen und Figuren, um sie in die Vitrinen zu stellen. Das Geschäft ging gut. »Es gibt sehr alte Uhren; die gehen vielleicht nicht ganz genau, aber dafür gehen sie immer, noch in hundert Jahren; man braucht sie nicht zu reparieren. Nein, man kann sie gar nicht reparieren. Dann gibt es die mittleren aus der ersten Zeit der Industrie, die gehen noch einigermaßen. Und jetzt? Alles Murks!«

Manchmal kam es zum Krach, wenn er schlechte Arbeit geliefert und ein Kunde reklamiert hatte. Dann schoss Großmutter herein, um ihn abzukanzeln, und zischte böse: »Will Er uns ruinieren? Da, wieder eine Reklamation! Hier rumsitzen und mit dem Kind schwatzen! Wenn Er so weitermacht, werden wir eines Tages betteln müssen.« Mit dem altmodischen Er sprach sie ihren Gatten an, wenn sie sehr aufgebracht war. Sie schmetterte die beanstandete Uhr mit solcher Wucht auf den Tisch, dass die herumliegenden Teile aufflogen, als hätten sie Flügel. Großvater schrie auf und griff hastig nach den herumkollernden millimetergroßen Federchen und Rädchen; er brauche eben einen Gesellen, schrie er. Ein Werkstattgehilfe war sein Traum, nicht aber der Traum seiner Lebensgefährtin. Großmutter lachte ihm ins Gesicht. Das könne ihm so passen; unbedacht schlug er mit der weichen Faust auf die Werkbank, und abermals hüpften die Teile auf. Dann weinte er still, den Kopf auf den Arm gelegt. »Nun sieh dir diesen Jammerlappen an«, sprach Großmutter geringschätzig, während er sie, sobald das Feld von ihr geräumt worden war, seinerseits beschimpfte, ihre wahre Flüche nachschickte. »Hast du gesehen? Präg es dir gut ein, dieser verdammte alte Drachen! Nimm dich vor den Weibern in acht, mein Kind. Sie taugen allesamt nichts! Aber ich werde ihr zeigen, wer hier Herr im Hause ist! Und er schwang die Faust gegen sie, die längst wieder im Laden verschwunden war.

Für mich ist das alles sehr lehrreich gewesen, ich prägte es mir ein und behielt viel von diesen häuslichen Szenen. Sie weckten meine Aufmerksamkeit für die Schwächen dieser kuriosen Spezialität der Schöpfung oder der Evolution, Mensch genannt. Vom Temperament ihrer Eltern besaß Mama das jeweils halbe Erbe. Ihr Naturell schwankte zwischen dem Herrschaftsanspruch ihrer Mutter und der Larmoyanz ihres Erzeugers. Diese drei Menschen brachten den Tag damit zu, sich zu streiten, und zwar um Kleinigkeiten. Ihren Stimmen lauschte ich ab, was im Anzuge war. Mamas Organ produzierte ein hysterisches singendes Kreischen, das mir vor allem deswegen auf die Nerven ging, weil ich immer vergeblich auf den Umschlag in ein befreiendes Geschrei wartete. Sie erstickte ihren Zorn in diesem langen Singsang, der nicht nur die anderen, sondern auch sie selbst zermürbte. Großmutters Stimme klang dagegen nur eine Spur tiefer und wurde einen Grad lauter, wenn sie sich durchsetzen wollte, während sich bei dem armen Alten ein Zittern in die Stimme schlich, falls er sich zum Kampf stellte, von dem er allerdings im Vorhinein wusste, er würde ihn verlieren. In guten Zeiten, wenn sie sich vertrugen, waren sie aufdringlich freundlich und hinterhältig, ein Herz und eine Seele, meist dann, wenn sie einen anderen, einen Kunden vielleicht, hereingelegt hatten. Das Uhrengeschäft am Markt besaß bei der Kundschaft allerdings den Ruf solider, untadeliger Arbeit bei mäßigen Preisen.

Da ich meine Zeit fast ganz zu Hause verbrachte, begann ich frühzeitig, die Stimmungen meiner drei Erzieher zu registrieren, wie ein Forscher das Freileben von Affen belauscht. Man brauchte dem Alten nur zum Mund zu reden, um ihn bei Laune zu halten. Von mir ertrug er keinen Widerspruch, so war ich ihm denn ein artiges, folgsames Kind. Mir konnte er befehlen; folgsam nickte ich ihm zu, kümmerte mich aber weiter nicht um seine Anordnung. Fragte er mich, ob ich seinen Auftrag ausgeführt habe, stellte ich mich dumm und taub, und da er zu bequem war, um der jeweiligen Sache nachzugehen, so blieb alles, wie es zuvor gewesen, und wir kamen, auch weil mir Großmutter gegen ihn immer den Nacken steifte, vortrefflich miteinander aus. Haupteigenschaft meiner Großmutter war die Neugier neben der Klatschsucht eines ihrer schlimmsten Laster. Ich aber entwickelte die Fähigkeit, sie mit allerlei erfundenen Geschichten zu unterhalten. Einmal erzählte ich ihr, dass vor der Plätterei uns gegenüber ein Auto gehalten habe. Sie hörte noch kaum hin, ein Auto hielt natürlich alle Tage vor einem Geschäft. Also spann ich den Faden weiter und sagte, ein Mann habe ein Paket in den Laden gebracht; das Auto, der Mann und sein Paket weckten endlich ihre Aufmerksamkeit; ich hatte sie dazu gebracht, zu fragen, um was es sich gehandelt haben könnte. »Es war ein langes Paket«, ich deutete die Größe des Paketes an. Dass sie mit der Plättfrau, einer dicken gutmütigen und gemütlichen Frau aus dem Volke, die für uns wusch, plättete und Gardinen aufspannte, ständig Krach um deren Preise hatte, spielte hier natürlich mit, hoffte sie doch, diesem Weib eins auszuwischen. »Es könnte auch eine Frau gewesen sein«, sprach ich wohl, denn mir war noch unklar, wie ich meine Erfindung ausbauen würde. Großmutter griff zu: »Noch einmal, du meinst, es könnte ein als Frau verkleideter Mann ein langes Paket in die Wäscherei gebracht haben? Das ist ja unglaublich! Ich habe diesem Weibstück nie getraut! Die mit ihren Schiebergeschäften, ich werde ihr das Handwerk legen! Wieso darf der Kerl ein Auto haben? Das ist verboten. Wir haben auch keins! Hätten es abgeben müssen, würden wir eins gekauft haben, diesen Volkswagen, haha,« in der Tat durfte seit Kriegsbeginn niemand ein Auto besitzen, was uns nichts anging, denn wir hatten keins, obschon der Alte versucht hatte, ihr das Geld für ein solches Fahrgerät zu entreißen. Sie versank in Nachdenken über die möglichen Verwicklungen, welche der von mir erdichtete Fall für die Plätterin nach sich ziehen könnte, eventuell und hoffentlich ihren Untergang, und es war nicht nur Bosheit, sondern mehr noch die Einförmigkeit des Lebens in der Provinz, die sie auf den Zusammenbruch der Plätterin hoffen ließ, das heißt auf deren Ärger mit der Gestapo. In diesem Falle und zu jener Zeit waren solche Verdächtigungen nicht ungefährlich für die Plätterin; Großvater diente der Kreisleitung und der Staatspolizei als Zuträger und sparte auch nicht mit Drohungen, wenn sich einer nicht an die Regeln und den Mund hielt. Wegen seiner Angeberei geriet er einmal in helle Panik, als uns eine Karte anonym ins Haus geschickt wurde, auf der ihm Vergeltung für sein Denunziantentum angedroht worden war: Wir kriegen dich schon noch, Nazischwein! Freu dich darauf! Wir hängen dich! Die von den Behörden nachlässig angestrengte Nachforschung verlief im Sande, der Absender ward nie entdeckt, und der arme Alte lebte eine Zeit lang in Sorge um sein Leben, schloss sich am Abend ein und mied dunkle nächtliche Straßen.

Diese von mir erfundene Geschichte sollte noch ein Nachspiel haben; sie schlug gewissermaßen auf mich zurück, weil Großmutter nicht den Mund halten konnte. Es war also dem Zufall und meiner Einbildungskraft zu verdanken, das Mama zu einigen Erkenntnissen über mich gelangte. Da sie immer alles Nebensächliche aufbauschte, eine Reaktion auf die Ödnis in ihrem Leben, geriet meine Erfindung um die Plätterin in einen größeren Zusammenhang, als ihr eigentlich zukam.

Der Krieg, so meinte Mama, habe verhinderte, dass sich ihr Geliebter zurückmeldete. Nun aber waren alle Fristen für die Rückkehr meines angeblichen Vaters überschritten, und Mama legte sich eine reserviertere Haltung gegenüber ihrem Verflossenen zu. Sie war reif, an mir die negativen Züge des Mannes zu entdecken, den sie plötzlich verabscheute. Dazu hatte meine Fabel über die Plätterin einiges beigetragen, die leider nicht in unseren vier Wänden verwahrt blieb, sondern öffentlich wurde. Einleitend behauptete Mama, dass ich meinem Vater immer ähnlicher werde. Der aufkommenden Hysterie in ihrer Stimme hätte ich das Weitere entnehmen müssen, aber ich war an jenem Tage vielleicht nicht bei der Sache, deshalb traf mich der Schlag unvorbereitet. »Er lügt schon wie sein Vater!« Hatte der gelogen? Sicherlich, das setzte ihn in meinen Augen nicht herab. Ich selbst log nicht nur oft, sondern fast immer, hatte also ein vernünftiges Verhältnis zur Lüge, zumal alle, die ich kannte, eifervoll schwindelten, hingegen Wahrheitsliebe heuchelten. Lügen und Leben gehörten zusammen. Da war es meiner Ansicht nach besser, sich der Lüge wie einer Waffe zu bedienen, auch wenn dies als unmoralisch galt, wovon ich zu dieser Zeit kaum eine Ahnung hatte. Meine Beziehung zur Lüge war noch ganz ursprünglich. Jedenfalls versuchte ich gar nicht erst, Mama zu widersprechen, sondern fragte nur bescheiden, wann ich denn gelogen haben sollte. Da kam es heraus. Die Plätterin drohte uns wegen übler Nachrede mit juristischen Schritten, behauptete, dass der Bengel, also ich, ein jüdischer Bastard sei. Was eine gerichtliche Verfolgung bedeutete, verstand ich zwar nicht, wohl aber, dass ich vielleicht den Anlass zu einer weiterreichenden Verwicklung gegeben hatte. Sie alle wären bestürzt über meine Schlechtigkeit, hieß es! Es sei allen unbegreiflich, weshalb ich überhaupt gelogen hatte. Es habe absolut keinen Grund gegeben, die arme Plättfrau eines Verhältnisses mit einem Zuchthäusler zu bezichtigen, mit dem sie Schwarzmarktgeschäfte mache! Wovon allerdings nie die Rede gewesen war.

»Sie ist immer gut zu dir gewesen! Rede, du Lümmel!« Wie sollte ich Mama erklären, was ich selbst nicht begriff. Offenbar hatten noch andere Leute Gefallen an dieser Geschichte gefunden und sie weiter ausgeschmückt. Menschenjagd und Verleumdung verschaffen uns hohe Genüsse, wie ich zu ahnen begann. Um diese Zeit etwa mag sich das Syndrom der Denunziation bei mir eingepflanzt haben und ich zähle somit zu den Nutznießern dieser Abscheulichkeit! Die praktische Lehre war, dass man mit solch kleinen Erfindungen etwas in Bewegung bringen konnte, was sonst in Ruhe verblieb, auf sich aufmerksam machte, und darin besteht wohl die Hauptursache für die allgemeine Lust an der Verleumdung.

Dann begann Mama damit, ihren Lebenstraum abermals umzukehren. Demnach hatte es keinen besseren Mann gegeben als den Argentinier. Vor Jahr und Tag also hatte er den Laden betreten, um etwas zu kaufen. Eine Kette. Neugierig wartete ich ab, bis Mama ihre Beichte schloss; schön, er sei vielleicht ein Lügner gewesen, trotzdem habe sie sich einen Rest Gefühl für ihn bewahrt! Und schließlich die von ihm gekaufte Ware in sein Hotel gebracht, basta! Da hustete Großmutter und fragte, ob sie glaube, ihr Kind würde diesem Unsinn etwas Nützliches entnehmen können. Sie schlug vor, mir ein paar zu langen und die Sache mit einer Entschuldigung bei der Plättfrau als erledigt zu betrachten. Während sie sich stritten, erwachte in meiner Brust ein Gefühl der Überlegenheit. Es wäre leicht gewesen, ihnen zu erklären, welche Rolle Lügen und Heuchelei in ihrem Leben spielten, hätte ich nur schon Worte dafür gehabt. Ich schwieg, um dieses Gerede nicht ins Uferlose gehen zu lassen, ließ es sogar zu, dass Mama mich an sich zog. Sie brauchte mich mehr als ich sie. Sie selber sorgte für meine Rehabilitierung. Auf dem Umweg über ihren Sohn fand sie zu dem Mann ihrer Träume zurück, der vielleicht gar nicht existiert hatte, und der auch tatsächlich ein Scheinbild in mehrfacher Hinsicht war, wie sich später herausstellen sollte. Sie wollte immer wieder neu betrogen werden, und ich stand ihr so fern, dass sie mich für einen Mann nahm, für einen umworbenen geschlechtlichen Gegenpol, obschon ich noch ein Knirps gewesen bin. »Oder war es die Fantasie, Jakob? Hast du es geträumt? Das gibt es nämlich. Man nennt es Einbildungskraft.«

Erleichtert, von ihren Vorstellungen befreit, nahm sie mich wieder auf. Die alte Frau stieß einen Seufzer aus und sagte, sie glaube gar nicht, dass ich gelogen hätte, sonst würde sich die Plätterin nicht so energisch verteidigen. »Also, merk es dir, und halte den Mund; du siehst ja, was herauskommt, wenn man schwindelt; die Menschen, alle Menschen, sind nun einmal schlecht«, sprach Großmutter. Mama weinte ausgiebig über sich, wie es hübschen, weichherzigen und leichtsinnigen Frauen mit schwachem Verstande gegeben ist.

Solche Feuchtigkeit lernte ich zu ertragen; meine späteren Erfolge bei Frauen verdanke ich meinem frühen Verständnis für die weibliche Psyche, das ich mir in früher Kindheit anerzogen habe ... »Jedenfalls habe ich Hochwürden Onkel Fabian gebeten, sich deiner anzunehmen«, schloss Mama erhaben.

Nicht ohne Erwartung sah ich seinem nächsten Besuch entgegen. Nach Mamas Entdeckung, dass ich die Lügenhaftigkeit meines Vaters geerbt hatte, war also beschlossen worden, meine Erziehung in die Hände eines stärkeren Mannes zu legen, als in die Uhrmacherhände Großvaters. Nach Meinung der Frauen würde er auf Dauer an meinen Listen scheitern und eher meinen Untugenden erliegen, als mich auf den Pfad der Tugend führen. Bislang hatte der Geistliche nur Anteil an meinen seelischen und körperlichen Leiden genommen; meine Verfassung fesselte ihn menschlich und von Amts wegen bald aber dermaßen, dass alle Voraussetzungen für ein Erziehungswerk an einem Knaben wie mir gegeben schienen. Er stand in einem entfernten Verwandtschaftsverhältnis zu uns, über sechs Ecken, wie Großmutter sich ausdrückte; er war ihr Großneffe, wiewohl es einen solchen Verwandtschaftsgrad offiziell nicht gibt. Mir sind die Verhältnisse in ihrer weitverzweigten Familie nie völlig klar geworden. Sie selbst blieb wie alle anderen Mitglieder des Hauses bei einem respektvollen distanzierenden Sie, wenn sie mit ihm sprach, wenigstens im Allgemeinen. Hatte sie sich über ihn geärgert, redete sie ihn mit dem verwandtschaftlichen Du an.

Dass ein Priester und Diakon in der Familie unser Ansehen in der Stadt mehrte, sei am Rande gesagt, wie auch festzustellen ist, dass Hochwürden das Amt eines Diakon nicht wirklich ausübte, sich also nicht mit dem aktiven Pflegedienst abgab, wohl aber andere zu solchen Diensten anleitete, das will ich wenigstens hoffen. Wie überhaupt hier schon bemerkt werden kann, dass er jede praktische Tätigkeit aus Bequemlichkeit vermied. Im Übrigen waren wir gerade um einen Hausgenossen ärmer geworden; unser Dienstmädchen, jenes vernünftige Wesen, das in Küche und Haus lautlos gewirkt hatte, und der ich Handreichungen bei meinem ersten Warmbad in dieser Welt verdankte, war gerade dienstverpflichtet worden, wie alle kinder- und ehelosen Frauen. Daraus ergaben sich Schwierigkeiten für uns; denn Großmutter und Mama wurden im Geschäft gebraucht; gebraucht ist hier vielleicht eine Übertreibung; ein neues Mädchen war jedenfalls nicht zu beschaffen. Wenn ich unseres Dienstmädchens ungerechterweise bisher nicht gedacht habe, so allein deshalb, weil ihr Wirken in eine Zeit meiner Kindheit fällt, wo nicht alle Eindrücke gleich stark sind. Andererseits musste ich sie als vernünftig bezeichnen, weil ihr in meiner Erinnerung alles leicht und ohne Lärm von der Hand ging. Gern will ich aber zugeben, dass weder Mama noch Großmutter überhaupt Anteil am Geschick eines solchen Wesens genommen haben; es ist nicht unmöglich, dass unser Küchentrampel, ein Wort Großmutters, ihre Dienstverpflichtung in unsere Eisengießerei als eine Verbesserung ihrer sozialen Stellung empfand; in diesem Betrieb wurden seit Kriegsbeginn natürlich Granaten hergestellt.

Vor nunmehr sechs Jahren hatte Hochwürden Fabian Mama und dem Argentinier das Sakrament der Ehe zu spenden gedacht, woraus nichts wurde, wie dem günstigen Leser bereits bekannt. Trotzdem interessierte sich Onkel Fabian weiter für meinen Vater, trug diesem nichts nach, bekundete sogar ein gewisses Verständnis für seinen Rückzieher. Mit Kriegsbeginn besuchte uns Hochwürden ziemlich häufig und kam zuletzt regelmäßig ins Haus, ließ sich zu Tisch bitten, und war durchaus kein störendes Element in unserem Speisezimmer, sondern ein unterhaltsamer, ausgeglichener Mensch und Lippenchrist. Besondere Strenge zeichnete ihn jedenfalls nicht aus; nachsichtig pflegte er über die Verfehlungen und Schwächen seiner Mitmenschen hinwegzusehen, und sie milde zu bestrafen, wohl wissend, dass es schlimmere Sünden gab als Lüge, Betrug und Ehebruch. Mir war er als ein freundlicher Helfer der Menschheit und im Besonderen uns Pontes wohlvertraut, im Übrigen aber fernstehend. Nun, da mir bedeutet wurde, er werde sich künftig mit meiner Erziehung befassen, ward ich entschlossen, ihn zu lieben, so weit das möglich, aber zuvor und damit zusammenhängend muss ich von einem meiner Anfälle berichten, auch deshalb, weil ich offenbar meine Hellsicht schon perfekter zu gestalten wusste ...

Zu Beginn des Mai, ich glaube, es war in der ersten Woche, traten die mir bereits vertrauten Erscheinungen auf, Übelkeit, Essunlust, in Intervallen auftretender Kopfschmerz und, als ein neues Symptom, gesteigerte Schlafsucht, will sagen, ich reagierte auf die allgemein spürbare Besorgnis in der Öffentlichkeit, es könne ein Krieg ausbrechen. Dieser Anfall muss besonders schlimm ausgefallen sein, denn Hochwürden blieb wie ein Vater über Nacht bei uns und sah stündlich nach mir. Aus den Gesprächen der Erwachsenen war zu lernen, dass sie eine neue Katastrophe herannahen sahen und hofften, mit einem weiteren Sieg glimpflich davonzukommen, wie schon zuvor. Dergestalt formte sich in meinem Kopf die Szenerie, der ich nur noch Stimme zu geben hatte. Fand mich mein Helfer wach, so stellte er seine Fragen; meine Antworten schrieb er in ein Notizbuch. Und diese Eintragungen korrespondieren mit denen Mamas; es waren tatsächlich die Tage des Mai 1940 und der Vorbereitung auf den Krieg im Westen. Infolge der Gewöhnung an Bilder fiel es mir nicht mehr schwer, die langen Kolonnen marschierender Soldaten zu beschreiben, die Schwärme von Flugzeugen, die Masse der rollenden Panzer; alle Illustrierten druckten genügend Fotos über den Krieg ab, wenn Fotoaufnahmen auch nichts Wahres enthalten und erst durch Kommentierung real werden. Immerhin ist auch heute das Vertrauen in Film und Foto ungebrochen. Ins Tagebuch schrieb Mama, dass meine Schilderungen von Mal zu Mal konkreter geworden seien; hingegen steht bei Hochwürden die Bemerkung, meine seelischen Schwingungen würden ihm mehr denn je Rätsel aufgeben. Wie auch immer; Doktor Wilhelmi wurde sicherheitshalber wieder hinzugezogen, obschon er neuerdings abfällig über meine Krankheit zu urteilen begann, was eine gewisse Entfremdung zwischen ihm und Mama nach sich zog; er bezeichnete mich einmal beiläufig als somnambulisches Gespenst, laut empörtem Eintrag in Mamas Tagebuch. Mein Arzt hatte einige Gründe sein Urteil über mich anderen und neueren Vorstellungen anzupassen; er trug jetzt eine Uniform mit dem Äskulapzeichen, und ich fühlte, dass er auf Distanz zu mir ging, soweit ein Kind solche kaum merklichen Schwankungen im Erscheinungsbild und in der aktuellen Seelenlage von Erwachsenen zu erkennen vermag.

Den Erwachsenen fiel eine Veränderung der Sprache auf, die Doktor Wilhelmi mit der militärischen Würde eines Stabsarztes, eines Rassebeauftragten und überdies konsultierenden Arztes in Puffenrode erworben hatte. Er diente an der Heimatfront, ihm unterstand das Gesundheitswesen der städtischen Verwaltung, und er hospitierte in der Nervenheilanstalt, neben seiner gewöhnlichen Hausarztpraxis; dies muss ich hier wieder aus späterer Kenntnis hersetzen, auch deshalb, weil es Folgen zeitigte.

»Was hat er denn, immer mal wieder, unser kleiner Hellseher?«, fragte er herablassend den Geistlichen, die Kompetenzen umdrehend. Der antwortete kurz angebunden. »Sie wissen ja Bescheid, es ist das Übliche.« Mama zeigte sich beeindruckt von der Uniform und dem Auftreten des Arztes; sie reichte ihm Likör und er nannte sie dafür gnädige Frau. Ruhig verschränkte Großmutter die Arme über der Brust und schwieg, wie immer, wenn sie den Lauf der Dinge abzuwarten gedachte. Endlich, etwa um die Mitte des Monats, kam, das geschaute Ereignis, und ich gesundete. Die Fliegermasse bestimmte den Verlauf der ersten Kriegsphase im Westen, der Aufmarsch durch die Ardennen, das große Luftlandemanöver, und die damit eingeleitete Umgehung der feindlichen Festungsanlagen, die Vorstöße tief in die französische Flanke und alle diese Dinge hatte mein Gehirn unklar produziert, ohne dass ich den Namen dieser Operation hätte angeben können; der Mannsteinplan also, wie es nun in den Kriegsaufzeichnungen heißt und unter dem Rubrum Sichelschnitt als Hirnleistung des Führers in die Annalen eingegangen ist. Schade, dass dies alles nicht in genau militärischen Ausdrücken festgehalten werden konnte und von mir hier nachträglich eingeflochten werden muss! Es hätte als ein wertvoller kriegsgeschichtlicher Beitrag in die Archive eingelagert werden können. Was ich indessen nicht vorausgesagt hatte, war das Bombardement unserer Stadt Freiburg. Zum ersten Mal war eine offene, tief im Hinterland gelegene deutsche Stadt von regulären feindlichen Kriegsfliegern angegriffen worden; was aber wie später erzählt wurde, eine listige Provokation gewesen sei. Die Interpretation solche Vorgänge, Prophetien und Verdrängungen, gehören zum historischen Stoffwechsel. Jedermann kann schließlich der Geschichtsschreibung entnehmen, was er für die Wahrheit hält oder was diese aktuell als wahr ausgibt, je nach Auftraggeber ...

Genug, hier hatte meine Eingebungskraft versagt. Als ich wieder auf den Beinen stand, trat Hochwürden Fabian sein Amt als mein Erzieher an, und ich glaube, er übernahm mit Freude die Vaterrolle und Frankreich ward in vierzehn Tagen niedergeworfen! Den Priester muss sich der geneigte Leser als einen Mann vorstellen, der die Vierzig überschritten hat. Sein Gesicht erinnerte an das Porträt Mann mit roter Kappe von Luca Signorelli, wenn ihr es kennt. Diese Kenntnis verschaffte mir eine Kopie des Bildes, das mein geistlicher Lehrer besaß; wer noch keine Reproduktion gesehen hat, es ist das Gesicht eines Fleischessers und Weintrinkers, ein starkes Gesicht ohne Fett, mit knolliger Nase, festen Lippen, harter Kinnpartie und bläulichen geschwollenen Lidern. Dazu stellte Fabian das lebende Abbild dar, ein Mann von der Größe und Gestalt eines Athleten. Mit geraffter Soutane eilte er leichtfüßig die Stufen seiner Kirche hinauf und hinunter, schwang sich wie ein Rennreiter in den Sattel seines Damenfahrrades, raste auf Skiern im sicheren Hüftschwung die vereisten und verschneiten Hänge unserer Berge hinunter, und verfügte über eine Menge überraschender Kenntnisse von der Welt und von der Kultur der Europäer, unter anderem besaß er eine prächtige Bibliothek verbotener Werke und wunderbar obszöner Darstellungen. Mir brachte er an jenem Tag seine erdrückende Körperlichkeit zum Bewusstsein, als er dicht an mich herantrat, den Zeigefinger unter mein Kinn legte und es zu sich erhob, bis es in meinem Nacken schmerzte. Beklommen starrte ich ihn an. Endlich ließ er mich los, trat zurück und lehnte seinen Rücken an den mächtigen Schrank im Esszimmer mit Säulen, Schnitz- und Drechselwerk, in dem Großmutter ihr Geschirr und Tafelsilber verwahrte. Ein Erker, eine Art Kanzel mit schrägen Seitenfenstern, bildete einen Raum, in dem wir uns vorzugsweise bei kleinen Mahlzeiten aufhielten. Alle wichtigen uns betreffenden Angelegenheiten wurden hier besprochen. Hochwürden setzte sich in einen Sessel, aber Fauteuil ist der passendere Ausdruck, stellte die Beine weit auseinander, sodass seine Soutane, einem Rock ähnlich, zwischen den machtvollen Schenkeln hing. Er hielt eine lange, mir nicht verständliche Rede, aber da er und ich einen weiten Weg miteinander gegangen sind, kann ich mir Tonfall und Inhalt unseres ersten ernsthaften Gesprächs recht gut vorstellen, auch ohne Mamas Notizen. Sie begleitete den Vortrag mit einem aufmerksamen und bescheiden zustimmenden Lächeln. »Jakob soll ein guter Mensch werden, ein anständiger Mensch. Fest im Glauben«, ließ sie sich vernehmen, obschon sie selbst alles andere als gläubig war.

»Versteht sich, die Frage ist, in welchem Glauben, da wir einige zur Auswahl stellen können«, sagte Hochwürden. »Nein, fürs Erste haben wir diesen Knaben Mores zu lehren und also aus einem Paradies zu vertreiben, dem Paradies unserer reinen Kindheit, was soviel bedeutet, wie dem wunderbaren herrlichen Heidentum unserer Lüste!«

Mama standen die Fragen im Gesicht, aber sie nickte und wagte es nicht, die Sache durch eigene Beiträge zu verwirren. »Wir beide, Jakob, werden uns miteinander befassen«, sagte Hochwürden freundlich zu mir, »merke wohl, Jakob, ich bin dein künftiger Confessarius, was bedeutet, dass du demnächst mein Beichtkind wirst. Was ist eine Beichte?« Diese Frage diente ihm als Brücke zur weiteren Erläuterung; man unterscheide drei Arten Sünden; die wider Gott, die Sünde wider unseren Nächsten und die Sünde wider uns selbst, wozu Trotz, Trägheit, Unmäßigkeit im Essen und Trinken gehörten, und so weiter und so fort ... »Wir alle lügen oft und gern, du in Sonderheit, wie mir deine Mama erzählt hat«, worauf ich zustimmend nickte, während er allgemeiner werdend fortfuhr: »Wir stehlen, wir eignen uns also Dinge an, die einem anderen gehören. Wir verlangen nach dem Weib unseres Nächsten«, er korrigierte seinen Missgriff, »dies wohl noch nicht, aber es kommt so schnell und so sicher wie der morgige Tag, weil dieser gemeine Trieb in unserer dämonischen Natur liegt. Wir müssen daraus den Schluss ziehen, dass Natur an sich bedenklich ist. Kurzum, mit uns ist im Großen und Ganzen nicht viel los, obschon wir uns am wohlsten fühlen, wenn gar nichts mit uns los ist, haha!«

Konnte ich diese Kasuistik schon nicht verstehen, so dachte ich, wenn es so ist, wie er sagt, so wäre die Welt entschieden merkwürdig, denn was käme schließlich bei einem solchen Leben heraus? Müssten wir nicht ewig hinter uns blicken, ob uns nicht der Zuchtmeister auf den Fersen ist? Ziehe ich hier wieder Mamas Tagebuch zurate, dann auch, um bei meiner ersten Unterweisung in geistlichen Dingen ein mir neues Gefühl der Erregung zu beschreiben. Alles in mir war gespannt, ich spürte, dass ich meiner künftigen Bestimmung einen Schritt nähergekommen war. Hochwürden machte mich mit dem Ernst des Lebens bekannt, und ich nahm die Gefahr wahr, wurde instinktiv bereit, die Summe an Gewinn und Verlust aus dem System von Verboten und Beschränkungen zu ziehen.

»Warte nur«, beschied Hochwürden, der mir vielleicht die Gedanken von der Stirn ablas. Von dem, was er noch gesagt haben mag, ist mir nur der überraschende Schluss in Erinnerung geblieben, als er fragte, ob ich das weitläufige Geflecht von Erbsünde, Beichte, den Sakramenten, dem Fegefeuer, Hölle und Himmel und der Rolle der Kirche und der Geistlichkeit darin begriffen hätte. Ehrlich bestürzt antwortete ich mit einem: Nein!

»Gut, mein Kind, ich selbst verstehe es bis heute nicht ganz«, gab er zu. Endlich wurde mir deutlich, was er von mir erwartete; keine Wunder, keine übermenschlichen Anstrengungen. Nichts anderes hatte er vor, als einen Durchschnittsmenschen aus mir zu machen, der ihnen einfach nur glauben sollte. Sie wollten mich auch nicht mehr bei einem argen Frevel gegen ihre Ordnung ertappen müssen; sie wünschten bereits vorher zu wissen, ob ich sie belügen, betrügen und bestehlen wollte. Hier habt ihr die Quintessenz jeden Glaubens, auch des Parteienglaubens, ihr Knaben! Unterwerfung heißt das Gebot! Diese Forderungen zu erfüllen, fühlte ich jedoch keine Berufung.

»Nun könntest du meinen«, fuhr er fort, »es wäre leicht, Gott zu hintergehen. Du denkst, wenn ich einfach verschweige, was ich getan habe oder vorhabe zu tun, so erledigt sich die Sache von selbst, als sei sie nicht geschehen. Soll mir erst mal einer auf die Schliche kommen.« So in etwa hatte ich in der Tat gedacht, er musste Gedanken lesen können, anders war seine Kenntnis nicht zu erklären. Ich betrachtete seine Hände, behaarte Pranken mit breiten Nägeln, die wie Metall glänzten. Anscheinend war die Lektion damit beendet, und was hätte auch noch gesagt werden können, was angedroht? Jedenfalls stand er auf und nahm das Bild meines Vaters aus dem Wechselrahmen. Er tat es ganz ungeniert, betrachtete die Vorder- und Rückseite und las laut vor: Hasta la vista! War das der Argentinier? Mamas Stimme zitterte, als sie die Frage bejahte und leise hinzufügte, er wisse doch alles, er habe ihn doch gekannt, wie ihm auch die Umstände vor Augen stünden, dank der Beichte, über die er ja schweigen müsse. In der Tat wisse er es, erwiderte Hochwürden; den Mann, den Argentinier habe er allerdings nie wirklich gesehen, erinnere sich aber noch gut daran, wie er vor der Kirche gestanden und Bräutigam und Braut erwartet habe. Leider seien nur die werten Angehörigen der Braut gekommen, und am Schluss habe der Bräutigam noch immer gefehlt; einen Schnupfen habe er sich bei der Warterei geholt, das sei alles gewesen. Erneut las er die Worte auf dem Porträt meines Erzeugers: »Hasta la vista! Auf Wiedersehen. Das klingt nicht gerade verheißungsvoll, es hört sich eher an wie Auf-nimmer-Wiedersehen«

»Er hat vielleicht Abhaltungen«, sagte Mama spitz, auf deren Gesicht rote Flecken erschienen.

»Ja, die hat er ganz gewiss. Machen Sie sich nichts vor, Maria«, sagte mein geistlicher Lehrer nachlässig lachend, »der Bursche ist auf und davon, keine Tragödie, wenn ich Ihr Kind, diesen kleinen schwarzen Teufel ansehe, aber für die Schwäche Ihres Körpers sollten Sie sich doch nach einem Mann umsehen, wohlbemerkt, nach einem Ehemann, nicht diesen Windhund von Doktor.« Energisch bestritt Mama, mehr als eine vorübergehende Neigung zu Doktor Wilhelmi empfunden zu haben, wie er als ihr Beichtvater ja wohl wisse.

»Ach, halten Sie mich nicht für dumm«, sagte er, »von Ihnen wie von allen meinen anderen lieben zarten und zärtlichen Beichttöchtern kriege ich natürlich nur das zu hören, was sie selbst für passend halten.« Heiraten hätte sie längst können, aber all und jeden wolle sie nicht, sprach Mama. »Ja, ja«, sagte er begütigend und leicht abwesend.

Für mich war damals der kurze Dialog zwischen den beiden Erwachsenen so verwirrend wie aufschlussreich, erfuhr ich doch, was wirklich unter dem Bild des Argentiniers stand. Augenblicklich hasste ich meinen Erzeuger und wendete mein Herz ganz dem Priester zu. Übrigens verschwand das Foto in der Folgezeit. »Ist er eigentlich kitzlig«, fragte Hochwürden plötzlich. »Wer«, fragte Mama befremdet zurück. »Jakob natürlich; man sagt doch, dass Kinder der Liebe kitzlig sind. Ich wollte es schon immer einmal nachprüfen.« Mama nahm die Gelegenheit wahr, sich für ihre Niederlage an ihm zu rächen. Lächelnd sagte sie, es handele sich um Dinge, die er ohne Zweifel längst ergründet habe. Die Probe an den Müttern, die Kitzelprobe sozusagen, sei ihm ja nicht verwehrt. Zustimmend griente er, murmelte etwas Lateinisches, von Mama peinlich nachgeschlagen und recherchiert, nämlich: virginem virginum, ante partum, in partu et post partum, so steht es im Tagebucheintrag. Mama aber hatte ihre Fassung wiedergewonnen, sagte sie verstünde sein Latein nicht, es enthalte aber sicher eine Kritik, und sie bat ihn dringlich, sich meiner anzunehmen und einen wahren Menschen aus mir zu machen, da nun einmal starke und geheimnisvolle Kräfte in mir am Wirken seien. »Vor der Geburt, während und danach Jungfrau der Jungfrauen ...; es riecht nicht schlecht in Ihrem Hause, meine liebe Maria, hat meine verehrte Frau Tante eventuell eine Ente in der Röhre?«

Das hatte sie in der Tat. Bei Tisch wurde Herr Fabian ein lustiger Herr, der nach einem kurzen Dankgebet zulangte, als habe er acht Tage lang gefastet, der Wein wie Wasser trank und sich auch noch wacker an das Dessert hielt, einen Pudding mit Mandeln und Rosinen, wie ihn Großmutter zuzubereiten verstand. Ich bestaunte seine Fähigkeiten und gedachte gut mit ihm auszukommen. Wer solche Portionen vertilgen konnte, musste stark sein und auch wieder der Ruhe bedürfen. Nach dem Essen raffte er seine Soutane und gab sich selbst den Befehl: »Die Pflicht ruft! Ab durch die Mitte! Bis zum Mittwoch!«

Jakob Ponte

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