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1.1 Unsere rasante Welt
ОглавлениеSeit der Erfindung der Dampfmaschine – mit dem Eintritt ins Industriezeitalter um 17701 – hat sich unsere Auffassung von Schnelligkeit und Geschwindigkeit nach und nach gewandelt. Fuhren 1830 die ersten mit Dampf betriebenen Züge nur mit etwa 20 km/h2, so wurde 1870 bereits auf einem rasch wachsenden Schienennetz mit Schnellzügen bis zu 95 km/h3 schnell gefahren. 1933 erreichte der berühmte „Fliegende Hamburger“ 160 km/h, und seit den achtziger Jahren sausen auf mehr und mehr Schnellstrecken Züge wie der ICE und der TGV mit etwa 300 km/h ihren Zielbahnhöfen entgegen, ohne dass die Fahrgäste auf den schnurgeraden, tunnelreichen Strecken viel von der Landschaft wahrnehmen können, die sie durchqueren.
Was für uns Normalität geworden ist, erweckte schon in seinen Anfängen mahnende Stimmen. So schrieb 1838 der Schriftsteller Gustav Flaubert über die nach unseren Maßstäben dahinschleichenden Züge, dass die schnelle Bewegung bei den Reisenden unfehlbar eine Gehirnkrankheit, eine besondere Art des „Delirium furiosum“ erzeugen müsse4, und er plädierte für einen Bretterzaun, um die Zuschauer vor dem Anblick der vorbeifahrenden Züge zu schützen. Auch wenn eine solche Ansicht heute naiv anmutet, so erscheint bei genauerer Betrachtung die Vorstellung, Reisegeschwindigkeiten eines modernen Flugzeugs oder Schnellzugs gingen spurlos an den Mitreisenden vorüber, mindestens ebenso merkwürdig.
Für die letzten 50 Jahre lässt sich feststellen, dass zusätzlich zum Zugverkehr mehr und mehr Menschen der westlichen Welt immer längere Zeit in immer schnelleren Autos verbringen und eine stetig wachsende Zahl von Menschen immer weitere Flugreisen unternehmen. Dabei haben wir uns zu Wesen entwickelt, die gewohnt sind, ihren Aktionsradius weit über ihre natürlichen Möglichkeiten hinaus auszudehnen. Wir sind in einer Weise mobil geworden, wie sie nicht einmal den Vögeln zu eigen ist. Dies geht einher mit einem Mangel an körperlicher Bewegung, denn der Mensch verbringt heute selbst bei seiner Fortbewegung die meiste Zeit im Sitzen. Unsere Art zu reisen ist offensichtlich höchst unnatürlich.
Doch nicht allein unsere Mobilität erzeugt eine Art Rastlosigkeit. Noch gravierender scheint die zunehmende Informationsflut durch die Veränderungen im Bereich von Kommunikation und Unterhaltung auf uns zu wirken. Nachdem das Telefon in den fünfziger und sechziger Jahren in fast alle Haushalte Einzug gehalten hatte, trat das Handy in den neunziger Jahren seinen Siegeszug an. Zwar verbindet uns ein Telefonanschluss mit der ganzen Welt, doch sind wir damit zu Hause auch jederzeit unmittelbar erreichbar. Ein Brief, den wir bekommen, gibt uns Zeit. Er lässt sich, wann immer uns danach zumute ist, beantworten, ein Telefonanruf hingegen verlangt unsere sofortige Reaktion. Ein eingeschaltetes Mobiltelefon macht uns darüber hinaus nicht nur jederzeit, sondern auch überall erreichbar, es verführt uns dazu, ständig zu antworten und zu reagieren.
Viel Unruhe kann ein Fernseher in unser Leben bringen. Seit seinen Anfängen hat sich das Programmangebot sehr verändert. Die Szenen haben sich in den letzten 60 Jahren enorm verkürzt, in neuen Fernsehproduktionen und Kinofilmen wechseln die Einstellungen ständig, sodass ein alter Film aufgrund seiner Langsamkeit in der Szenenfolge den heutigen Zuschauer oft an eine Theaterinszenierung erinnert. Hinzu kommt die in den letzten 30 Jahren ständig gestiegene Anzahl der Sender, zwischen denen man bequem vom Sessel aus mit der Fernbedienung wechseln – sich durch das Programm „zappen“ – kann. Entwicklungen wie Video und DVD erweitern das Angebot ins Unermessliche.
Computer und Internet vervollständigen das Bild. Sie haben in den letzten Jahren sowohl unser Berufsleben als auch unsere Freizeit mehr und mehr bestimmt. Die unüberschaubare Informationsfülle des Internets und die beschleunigte Kommunkation durch E-Mails tragen sehr zur Rastlosigkeit vieler Menschen bei. Da die Übermittlung einer E-Mail nur Sekunden dauert, erwartet der Absender oft sofort eine Antwort.
Auf der einen Seite bieten die beschriebenen technischen Neuerungen fantastische Möglichkeiten. Es lässt sich sehr effektiv mit ihnen arbeiten. Sie können uns bei der Lösung vieler Aufgaben helfen. Die Welt steht uns scheinbar offen, wir können reisen, im Grünen wohnen und in der Stadt arbeiten oder Konferenzen, Workshops, Konzerte an fernen Orten besuchen. Wir können uns über Veranstaltungen und Ereignisse informieren, können mit Freunden an fernen Orten Kontakt halten, uns spontan verabreden oder Neuigkeiten austauschen.
Häufig machen die genannten Erfindungen unser Leben allerdings ärmer statt reicher. Es ist eine Verarmung, die sich unbemerkt in der Fülle der Möglichkeiten ausbreiten kann, indem wir an den vielen verschiedenen Orten, die wir besuchen, gar nicht mehr wirklich ankommen oder uns durch das verführerische Angebot der Medien ablenken und zerstreuen lassen. Denn wenn wir ständig Verpflichtungen oder Vergnügungen hinterherlaufen, werden wir dem Hier und Jetzt mehr und mehr entfremdet. Es geht nicht darum, alle Erfindungen der letzten 50 Jahre zu verteufeln, nur scheint die unreflektierte Nutzung all dieser Erfindungen uns oftmals nicht zu einem erfüllten Leben zu verhelfen, sondern vor allem zu einem unruhigen Alltag beizutragen. Denn unser Lebensgefühl wird nicht allein durch äußere Dinge und Ereignisse bestimmt, sondern vielmehr von unserem Erleben. Freude, Vorfreude, Liebe, Angst, Überlastung und Stress bestimmen unser Lebensgefühl. Wie wir etwas wahrnehmen und erleben, prägt unser Leben. All die genannten Erfindungen werden erst wertvoll, wenn sie uns zu tiefer innerer Freude und zu Qualität statt Quantität in unserer Wahrnehmung führen. Stellen sie Anforderungen an einen ohnehin schon angefüllten Alltag oder verlocken sie uns zu immer mehr zerstreuenden und abwechslungsreichen Aktivitäten, so bringen sie uns nicht ein Mehr an Leben, sondern trennen uns vom Erleben – von der Tiefe des Lebens.