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Ausblick 1 Das Ziel verfehlen

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Ein Mensch, der eifrig seinen Verpflichtungen nachgeht und sich mühsam durch sein Tagesprogramm arbeitet, wird in unserer Gesellschaft oft als Vorbild angesehen. Gerade Menschen in Führungspositionen arbeiten oft sehr lange und haben einen dicht gefüllten Terminkalender. Doch worauf gründet eine solche Ansicht? Ist sie ein Zeichen für unser Verhaftetsein im Materiellen? Hat sie mit der Neigung der Naturwissenschaften zu tun, alles zu messen, um es in Zahlen auszudrücken und so den Blick von der Qualität auf die Quantität zu lenken? Spielt dabei ein religiöser Gedanke der Pflichterfüllung, des Befolgens von Geboten, eine Rolle?

Der zeitgenössische Mystiker und spirituelle Lehrer Eckhart Tolle verweist in seinem Buch „Eine neue Erde“ auf die ursprüngliche Bedeutung des Wortes „Sünde“.1 Während wir bei „Sünde“ meist an eine konkrete Verfehlung, an das Übertreten eines Gebotes, denken, hat das Wort ursprünglich eine etwas andere Bedeutung. Im Neuen Testament ist es die Übersetzung des griechischen „hamartia“, im Alten Testament geht es auf das hebräische „chat’at“ zurück. Beides bedeutet: das Ziel verfehlen.2 Wenn nach biblischem Verständnis die Menschheit nach dem Sündenfall im Zustand der Erbsünde lebt, bedeutet das demnach, dass wir das eigentliche Ziel unseres Lebens verfehlen.

Ein anderer zeitgenössische Mystiker, Willigis Jäger, Benediktinerpater und Zenmeister, zitiert in diesem Zusammenhang gern die Geschichte vom verlorenen Sohn und betont in seiner Deutung, dass wir vergessen haben, wer wir wirklich sind. Nach seinem Verständnis der genannten Geschichte, die sich sowohl in der Bibel als auch in den Lehren Buddhas findet3, verlangt der Sohn vom Vater sein Erbteil, weil er denkt, das Leben zu Hause könne doch nicht das eigentliche Leben sein, es müsse noch etwas anderes geben. Er geht in die Welt, vergisst, wer er ist, braucht sein Erbe auf und kehrt als armer Mann in die Gegend zurück, in der sein Vater wohnt. Dieser erkennt ihn, und statt ihm Vorwürfe zu machen, gibt er ihm neue Kleider und lässt ein Fest feiern, weil sein Sohn seine wahre Herkunft wiedergefunden hat.

Es ließen sich noch weitere Stimmen zitieren, die uns Ähnliches sagen. Danach ist es unsere Hauptaufgabe in diesem Leben, wieder in Verbindung mit dem Urgrund des Seins zu kommen, zu erkennen, wer wir wirklich sind. Das ist die eigentliche Bedeutung eines spirituellen Lebens. Oft wird Spiritualität hingegen als die Suche nach gewissen ungewöhnlichen Erlebnissen missverstanden. Vor diesem Hintergrund betonen spirituelle Lehrer wie Willigis Jäger, dass wir nicht Menschen sind, die spirituelle Erfahrungen machen, sondern spirituelle Wesen, die eine menschliche Erfahrung machen. Es geht also nicht darum, ein spirituelles Erlebnis zu suchen – so wie wir uns durch einen Kinobesuch, einen Konzertbesuch oder ein Naturerlebnis eine Freude und einen Genuss bereiten können –, sondern vielmehr darum, aus einem bestimmten Verständnis heraus unser Leben zu erfahren.

Mit Begriffen unserer Zeit lässt sich der tiefe Sinn des menschlichen Lebens in ähnlicher Weise beschreiben. Dies führt uns zu „Evolution“ und „Bewusstsein“. Eckhart Tolle und andere moderne Mystiker wählen eine solche Beschreibung, um Begriffe zu meiden, die durch die religiöse Tradition für viele Menschen belastet sind. Betrachten wir dazu im Folgenden die Evolution des Lebens vor allem als eine Entwicklung des Bewusstseins.

Die vielen ungeklärten Fragen rund um die Entwicklung eines Lebewesens aus der befruchteten Eizelle – etwa: Woher weiß eine Zelle, dass sie eine Gehirnzelle oder eine Muskelzelle wird? – legen die Annahme einer schöpferischen Kraft genauso nahe, wie die zahlreichen Lücken bei fossilen Funden, die dem Darwinismus als einer Entwicklungstheorie widersprechen, bei der Anpassung und zufällige Mutation die Hauptrolle spielen.4 Es gibt weitere Gründe, so etwa die relativ kurze Zeit der Evolution, die im Widerspruch zu Wahrscheinlichkeitsberechnungen steht, die verbreitete These von der Evolution als einem zufälligen Geschehen zu verwerfen.5 Wenn wir hingegen eine vitale Kraft, ein für uns unfassbares universelles Bewusstsein, dahinter sehen, so klären sich die Widersprüche, die der Darwinismus als Erklärungsmodell mit sich bringt. Wissenschaftliches Zweifeln braucht uns also von den folgenden Vorstellungen nicht abzuhalten.

Nehmen wir an, das menschliche Bewusstsein ist von derselben Natur wie das umfassende Bewusstsein, das hinter der Evolution steht. Wir können danach mit Eckhart Tolle das Aufblühen des menschlichen Bewusstseins im spirituellen Erwachen als ein Ereignis verstehen, bei dem das allumfassende Bewusstsein sich selbst im menschlichen Bewusstsein erkennt6 und sich als dieses Leben erfährt – in einem umfassenden Sinne selbstbewusst wird.

Anders ausgedrückt, wir verfehlen unser Ziel, wenn wir uns völlig in die Form verlieren. Form steht dabei im Gegensatz zum Formlosen, aus dem alle Formen entstehen. Es umfasst nicht nur die materiellen Dinge, sondern auch jeder Gedanke und jede Überzeugung ist eine Art Form. Unsere Betriebsamkeit lässt sich verstehen als das unbewusste Verlieren an die Form. Wir vergessen dabei, wer wir wirklich sind, und leben in einer Art Halbbewusstsein: Wir sind uns unserer wahren Natur nicht bewusst. Es ist wie eine Art Schlaf. So wird in diesem Zusammenhang von einem Erwachen gesprochen. Es gibt die Möglichkeit, aus einem Halbbewusstsein in ein umfassenderes Bewusstsein zu erwachen. Innehalten, in einem umfassenden, tiefen Sinne verstanden, hat mit diesem Prozess zu tun.

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