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Verweile doch! du bist so schön!

Goethe, Faust I, Studierzimmer

Einleitung

Goethe hat im „Faust“ einen wahren Kosmos aus scheinbar historischen, fantastischen und mythologischen Szenen erschaffen. Das Werk sprengt den gewohnten Rahmen eines Schauspiels und erscheint genauso maßlos wie seine Hauptfigur Faust, ein Mensch, der verzweifelt mit den uralten Menschheitsfragen ringt.

Ihn treibt die Gärung in die Ferne… Und alle Näh und alle Ferne Befriedigt nicht die tiefbewegte Brust. 1

Da ihm seine wissenschaftlichen Forschungen die Antworten schuldig bleiben, hat er sich „der Magie ergeben“:

Daß ich erkenne, was die Welt Im Innersten zusammenhält. 2

In seiner Verzweiflung schließt er einen Pakt mit Mephisto, dem großen Verneiner – dem Teufel: Ihm verschreibt sich Faust für den Fall, dass es Mephisto gelingt, Faust einen einzigen Moment der vollkommenen Erfüllung und des uneingeschränkten Ja zum gegenwärtigen Augenblick erleben zu lassen:

Werd ich zum Augenblicke sagen: Verweile doch! du bist so schön! Dann magst du mich in Fesseln schlagen, Dann will ich gern zugrunde gehn! 3

Zweifelsohne hat Faust die Magie des gegenwärtigen Augenblicks übersehen, sonst hätte er sich nicht zu dieser verzweifelten Wette hinreißen lassen. Wie wir später sehen werden, verhindert gerade das Faust’sche Vorwärtstreben, die Tiefe des Lebens zu erleben und dadurch Antworten auf die uralten Menschheitsfragen zu erhalten. Faust ist der Archetyp des leidenschaftlichen Wahrheitssuchers, dem Freude und Erfüllung eben gerade durch sein rastloses Suchen verwehrt bleiben. Darin gleicht er dem heutigen Menschen, den technischer Fortschritt – verbunden mit einer unüberschaubaren Fülle von Möglichkeiten für das Leben des Einzelnen – und Erlebnishunger zu einem unruhig Suchenden machen.

Faust glaubt nicht daran, jemals einen Augenblick zu erleben, der ihn sagen lässt: „Verweile doch! du bist so schön!“ Seine vorwärtsdrängende Ungeduld und die zahllosen Enttäuschungen seiner Suche haben ihn am Wert eines Lebens zweifeln lassen, das nur aus Momenten, denen jede Erfüllung fehlt, zusammengesetzt zu sein scheint. Wenn wir jedoch wissen und erlebt haben, wie bedeutsam das Gewahrwerden des gegenwärtigen Augenblicks in unserem Leben ist, so bekommt das „Verweile doch! du bist so schön!“ einen anderen Klang. Es kann uns ein Weckruf sein und ein Wegweiser zum Innehalten. Denn so wie die Stille, besitzt das Innehalten eine gewisse Qualität und eine Tiefe, die wir leicht übersehen. Es ist viel mehr als nur das Unterbrechen einer Handlung oder eines Gedankenstroms und scheint mit der Stille verwandt zu sein, von der die Mystiker sprechen. Geradeso wie die Abwesenheit inneren und äußeren Lärms – d.h. das Schweigen sowohl der Außenwelt als auch der Gedanken – eine eigene Qualität besitzt, die wir Stille nennen und die mehr ist, als nur die Abwesenheit von etwas, kann uns das Innehalten in einen anderen Zustand versetzen. Ein Vorhang öffnet sich und der Blick in die Tiefe wird frei. Wir merken dies an einem völlig anderen Lebensgefühl, das in uns erwacht. Wir erleben uns, aber auch die Dinge um uns herum als lebendig und betrachten solche Augenblicke als besonders kostbar.

Manche Menschen halten auf Wanderungen plötzlich inne, wenn sie staunend die Landschaft betrachten, oder erleben im Urlaub, wie fremde Kulturen und Naturschauspiele sie in ihren Bann ziehen. Diese Augenblicke prägen sich ein, sie sind ungewöhnlich und scheinen völlig verschieden von unserem Alltag zu sein. Die Frage ist: Sind es die Landschaften an sich, die wir genießen, oder erwecken sie etwas, das in uns schlummert und plötzlich zum Leben erwacht – eine besondere Qualität des Seins?

In der Mystik und im Zen sowie bei anderen spirituellen Übungswegen aller Zeiten und Kulturen geht es darum, aus einem schlafwandlerischen Traum vom Leben zu erwachen und zu erkennen, wer wir wirklich sind. Diese Suche nach unserem Wesenskern ist in der mittelalterlichen Mystik die Suche nach Gott. Der Ansatzpunkt hierfür ist immer der gegenwärtige Moment – das Sein und die Stille. Er allein gewährt uns Zutritt zu den Tiefen unseres Daseins.

Kehren wir zum staunenden Wanderer und der Frage zurück, was in den besonderen Momenten des Naturerlebens mit uns geschieht. Es scheint, als führten uns fremde Landschaften und beeindruckende Naturschauspiele zu einem Innehalten, das uns neben der intensiveren Wahrnehmung der Außenwelt auch unserem Wesenskern näherbringt. Tun und Denken treten in den Hintergrund und machen den Weg frei für ein tiefes Schauen, das an die Beschreibungen der Mystiker erinnert. Solche äußeren Eindrücke, so prachtvoll sie auch sein können, wären dann doch nicht mehr als ein Mittel, uns einen Blick in die Tiefe unseres eigenen Wesens zu erlauben. Wenn dem so wäre, sollte es möglich sein, in unserem Alltag mehr solcher Momente zu erleben, in denen wir innehalten und durch eine innere Loslösung von unserer Geschäftigkeit die Tiefe des eigenen Lebens erfahren.

So wie das Innehalten uns das Leben in seiner ganzen Fülle und Tiefe entdecken lässt, so werden wir im Verlauf des vorliegenden Buches das Innehalten selbst als einen vielleicht unerwartet tiefen und reichhaltigen Prozess verstehen lernen. Indem es uns mit unserem Wesenskern und dem Beobachter – der Achtsamkeit in uns – in Kontakt bringt, eröffnet sich eine Fülle von Möglichkeiten für grundlegende Entwicklungsschritte. Mit wachsender Wachheit und Aufmerksamkeit werden weite Bereiche unseres Lebens, die bisher von Gewohnheiten und Mustern geprägt sind, für uns zu Experimentierfeldern für formbare innere und äußere Entfaltungsprozesse.

• Statt uns als Opfer eines äußeren Geschehens zu sehen, auf das wir keinen Einfluss haben, können wir lernen, wenn nicht ein solches Geschehen, so doch unsere Reaktion darauf in gewünschter Weise zu verändern. Dadurch verändert sich die Situation selbst grundlegend.

• Denkmuster verlieren ihre Herrschaft über uns, wenn wir sie wahrzunehmen lernen.

• Die Wahrnehmung durch unsere Sinne lässt sich zu einer offenen Wahrnehmung erweitern, die uns unsere Umgebung in ungeahnter Tiefe und Vielfalt erscheinen lässt.

• Wahre Kreativität entsteht aus einem Geschehen, das „Einfall“ genannt wird. Dabei spielen Stille und Innehalten eine wichtige Rolle.

• Eine natürliche Koordination, verbunden mit Leichtigkeit und müheloser Aufrichtung, wie wir sie beim kleinen Kind finden, lässt sich durch Innehalten und eine bewusste Ausrichtung wiedergewinnen.

• Mit der Tiefe des Lebens entdecken wir eine stille, tiefe Freude, die uns belebt, trägt und verwandelt.

Das Innehalten hat noch weitere ungeahnte Facetten. Wenn wir ein Musikinstrument spielen und uns ohne Wollen und Anstrengung ganz dem Fluss der Musik überlassen, so scheint es, als geschehe alles von allein. Ein ähnliches Phänomen gibt es im Sport – es wird „Flow“ genannt. Wenn solch ein Geschehen durch Innehalten befördert werden kann, so erscheint das Innehalten in einem neuen Licht: nicht als Verlangsamen und Stoppen der Aktivität, der man gerade nachgeht, sondern als eine Art Grundeinstellung, die besondere Leistungen möglich macht.

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