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Vorwort

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Weil du sie* offen hast, glaubst du, du siehst.

[*die Augen]

Goethe, Egmont, 2. Aufzug, Egmonts Wohnung

Erleben wir das Leben mit all unseren Sinnen und spüren wir seine vitale Kraft in uns? Oder beschränken wir uns darauf, stets von Neuem ein Tagesprogramm zu organisieren und zu absolvieren? Lange können solche Fragen tief in unserem Inneren verborgen sein, bis sie plötzlich den Weg an die Oberfläche unseres Bewusstseins finden. Vielleicht geschieht dies beim Blick in die Augen eines kleinen Kindes, in denen sich das Leben in seiner ursprünglichen, unmaskierten Form zeigt, oder in einer stillen Stunde am Meer, die uns die Tiefe und Weite des menschlichen Daseins spiegelt. Es sind entscheidende Fragen, die da auftauchen. Sie mögen uns manchmal betrübt werden lassen. Doch das ist kein Grund, ihnen auszuweichen, denn sie können uns zu bedeutenden Entdeckungen führen. Davon handelt das vorliegende Buch.

Die meisten Menschen der westlichen Welt sind von Stress geplagt. Sie erledigen eine Aufgabe nach der anderen und hoffen, irgendwann mehr Ruhe zu finden. Viele leben in dem Gefühl, dass sie auf dem falschen Weg sind und ihre wahre Bestimmung noch nicht gefunden haben, doch ihre Betriebsamkeit schiebt das Gefühl in den Hintergrund. Auch auf globaler Ebene sieht es nicht viel anders aus. Drängende Umweltprobleme und ein krankendes Wirtschaftssystem verlangen nach grundlegenden Veränderungen, während die Verantwortlichen von einem Termin zum nächsten hetzen, um den Status quo wenigstens einigermaßen zu bewahren, Krisen so gut es geht zu managen und einen Kollaps zu verhindern. Kann Innehalten ein Schlüssel sein, um ein Tor zu neuen Wegen zu öffnen, und lässt sich damit ein umfassender Veränderungsprozess anstoßen?

Das Innehalten hat viele Facetten. Es erlaubt eine Bestandsaufnahme und eine Neuorientierung. Wie Einstein sagt, kann man Probleme nicht mit derselben Denkweise lösen, durch die sie entstanden sind. Gerade dann, wenn sich drängende Fragen und Aufgaben immer höher vor uns auftürmen und uns anscheinend keine Zeit zum Verweilen lassen, kann ein radikal neues Handeln erforderlich sein. Denn selbst Probleme, die schnelles Handeln verlangen, erscheinen in einem anderen Licht, wenn wir innehalten. So eröffnen sich Wege zu einer Lösung auf einer anderen Ebene, denn unser Denken und Handeln bekommt durch das Innehalten eine neue Qualität. Doch Innehalten bewirkt noch viel mehr.

Wahrhaft tief greifende Veränderungen beginnen im einzelnen Menschen – in uns selbst. Wir können vor allem auf unser eigenes Leben einwirken. Dabei spielt Innehalten eine entscheidende Rolle. Es verändert unser Lebensgefühl in grundsätzlicher Weise. Statt uns immer nur im Außen zu orientieren und dabei ans Außen zu verlieren, können wir durch eine gewisse Art von Innehalten die Verbindung zur Essenz unseres Lebens tief in uns entdecken. Es ist der Schatz, den jeder in sich trägt. Doch viele Menschen haben sich so weit von der Quelle des Lebens entfernt, dass sie die Erinnerung daran verloren zu haben scheinen.

Rastlosigkeit sowie das Gefühl, keine Zeit zu haben, haben sich zu den Grundpfeilern unseres Lebensgefühls entwickelt. So entsteht der Eindruck, wie ein Hamster im Laufrad zu leben. Die Außenwelt stürmt immer mächtiger auf uns ein: Erwartungen und Anforderungen nehmen zu, die Sinne werden mit immer schrilleren, hektischeren Bildern und Klängen überflutet, und Aufgaben sollen effizienter und in kürzerer Zeit erledigt werden. All das verlangt immer schnellere Reaktionen und Antworten. Schnelligkeit wird dabei zu einem hohen Ziel und zu einer bewunderten Tugend. Selbst die Kinder in der Schule erleben mehr und mehr Leistungsdruck: Mehr Unterricht pro Tag und neuerdings in vielen Bundesländern ein Schuljahr weniger, bei einem kaum veränderten Übermaß an Lernstoff. Dahinter steht der Gedanke des Wettbewerbs, der die meisten Menschen zu zwingen scheint, in einem zunehmenden Tempo zu leben. Doch da Lebensqualität, wirklicher Fortschritt und innere Entwicklung dabei zu kurz kommen, haben viele das Gefühl, sich nur immer schneller im Kreis zu drehen, statt erfüllt zu leben und sich zu entfalten.

Ein Leben in der oben beschriebenen Weise „schreit“ nach mehr Innehalten. Wer dies wahrnimmt, dem stellen sich folgende Fragen:

• Wie kann ich den genannten Zwängen entgehen?

• Wenn sich aber an den äußeren Umständen nichts ändern lässt, kann dann bereits eine Veränderung meiner Reaktionsweise die Situation für mich ändern?

Stellen wir uns ein Leben mit mehr Zeit und Ruhe vor, so fragen wir uns vielleicht:

• Machen Betriebsamkeit und Geschwindigkeit das Leben nicht auch interessant und entsteht ohne sie nicht gar Langeweile oder Stillstand?

• Wie kann sich ein Mensch durch Innehalten entwickeln und entfalten?

Schauen wir etwas tiefer, so stoßen wir auf uralte Fragen der Menschheit, die uns zur Mystik und zum Zen führen:

• Wenn wir innehalten und still werden, erleben viele das wie ein Aufwachen. Was ist dieses Erwachen und wohin führt es uns?

• Was liegt hinter der Unruhe und dem Lärm in unserem Inneren?

Um diese Fragen zu beantworten, betrachten wir nach der Einleitung zunächst die rastlose Welt um uns herum und ihre Entsprechung in unserem Inneren: die Unruhe in uns. Danach untersuchen wir das Phänomen „Innehalten“, um daraufhin verschiedene Wege zum Innehalten zu erkunden.

Finden wir Geschmack am Innehalten und weckt ein weitergehendes Interesse an dem Phänomen unseren Forschergeist, so können wir es an unvermuteten Stellen entdecken, nämlich beim Sport oder beim Musizieren. Es nimmt dort die Form eines Geheimnisses an, das nur wenige zu kennen scheinen. Um dieses Geheimnis weiter zu ergründen, loten wir seine Tiefe durch eine Folge von sechs aufeinander aufbauenden Stufen des Innehaltens aus. Anschließend wenden wir uns der Alexander-Technik zu, einem Übungsweg, bei dem das Innehalten die zentrale Rolle spielt. Weitere Klärung bringt ein kurzer Ausflug in den Voice Dialogue, eine Methode, die unsere Verhaltens- und Denkmuster mithilfe innerer Stimmen beschreibt. In dieser Weise kann unser Verständnis wachsen, und dabei zeigt sich uns das ganze Potenzial des zunächst unscheinbar wirkenden Innehaltens. Es erweist sich als unentbehrliches Werkzeug zur Veränderung gewohnter Muster und lässt das eigene Leben zu einem wahren Erleben werden.

Innehalten

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