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2. Predigt und Homiletik

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Luthers christozentrisch-soteriologische Zuspitzung der Predigtaufgabe – nihil nisi Christus praedicandus (»nichts anderes als Christus ist zu predigen«)21 – grenzt sich einerseits scharf ab, sowohl gegenüber dem Fabulieren mit Heiligenlegenden und ähnlichen Geschichten, als auch gegenüber einem völligen Verzicht auf die Predigt im Gottesdienst.22 Sie berücksichtigt andererseits auch Erfahrungen der Hörenden, die aber mit den grundlegenden biblischen Beispielen23 und der neuen Sprache des Evangeliums, die Wirklichkeit neu schafft, aufgegriffen, konfrontiert und verändert werden, so dass es zur »Christusresonanz«24 kommen kann. Dies entspricht Luthers Worttheologie mit seiner Betonung der Relationalität und des Anrede- und Handlungscharakters.25 Predigende und Hörende werden insgesamt in ein aktives Verhältnis zueinander gesetzt, das als »wechselseitiges Verhältnis der Freiheit«26 zu verstehen ist.

Homiletisch grundlegend ist die Unterscheidung von Christus als Gabe und Geschenk sowie als Vorbild:

»Darum sieh nur recht darauf: Christus als Gabe nährt deinen Glauben und macht dich zum Christen. Aber Christus als Vorbild übt dich in Werken. Die machen dich nicht zum Christen, sondern sie gehen von dir aus als einem, der schon zuvor zum Christen gemacht ist.«27

Die elementare Rede von Christus als Gabe und Vorbild, als sacramentum / Geheimnis und exemplum / Beispiel,28 läuft auch hier auf eine systematische Unterscheidung, nicht auf eine Trennung hinaus. Inwiefern sie die evangelische Predigtpraxis seit der Reformation tatsächlich umfassend geprägt hat, ist schon aufgrund der Quellenlage kaum genau festzustellen.

Predigtgeschichtliche Studien zur gegenwärtigen Christuspredigt liegen derzeit nicht vor. Nicht-repräsentative Stichproben zu neueren Predigten über Wunder, Gleichnisse und die Lehre Jesu zeigen, dass gerade hier vielfach Kenntnisse über die sozialgeschichtlichen Bedingungen zur Zeit Jesu und insgesamt über den historischen Jesus verwendet werden und eine veranschaulichende und konkretisierende Funktion haben. Der Mensch Jesus wird greifbar, seine Zuwendung zu den Ausgestoßenen, sein Gegenüber zu den Mächtigen, auch seine Passion. Die Verbundenheit Jesu mit dem Judentum wird sichtbar, aber auch seine Konflikte mit den Herrschenden.

Es ist naheliegend, dass in der Predigtpraxis – wie in den Unterrichtsentwürfen – die exegetische und theologische Betonung des historischen Jesus samt den Einsichten des third quest for the historical Jesus29 prägend wurden – zumindest bei den Pfarrerinnen und Pfarrern, die seit den 1980er- und 1990er-Jahren studiert oder sich intensiv fortgebildet haben. Hinzu kommt eine vermutlich verbreitete Unsicherheit von Predigenden und Unterrichtenden hinsichtlich der Soteriologie, die nach den inner- und außertheologischen Debatten um Opfer und Sühnetod, im Vergleich zu den differenzierten soteriologischen Traditionen30 meist popularisierend und verengt geführt, kaum eine die Praxis prägende Kraft entfaltet, falls sie nicht von vielen ohnehin bereits verabschiedet worden ist.31

Durch die derzeitige, durchaus plurale Wiederentdeckung der theologisch zentralen Bedeutung der Auferstehung32 wird klarer, dass sie auch für die Deutung des Todes Jesu als Heilstod grundlegend bleibt und als Gottes Deutung dieses Todes zu denken ist,33 von der sich alle anderen theologischen, metaphorischen oder symbolischen Deutungen als nachrangig abheben. Eine Ostertheologie, die nicht nur theologia crucis / Theologie des Kreuzes und theologia gloriae / Theologie der Herrlichkeit integriert,34 sondern auch die Einsichten des third quest berücksichtigt, kann die Grundlage bilden für eine künftig stärker ausgearbeitete konkrete Christologie in den Predigten,35 die zu erwarten und zu erhoffen ist.

Auch wenn die Konzentration auf den historischen Jesus einerseits und auf den erinnerten und geglaubten Christus andererseits nicht bruchlos mit den Predigten über Texte aus den synoptischen Evangelien einerseits und den Episteln andererseits einhergeht, ist diese Koinzidenz trotz der Christologie der Synoptiker vielfach vorhanden. Auch daher ist bei den derzeitigen Bemühungen um die Revision der Perikopenordnung die Zielrichtung einer stärkeren Durchmischung der Predigttextreihen mehr als wünschenswert.36

Die gegenwärtige Predigttheorie hat bei ihrer Verarbeitung rhetorischer, psychologischer, sprachtheoretischer, medialer und dramaturgischer Einsichten die theologische Kategorie des Christus praedicandus / verkündigten Christus als Kommunikation des Evangeliums zur Geltung zu bringen. Dabei teilt sie mit den anderen theologischen Disziplinen die Einsicht in den Wortcharakter der Offenbarung37 und kann vor allem durch Exegese und Hermeneutik die »Sache der Texte« neu wahrnehmen38 und zu einer Predigt anleiten, die christologisch etwas zu verstehen und zu begreifen gibt: das Christusereignis in seiner personalen und inhaltlichen Ausrichtung als zentrale Deutungskategorie des christlichen Gottes-, Selbst- und Weltverständnisses – oder in religiöser Sprache formuliert: Christus als Gabe und Vorbild.

Im Licht des munus propheticum / prophetischen Amtes als der prophetischen Gegenwart Christi mit den Seinen39 erscheint die Verkündigungsaufgabe als theologisch anspruchsvoll und menschlich riskant: »Prophetische Rede in der Nachfolge Jesu Christi ist in erster Linie Gott dienende Rede, die Gott selbst zur Sprache und zur Wirkung kommen lassen will […]. Sie ist deshalb auf selbstkritische Prüfung angewiesen«40 und in der Regel mit Anfechtung verbunden. Die Konflikthaftigkeit zwischen Erwartungen individuell tröstlicher Erbauung und gesellschaftlichen Einsprüchen, zwischen spiritueller Erhebung und widersprechender Reich-Gottes-Nachfolge, zwischen liturgisch-kultischer Ästhetik und politischer Predigt sind nicht in einer Synthese des priesterlichen und des prophetischen Amtes einfach aufzuheben, sondern als bleibend kritisches Nebeneinander notwendig. Homiletisch naheliegender als die leicht abstrakt oder ideologisch wirkenden Forderungen nach prophetischer Predigt ist die Aufgabe, als Ausleger der Propheten zu predigen, wozu es immerhin wieder zu entdeckende Vorbilder gibt.41

Mit der prophetischen Gegenwart Christi ist auch der umfassende Öffentlichkeitscharakter des Evangeliums verbunden, der in der Predigt wie in der diakonischen Praxis nicht nur die konkrete Öffentlichkeit, sondern ebenso als »intendierte Öffentlichkeit« die Gesellschaft und die »kategoriale Öffentlichkeit« coram deo / vor Gott mit einbezieht.42

Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens

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