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4. Ein Integrationsversuch: Theologische Textinterpretation in biblischer Vielfalt

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Lassen sich die Stärken der genannten Hermeneutiken integrieren? Ich versuche es in theologischer Hinsicht, nehme dabei Gewichtungen vor und rekurriere nicht selten auf Paul Ricoeur, weil in seinen Reflexionen zur Hermeneutik ein Integrationspotenzial vorliegt, das nach meiner Einsicht in Exegese und Theologie noch längst nicht ausgeschöpft ist.35

Als Zwischenbilanz ist festzuhalten: Die existentiale Hermeneutik, die Interpretationshermeneutik und die vielfältigen engagierten Lektüreformen beinhalten auch die Aspekte des hermeneutischen Vierecks,36 also des Textes oder Werks, des Autors, der Rezipienten und der Sache, wobei hier eine autorenzentrierte Auslegung, weitgehend dem Charakter der biblischen Schriften entsprechend, nicht im Vordergrund steht. Die Sache des Textes ist zentral und dominant für die existentiale Hermeneutik, der Text ist es für die Interpretationshermeneutik, die Rezipienten sind es für die Lektüreformen. Gleichzeitig sind damit verschiedene Funktionen verbunden: Die Dimension »Sache« zielt auf die theologische und anthropologische Grundfrage,37 die Dimension »Text« auf die Notwendigkeit von Kritik und methodisch kontrollierter Interpretation, die Dimension »Rezipienten« auf Gebrauch und Applikation in unterschiedlichen, nicht-einheitlichen Kontexten.

Meine These ist, dass eine verantwortliche Bibelauslegung alle drei Funktionen benötigt: die theologisch-anthropologische, die kritisch-methodische sowie die kontextuell-applikative. Würde eine fehlen, wäre dies hermeneutisch und phänomenologisch defizitär.38 Wie können sie verbunden und aufeinander bezogen werden?

Die kritisch-methodische Funktion der Exegese ist Grundlage wie Handwerk. Hier geht es einmal, wie bereits erwähnt, darum, Anwalt des Textes zu sein, den Text zur Sprache zu bringen, auch in der Vielfalt und Polyvalenz seiner Aussagen, Metaphern, Bildern, Argumentationen und Formen und in seiner Sperrigkeit und Fremdheit. Die Exegese hat sich immer dann als vital erwiesen, wenn sie Methoden nicht dogmatisiert, sondern Neues aufnimmt und integriert; das war bei der alten Formgeschichte und der neueren Sozialgeschichte, bei der alten Redaktionsgeschichte und der neuen Redaktionskritik so, und dies zeichnet, wenn ich recht sehe, auch die gegenwärtig tätige Zunft aus. Alte Einseitigkeiten und Festlegungen auf die eine diachrone oder synchrone Fragestellung gibt es heute nicht mehr39 oder würden als unseriös gelten. Demgegenüber führen neue methodische und theoretische Impulse immer wieder zu innovativen Zugängen und Interpretationen.40

Dieses Interpretationshandwerk ist für die kirchliche Lehre und Predigt, aber ebenso für die Verständigung in interreligiösen und säkularen Kontexten notwendig. Hier wird christliche Religion samt ihrer begründenden Urkunde gezeigt und interpretiert in einer auch für Agnostiker und Atheisten verständlichen Weise. Eine hermeneutica sacra kann es für Verstehen und Auslegen der Bibel nicht geben.

Paul Ricoeur hat in seinen Beiträgen zur Hermeneutik gezeigt, dass ein Text nicht eine innere Wahrheit enthält, die hinter dem Text liegt, sondern dass ein Text als Text und vor sich eine Welt entwirft,41 z. B. die erzählte Welt, die auch in ihrer Fremdheit zu begehen und vielleicht zu bewohnen ist. Dabei braucht die Textinterpretation nicht nur Vertrauen in die Tradition (Gadamer), sondern auch Ideologiekritik (Habermas),42 weil sich trotz aller geschichtlich vorgegebenen Sinntradition der Sinn eines Textes und das Verstehen überhaupt nicht immer von selbst versteht und weil es notwendig sein kann, Sachkritik zu üben und – im Streit der Interpretationen – Traditionen zu durchbrechen.

Die schon genannte Vielfalt der Formen systematisiert Ricoeur in narrative, prophetische, vorschreibende, weisheitliche und hymnische Formen und Diskurse;43 sie bilden eine »biblische Polyphonie«,44 die theologisch bedeutsame Unterschiede in der Gottesrelation und -rede zeigt, weil »Struktur und Kerygma einander in jeder Form des Gesagten angeglichen sind«45: Gott wird zuerst genannt als Moment des narrativen Bekenntnisses, also als ein »Er« in der dritten Person;46 in der prophetischen Rede ist Gott als Stimme des Anderen hinter der prophetischen Stimme genannt, also in der »doppelten ersten Person«;47 in der präskriptiven Rede ist Gott als Urheber des Imperativs, das auf ein menschliches »Du« zielt, genannt;48 in der weisheitlichen Rede ist, häufig in Nähe zum narrativen »Er«, die Nennung Gottes wenig personalistisch, sondern sie stellt sich seiner Unbegreiflichkeit und Verborgenheit; in hymnischen Rede »verinnerlicht sich das Verhältnis zu Gott«49 und er wird ein »Du« für das menschliche »Du«.

In der Reflexion dieser biblischen Diskurse, die noch stärker und intensiver auf ihre Interferenzen untersucht werden können und zu denen auch noch die »Grenzausdrücke« (z. B. Paradox, Hyperbel, Überzogenheit, unnennbarer Gottesname) gehören, die eine Gottesrede via eminentiae öffnen,50 so zeigt sich eine überzeugende Möglichkeit, nicht nur Textinterpretation, sondern theologische Textinterpretation im Kontext biblischer Vielfalt zu betreiben.51

Ricoeur erkennt in der Textinterpretation außerdem eine notwendige Distanzierung gegenüber vorschnellen Hoffnungen auf Horizontverschmelzungen.52 Texterklärungen können distanzieren, aber sie schützen dadurch auch vor Vereinnahmungen und sie halten die semiotische Einsicht aufrecht, dass das Zeichen nicht einfach das Bezeichnete abbildet und dass die Referenzrelation – stärker im Text als in der Rede – unterbrochen sein kann. Für die neutestamentliche Hermeneutik hat daher Hans Weder die treffende Metapher vom Text als dem »fremden Gast« geprägt,53 den auch Predigende in ihrer Vorbereitung als Gegenüber willkommen heißen sollen. In dieser Weise gewinnt die kritischmethodische Funktion der Exegese eine notwendige und konstruktive Ausprägung.

Auch die kontextuell-applikative Funktion gehört notwendig zum Bibelgebrauch. Manch »wilde Exegese« – sei es Karl Barths »Römerbrief« oder die »Bauern von Solentiname« oder eine Bibliodrama-Erfahrung – scheint den Ansprüchen der Bibel angemessener zu sein als eine Exegese, die sich in Viertelversteilungen, in Wortstatistiken oder Strukturanalysen verliert. Der Grund hierfür liegt allerdings in der Verbindung mit der ersten, der theologisch-anthropologischen Funktion. Diese ist nicht autoritär oder offenbarungstheologisch-positivistisch, sondern existential-hermeneutisch zu denken. Die basale Einsicht, dass ein Verstehen immer ein Selbstverstehen ist, führte Gadamer zu der Einsicht, dass auch die applicatio – wie die explicatio – ein Bestandteil des Verstehens ist;54 und Ricoeur verdeutlicht in dem Begriff der »Aneignung«, dass Textinterpretation sich in der Selbstinterpretation eines Subjekts vollendet, das sich »von da an besser versteht, anders versteht oder überhaupt erst zu verstehen beginnt«.55 Oder im biblisch-hermeneutischen Kontext formuliert: »Die unendliche Bewegung der Interpretation beginnt und endet im Wagnis einer Antwort, die kein Kommentar hervorbringt noch ausschöpft.«56 Es geht darum, nicht in der »Schwebe des Textes«57 zu bleiben, sondern seine Offenheit auf etwas anderes hin diskursiv wiederaufzunehmen und anzueignen. In diesem Sinn ist die »Sache des Textes« für Ricoeur die zentrale hermeneutische Herausforderung;58 sie stellt nicht einen mysteriösen Inhalt oder ein metaphysisches Raunen dar, sondern den Text und seine Welten, allerdings in einer theologischen Textinterpretation, die offen ist für das »Woraufhin«59 religiöser Texte und die die Gottesrede in biblischer Polyphonie nachzeichnet.

In seinen späten Veröffentlichungen öffnet Ricoeur das Subjekt der Interpretation zu Fragen der Ethik und des zum Handeln fähigen und befähigten Menschen. »Da wir historische Wesen sind, sind wir auch Erben grundlegender Versprechen und folglich von Hoffnungen, als deren Gedächtnis sich die Hermeneutik des Selbst versteht. Ricoeur gibt uns auf diese Weise zu erkennen: Wenn eine Hermeneutik ohne Ethik leer bleibt, so ist eine Ethik ohne Hermeneutik blind.«60 Diese programmatische Formulierung Jean Grondins lässt sich durchaus auf Forderungen und Einsichten der engagierten Lektüreformen beziehen: Da wir Christen und die Kirche Erben grundlegender Verheißungen und Hoffnungen sind, als deren Gedächtnis die zu lesende und auszulegende Bibel zu verstehen ist, bleibt Bibelauslegung ohne applicatio eine halbe Sache. Dabei sind unter applicatio nicht nur Rufe zur Entscheidung, ethische Appelle und Handlungsanweisungen zu verstehen, sondern auch Antworten auf die Fraglichkeit und Brüchigkeit menschlicher Existenz und verändernde Sichtweisen auf Wirklichkeiten des Lebens und Glaubens.61

Die grundlegende theologische Funktion heißt hermeneutisch weitergeführt: Die Christen und die Kirche gebrauchen die Bibel in der Hoffnung, dass sich hier Gott erschließt und in, mit und unter diesen Worten, Geschichten und Redeformen in einen Dialog mit der Welt tritt. Dieser Dialog ist heute jedoch nicht so nachzuzeichnen, dass nach dem einfachen Modell von »Kern und Schale« zünftig entmythologisiert wird. Die Geschichte der Bibelauslegung zeigt, dass dann sowohl in der liberalen wie in der kerygmatischen Version nur blasse Allgemeinbegriffe übrig bleiben, die weder kognitiv überzeugen noch emotional berühren. Bei aller Notwendigkeit von Sachkritik im hermeneutischen Streit sind der Realismus und die Poesie der biblischen Texte nicht einzuebnen, sondern auszulegen und auch in ihren Spannungen zu beschreiben. Dann kann es geschehen, dass die fremde Welt zu einem fremden Gast wird, an dem wir Wichtiges wahrnehmen und Eigenes entdecken, ohne in einer »Wut des Verstehens«62 alles zu vereinnahmen und damit letztlich nichts verstehen.

Auch die Predigt soll etwas zu verstehen geben, weil die Bibel etwas zu verstehen gibt:

1.den biblischen Text als »fremden Gast«, den Reichtum seiner Sprache, Motive, Geschichten, Bilder, Argumente und literarischen Strategien, seine Formen und Gattungen in den narrativen, prophetischen, vorschreibenden, weisheitlichen und hymnischen Grundausprägungen biblischer Polyphonie;

2.den identitäts- und glaubensbegründenden Anspruch und Zuspruch der Bibel, ihren zur Wiederaufnahme und Aneignung offenen Sinn;

3.dies erfordert die Bereitschaft zu einer dem Bibeltext angemessenen theologisch-anthropologischen Fragehaltung, also zur wahrhaftigen Suche nach Wahrheit, Glauben und Verstehen in der Erwartung, dadurch in den Dialog Gottes mit der Welt einzutreten.

Dieser Dialog wird – nicht exklusiv, aber exemplarisch und verlässlich – in der Bibel als Bestandteil der christlichen Interpretation des Evangeliums dargestellt; an ihr nehmen Exegese und Praktische Theologie interpretierend, verstehend und gestaltend teil. Sie tun dies in der Regel im Medium von Text und Schrift, während die Predigt und Verkündigungspraxis und die sie begleitende Homiletik vor allem hinsichtlich der Mündlichkeit, der lebendigen Sprache, aber auch der Musik, der Künste, des Films sowie der neuen und neuesten Medien vor eigenen hermeneutischen Herausforderungen stehen, die praktisch-theologisch zu bearbeiten sind. Mein hermeneutisches Plädoyer als Exeget und als Homiletiker lautet dabei: Zur Sache der Texte!

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