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1. Gottesdienstlicher Bibelgebrauch

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Im christlichen Gottesdienst wird die Bibel in Liturgie und Predigt gebraucht: Aus der Bibel wird in der Liturgie sowie vor oder während der Predigt vorgelesen; gleichzeitig entstammen ihr Gebete (Psalmgebet bzw. Introitus, Vaterunser), liturgische Sequenzen (Sanctus, Einsetzungsworte, Segen) und mehr oder weniger deutliche Anklänge (Kyrie, Gloria, Halleluja, Hosianna, Amen, biblische Sprache in Gebeten und Liedern).5

Im Bereich evangelischer Traditionen ist zunächst auffällig, dass hier fast alle Relikte einer rituellen Buchverehrung fehlen. Liturgisch ausgeformte Prozessionen mit dem Bibelbuch oder sichtbare Begleitriten bei den Lesungen (Beräucherung, Kerzen, den Lektor begleitende Ministranten) sind im Unterschied zu Orthodoxie und Katholizismus nicht gebräuchlich. Allerdings besitzt die aufgeschlagene Bibel in der Mitte des Altars eine signifikante Bedeutung. Gerade die geöffnete und in der Regel nicht zur Lesung benutzte Bibel wird symbolisch gebraucht:6 Dieser Gebrauch verdichtet die protestantischen Einsichten, dass Gott sich im Wort der Heiligen Schrift selbst erschließt, im Wort gegenwärtig ist und dass die Heilige Schrift als einzige Regel und Richtschnur des Glaubens zu gelten hat.7 Die Altarbibel verdeutlicht – zugespitzt formuliert – das protestantische Schriftprinzip. Gleichzeitig ist sie das kostbarste Buch im Raum, also auch ohne Verehrung mit besonderer Würde versehen. Auf sie und das mit ihr verbundene Altarkreuz ist für alle wahrnehmbar der evangelische Kirchenraum in der Regel ausgerichtet.

Um nun nicht den Streit um und mit Hermann Rahtmann erneut aufzunehmen, ist zu bedenken, dass zu dem symbolischen Gebrauch der Bibel im Gottesdienst der lesende und der auslegende Gebrauch hinzutreten, die gleichzeitig den Höhepunkt des Wortgottesdienstes darstellen und ihrerseits dem symbolischen Gebrauch erst Relevanz verleihen. Nicht das Buch als solches, sondern die gelesenen, gehörten und für die Gegenwart ausgelegten biblischen Geschichten und Summierungen der Botschaft, also die viva vox evangelii, begründen und stärken den Glauben und bieten dem christlichen Leben Veränderungsimpulse.

Die unterschiedlichen Funktionen gottesdienstlicher Lesungen lassen sich systematisieren in didaktische, anamnetisch-kerygmatische und parakletische Primärfunktionen.8 In heutigen Gottesdiensten wird die didaktische Funktion am ehesten durch eine an der lectio continua orientierte Lesung (am häufigsten im reformierten Bereich), die anamnetisch-kerygmatische Funktion durch die kirchenjahreszeitlich geprägten Lesungen (in unierten und lutherischen Kirchen) und die parakletische Funktion durch die Lesungen in Kasualgottesdiensten (Taufe, Trauung, Bestattung) erfüllt.9 Diese Differenzierung in Lesungstypen und -funktionen ist bei der liturgischen Gestaltung zu beachten.

Ihre Mittelpunktstellung im evangelischen Gottesdienst gewinnt die Bibel vor allem durch die Predigt, denn ihr liegt in der Regel ein Bibeltext zugrunde, der ausgelegt wird.10 In prinzipieller Hinsicht gilt der Bibeltext traditionsgemäß als Wahrheits-, Verbindlichkeits- und Verlässlichkeitsargument.11 Die gegenwärtige Homiletik darf hier nicht alte Positionen, die diese Argumente häufig einseitig gegen die menschlichen Anteile der Hörer und Prediger ausgespielt hatten, unkritisch übernehmen; sie hat diese Funktionen vielmehr unter Einbeziehung der Rezipienten- und Produzentenperspektive weiter zu schreiben.

Der Bibeltext als Predigttext gilt als wahr, insofern er Hörende und Predigende in einen Prozess der Auseinandersetzung mit und der Entdeckung von Wahrheit führt. Er gilt als verbindlich, insofern er sich im Prozess des Hörens und Predigens als verbindlich erweist, und als verlässlich, insofern durch ihn Erfahrungen der Verlässlichkeit Gottes bezeugt werden.12 In praktisch-theologischer Sicht gewinnt dadurch der Bibeltext eine kreativ-kommunikative, eine identitätsgewährende13 und eine konfessorische Funktion. Kreativ wirkt der Bibeltext vor allem für die Predigenden, weil er inspirierende Impulse ebenso freisetzt wie er kritisches Gegenüber bleibt; kommunikativ wirkt er für die Hörenden, die als Gemeinde verbunden sind und sich gemeinsam auf Bibel und Auslegung als personal vermittelte Kommunikation des Evangeliums ausrichten.14 Identitätsgewährend, also sowohl identitätsstiftend wie -stabilisierend,15 ist der Bibeltext, wenn er sich im Akt der Predigt als verbindlich erweist und damit die entscheidende Relevanz für Glauben und Leben der Hörenden und Predigenden gewinnt. Seine konfessorische Funktion erfüllt er, wenn er die Treue und Verlässlichkeit Gottes nicht an sich, sondern als Einladung zu eigenen Glaubenserfahrungen bezeugt.

Zusammenfassend ist festzuhalten, dass der gottesdienstliche Bibelgebrauch in der Vielfalt der unterschiedlichen Funktionen die Bibel als Bekenntnisbuch der Christenheit zur Darstellung bringt.16 Damit wird gleichzeitig deutlich, dass die – vor allem in evangelischer Tradition zentrale – Ausrichtung auf die Bibel als Bekenntnisbuch nicht nur eine systematisch-theologische Einsicht ist, sondern zugleich eine theologisch verantwortete Praxis freisetzt.

Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens

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