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2.Bibelgebrauch in der Gemeindearbeit

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Der Bibelgebrauch in der Gemeindearbeit außerhalb von Gottesdiensten und Andachten hat in weiten Bereichen eine neue Dynamik gewonnen. Die traditionelle Form einer »Bibelstunde« ist an vielen Orten durch das regelmäßige Angebot von Bibelkreisen und theologischen Gesprächskreisen abgelöst worden.17 Außerdem werden die jährlich wiederkehrenden Bibelwochen häufig als ökumenische Veranstaltung mehrerer Gemeinden eines Kirchenkreises oder Bezirks durchgeführt; dies ist zwar eine begrüßenswerte Entwicklung, jedoch an manchen Orten auch ein Indiz dafür, dass eine Bibelwoche innerhalb einer einzigen Kirchengemeinde nur noch eine relativ kleine Anzahl von Menschen anspricht.

Eine im Blick auf öffentliche Resonanz und Aufmerksamkeit höchst erfolgreiche Aktion war: »2003. Das Jahr der Bibel«. Es gab hier nach Angaben der Veranstalter rund elf Millionen Besucher bei ca. 150.000 Einzelveranstaltungen, die von Kirchengemeinden aller Konfessionen durchgeführt wurden.18 Gleichzeitig ist es gelungen, durch zahlreiche öffentlichkeitswirksame Veranstaltungen vor Ort und in den Medien (z. B. regelmäßige Prominenten-Kolumnen in der Bildzeitung: »Meine Lieblingsbibelstelle – was sie mir bedeutet« oder die Reihe der ZDF-Fernsehgottesdienste unter dem Motto: »Provokation Bibel«19) die Aktion rund 32 Millionen Menschen in Deutschland bekannt zu machen. Ausstellungen, Bibelkurse, Events, Filmreihen, Konzerte, Lesungen, Reisen sind nur ein Teil der höchst kreativen und originellen Umsetzungen dieses ökumenischen und landesweiten Projekts,20 das auch über die Grenzen Deutschlands ausstrahlte und in Österreich, der Schweiz, Frankreich und Belgien große Resonanz fand. Ob hierdurch auf längere Sicht die durchaus ernüchternden Ergebnisse empirischer Untersuchungen, die in den 1980er Jahren Bibelgebrauch und -lektüre als zum Frömmigkeitsprofil einer zahlenmäßig kleinen Gruppierung gehörend diagnostizierten,21 zu korrigieren sind, bleibt abzuwarten.

Seitens der Initiatoren wurden drei Hauptziele der Gesamtaktion formuliert: die Bibel in die Öffentlichkeit tragen – das Leben mit der Bibel in den Gemeinden stärken – Menschen für die Bibel begeistern. In diesen offenen Zielbestimmungen verbinden sich kulturelle, wertebezogene und missionarisch-evangelistische Anliegen, die jeweils die Veranstaltungsformate mitgeprägt haben und zugleich hinsichtlich der Zielgruppen differenziert wurden. Insgesamt hat dieses Jahr der Bibel jedoch deutlich stärker als das 1992 veranstaltete ›Jahr mit der Bibel‹ unterschiedlichste theologische und spirituelle Zugänge zur Bibel ermöglicht, ohne zu gegenseitigen Ausgrenzungen und Verwerfungen zu führen.22 Insofern ist – bei aller Unmöglichkeit, die genannte Fülle der Veranstaltungen auch nur annähernd auswerten zu können – der hier praktizierte Bibelgebrauch im Blick auf das Gesamtbild als pluralistisch zu qualifizieren: Vieles hatte nebeneinander Raum, war wechselseitig durchlässig und wurde sehr wahrscheinlich von vielen vor Ort als gegenseitige Bereicherung wahrgenommen und empfunden; demgegenüber scheint es kontroverse Positionierungen und Diskurse über angemessene und unangemessene Zugänge zur Bibel zumindest nicht im Rahmen der Konzeption und Vorbereitung der Gesamtaktion gegeben zu haben.23

Viele Projekte im Rahmen des Jahres der Bibel verwenden bereits bekannte und bewährte Methoden und Medien wie unterschiedliche kreative Arbeitsformen,24 literarische,25 bildnerische26 oder (kirchen-)musikalische27 Formen oder das Bibliodrama.28 In der Regel liegt hier ein erfahrungsbezogener Umgang mit biblischen Texten zugrunde, dessen Gewichtung stärker auf Verstehen und Deuten der Tradition, auf gegenwartsrelevanter Umsetzung oder auf (angeleiteter) Selbsterfahrung in therapeutischer Ausrichtung liegen kann. Hieran knüpfen poimenische Konzepte an, die die Bibel als klärende und orientierende Sprachhilfe gebrauchen und nicht zuletzt infolge der zunehmenden Fremdheit biblischer Texte, Geschichten, Metaphern und Motive überraschende Perspektiven und neue Horizonte in verengte Lebenssituationen hilfreich einspielen:29

»In der seelsorglichen Auslegung werden die biblischen Texte nicht einfach in ihrem Ursprungssinn wiederholt; sie werden umgestaltet, zugespitzt, verfremdet; sie erhalten jedenfalls neue Pointen und vielleicht eine andere Gestalt. Zur praktischtheologischen Kunst der Auslegung gehören Übung und Wissen dazu, in welcher Weise der Text benutzt, verfremdet, ja vielleicht sogar ›verbraucht‹ werden muss (Ernst Lange), um seine zugleich bestätigende und öffnende Wirkung zu erzielen.«30

Dieser poimenische Gebrauch, der sowohl in Einzelgesprächen wie in Gemeindegruppen praktiziert werden kann, vollzieht sich also gerade nicht durch bloßes Zitieren, sondern erfordert die sprachschöpferische Gestaltung ebenso wie eine theologisch fundierte kritische Bibelkunde31 und pastoraltheologische Kompetenz.

Der derzeitige Bibelgebrauch in der Gemeindearbeit betont sehr stark die Fremdheit der biblischen Sprache und Traditionen, die nun nicht mehr in die gegenwärtigen Situationen hinein aufgesogen werden und in Gefahr stehen, sich zu verflüchtigen, sondern in ihrer bleibenden Fremdheit Interesse, Lebenshilfe und Klärung bieten können.

Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens

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