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1. Die existentiale Hermeneutik: Die theologische Dimension als Sache des Textes

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Rudolf Bultmann hat Martin Heideggers Impulse für die Hermeneutik eigenständig und kenntnisreich aufgenommen und weitergeführt.3 Dabei wurden die Fragen philosophischer Ontologie mit den traditionellen Fragen einer Texthermeneutik verbunden. Bultmann verdeutlicht, dass jedes Verstehen, z. B. eines Textes von Platon oder eines Kunstwerks, ein Vorverständnis im Sinne eines Lebensverhältnisses zur Sache benötigt: »Voraussetzung jeder verstehenden Interpretation ist das vorgängige Lebensverhältnis zu der Sache, die im Text direkt oder indirekt zu Worte kommt und die das Woraufhin der Befragung leitet.«4 Dies kann z. B. ein geschichtliches, psychologisches oder ästhetisches Interesse sein. Es kann aber auch ein existential-ontologisches sein: Es kann »gegeben sein durch die Frage nach dem menschlichen als dem eigenen Sein.«5 Daher ist das Vorverständnis nicht zu eliminieren, sondern ins Bewusstsein zu heben, es ist im Textverstehen kritisch zu prüfen und zu befragen.

1957 hat Bultmann in einem kleinen Text diese Grundgedanken in fünf Thesen folgendermaßen zusammengefasst:

»1)Die Exegese der biblischen Schriften muß wie jede Interpretation eines Textes vorurteilslos sein.

2)Die Exegese ist aber nicht voraussetzungslos, weil sie als historische Interpretation die Methode historisch-kritischer Forschung voraussetzt.

3)Vorausgesetzt ist ferner der Lebenszusammenhang des Exegeten mit der Sache, um die es in der Bibel geht, und damit ein Vorverständnis.

4)Das Vorverständnis ist kein abgeschlossenes, sondern ein offenes, so daß es zur existentiellen Begegnung mit dem Text kommen kann und einer existentiellen Entscheidung.

5)Das Verständnis des Textes ist nie ein definitives, sondern bleibt offen, weil der Sinn der Schrift sich in jeder Zukunft neu erschließt.«6

Das »Vorverständnis« besteht als »offenes Vorverständnis« nicht aus dogmatischen Vorgaben, sondern aus dem Bewegtsein durch die existentielle Frage nach Gott – »einerlei welche Form diese Frage jeweils in seinem [des Exegeten, H.S.] Bewußtsein annimmt«7. Die existentielle Entscheidung kann zum Bekenntnis, aber auch zur Ablehnung, zum ausgesprochenen Unglauben führen, der als existentielle Entscheidung nicht widerlegbar wäre.8 Gegenüber der Frühzeit der Dialektischen Theologie und Karl Barths Erwählungslehre bleibt die hermeneutische Position Bultmanns offener, in Grenzen diskursiver und stets mit kritischer Exegese verbunden. Die Arbeit des Exegeten zielt darauf, die Schrift selbst zum Reden zu bringen als eine »in die Gegenwart, in die gegenwärtige Existenz, redende Macht«.9

Aber diese Schrift ist nicht einfach nur zu »vernehmen« und »nachzusprechen«, wie es einige Barthianer forderten, sondern Bultmann formuliert sachlich, präzise und ein wenig polemisch: »Wie soll er denn vernehmen, ohne zu verstehen? Und das Problem der Interpretation ist doch gerade das des Verstehens.«10 Das Woraufhin der Schriftauslegung ist die Frage »nach dem in der Schrift zum Ausdruck kommenden Verständnis der menschlichen Existenz«11 oder, systematisch formuliert, als Auslegung des Offenbarungsbegriffs: Das »Woraufhin der Interpretation als die Frage nach Gott, […] bedeutet […] die Frage nach der Wahrheit der menschlichen Existenz.«12 Dieses Vorverständnis wird gegen kirchliche Dogmatiker ebenso verteidigt wie gegen alle, die das Neue Testament bloß als »Quelle« für eine historische, psychologische oder religiöse Fragestellung gebrauchen.

In dieser enormen Spannung – die Schrift wird selbst zum Reden gebracht, indem sie nach Wahrheit und Existenz befragt wird – liegt eine intellektuelle und theologische Dynamik, die Bultmanns Hermeneutik, zumindest in den 1950er bis 1970er Jahren, so wirkungskräftig und in allem Streit13 erfolgreich werden ließ.

Die unlösbare Verbindung von kritischer Exegese und theologischem Programm ließ auch den Weg vom Text zur Predigt als eher direkte Verbindung erscheinen. Einige mythologische Relikte waren natürlich auf diesem Weg zu beseitigen, das aber nur, damit die wahre Anstößigkeit nicht bei einem sacrificium intellectus stehen bleibt, sondern in der Kreuzestheologie erkannt wird, im paulinischen oder johanneischen Kerygma.

In dieser theologischen Geschlossenheit liegt eine wesentliche Stärke der Bultmannschen Hermeneutik. Gleichzeitig ist sie auch philosophisch anschlussfähig, nicht in einem bloß formalen Sinn, sondern in der entscheidenden, auch bei Heidegger und Gadamer auf je eigene Weise ausgearbeiteten Grundüberzeugung: Indem der Mensch etwas versteht, versteht er immer zugleich auch sich selbst.14

Was ist die bleibende Stärke der existentialen Hermeneutik? Die existentiale Hermeneutik ringt um die Frage nach Gott, die sie als Sache der biblischen Texte begreift und die angemessen nur als Frage nach Wahrheit und nach Existenz zu stellen ist. Die Wahrheitsfrage ist also eine Geltungsfrage und gegenüber den biblischen Texten gibt es niemals Neutralität, »sondern nur eine Verweigerung oder aber Öffnung gegenüber dem von ihnen erhobenen Anspruch«.15 Daher sind Text- und Selbstverstehen stets aufs Engste miteinander verbunden.

Gottes Menschenfreundlichkeit und das Fest des Lebens

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