Читать книгу Mond küsst Sonne - Henriette Pascher - Страница 12

Das Spiegel-Glas-Kabinett

Оглавление

"Schau mal, Karin, was haben wir denn da für ein dickes, hässliches Mädchen!"

Der Vater ließ seine dreijährige Tochter in einen konkaven Spiegel schauen. Ein hämisches Grinsen breitete sich auf seinem Gesicht aus. Mit Genugtuung stellte er fest, welche Verwirrung sein kleiner Spaß auslöste.

"Aber, mein Kleines, du musst doch nicht immer alles glauben, was Papa dir sagt!" schaltete sich nun ihre Mutter ein, indem sie ihr einen konvexen Spiegel vorhielt. Hier war Karin dünn wie eine Bohnenstange. Es dauerte nicht lange, bis ihr die Tränen über die Wangen liefen. Sie fing an, nachzugrübeln. Ihre Mutter nahm sie zärtlich in die Arme und versuchte sie zu trösten. Aber irgendwie wurde sie das Gefühl nicht los, dass Mama es nicht ehrlich meinte.

Als Karin vier Jahre alt war, beschlossen ihre Eltern, dass es langsam Zeit wäre, sie in das Glas-Kabinett einzuführen. Da sie ein Einzelkind war, fühlte sie sich unbehaglich, plötzlich von so vielen Gleichaltrigen umgeben zu sein. Doch die anfängliche Scheu wich bald den ersten zaghaften Freundschaften. Hin und wieder gab es Streitereien um das stets beliebte Schaukelpferd. Wenn Karin nicht ihren Willen bekam, zog sie sich schmollend in eine Ecke zurück, um die Aufmerksamkeit der Kindergartentante auf sich zu lenken.

Zum ersten Mal berührte sie eine vage Ahnung von dieser gläsernen Barriere, die sie seinerzeit schon bei ihren Eltern - damals jedoch unbewusst - verspürte.

Der nächste entscheidende Einschnitt in ihrem Leben war der erste Schultag. Alles war für sie neu, aufregend und interessant. Vor allem die Lehrerin hatte es ihr angetan. Ihre sanfte, melodiöse Stimme verzauberte nicht nur Karin, sondern auch andere Mitschüler. Ihre Eltern hatten kein Verständnis für ihre Schwärmerei, sodass sie mit ihren Träumerein, aber auch mit ihren Sorgen allein blieb. Kümmernisse hatte sie im Laufe der Zeit genug. Am meisten kränkte sie, dass ihre einzige erwachsene Vertrauensperson, scheinbar grundlos und ohne sich zu verabschieden, nicht mehr kam. Als sie sich bei einer Freundin ausweinen wollte, fragte sie diese ganz verwundert:

"Ja weißt du denn nicht, dass unsere Frau Lehrerin ein Butzi bekommt?"

Nein, Karin wusste es nicht. Woher sollte sie auch? Da sie keine jüngeren Geschwister hatte, musste sie ihr Wissen auf andere Weise erwerben. Ihr war wohl aufgefallen, dass der Bauch immer größer wurde. Aber sie wäre von sich aus nie auf den Gedanken gekommen, dass ein Baby drin sein könnte.

Im Gegensatz zur Freundin brachten die Klassenkameraden ihren Spott offen zum Ausdruck. Karin zeigte ihnen die lange Nase. Die Folge war, dass Bleistifte und Radiergummis auf geheimnisvolle Weise aus ihrem Federpennal verschwanden.

Und wieder schob sich jene unsichtbare Glaswand zwischen sie und jene unbekannten Bösewichte.

Wenn ihr dann von zu Hause Vorwürfe gemacht wurden, sie solle doch auf ihre Sachen besser aufpassen, erfasste sie eine hilflose Wut.

Kavaliersdelikte und Gemeinheiten nahmen in den folgenden Jahren zwar nicht ab, dafür wurde die Technik der Ausführung subtiler und noch weniger greifbar. Wie sehr sehnte sich Karin, erwachsen zu werden.

Endlich war der große Augenblick gekommen. Sie hatte die HAK-Matura mit Auszeichnung bestanden und glaubte nun, die ganze Welt liege ihr zu Füßen. Auch war sie der festen Überzeugung, die kindischen Blödeleien würden ein für alle Mal zu Ende sein. Die bittere Erfahrung, dass dies ein Trugschluss war, sollte sie erst später machen.

Als Karin den Posten einer Chefsekretärin erhielt, kam sie sich enorm wichtig vor. Jetzt war sie schließlich wer. Man konnte sie nicht so einfach auf die Seite schieben wie früher. Nach einer kurzen Probe- und Einarbeitungszeit erklärte sich ihr Chef bereit, sie weiterhin behalten zu wollen, da Karin seinen Anforderungen vollkommen entsprach. Sie glaubte, am Ziel ihrer Wünsche angelangt zu sein. Aber schon nach kurzer Zeit änderte sich die Situation drastisch. Es passierte immer öfter, dass sie in Briefen Sätze schrieb, die er angeblich nie angeordnet hatte, obwohl Karin genau wusste, dass ihr Vorgesetzter so formuliert haben wollte. Sie getraute sich allerdings nicht, eine schriftliche Weisung zu verlangen, da sie befürchtete, er würde ihre Konzentration anzweifeln.

Diesmal war die Mauer aus Glas massiv. Es kam ihr vor, als ob jemand ihren Kopf mit einem Hammer zerschlagen hätte. Wie war dieser Gesinnungswandel nur möglich? Es dauerte nicht lange und schon stieß sie mit ihren Händen an die nächste durchsichtige Fläche.

Ein Kollege beschuldigte sie, ihm Geld gestohlen zu haben, was er auch gleich durch einen sogenannten Freund bekräftigen ließ.

Karin wäre nie auf die Idee gekommen, so etwas zu tun. Verzweifelt versuchte sie sich zu verteidigen. Doch schließlich musste sie einsehen, dass sie die schwächere Position inne hatte, da sie für die Wahrheit keinen Zeugen auftreiben konnte. Bis man ihr letztendlich erklärte, das Ganze sei nur ein Spaß gewesen. Als Karin ihnen deswegen Vorwürfe machte, wurde sie kurzerhand als humorlos bezeichnet. Damit war für die "lieben" Kollegen die Sache erledigt. Wenn Karin nicht anwesend war, wurde dieser Vorfall immer wieder erörtert, um die diabolische Freude, einen Mitarbeiter in die Verzweiflung getrieben zu haben, wieder aufleben zu lassen.

Ohnmächtig vor Enttäuschung und Schmerz stolperte sie durch die immer enger und unheimlicher werdenden Gänge des Labyrinthes nach Hause.

Ihr Mann war ihr jedoch auch nicht unbedingt eine Hilfe, da er das liebevoll zubereitete Essen als ungenießbaren Fraß bezeichnete. Ihre Kinder schickte sie ohne Gutenacht-Geschichte ins Bett, da sie beim Essen gekleckert hatten. Die Lust, Schwächere zu quälen, oder nur überreizte Nerven? Sie wußte keine Antwort. Nur eines war gewiss. So konnte es nicht weitergehen, sonst würde sie über kurz oder lang in der Psychiatrie landen.

Sie versuchte es mit zynischen Bemerkungen. Die Kollegen waren zwar verunsichert, ließen aber in ihrem Bemühen nicht nach, weitere wunde Punkte zu finden. Karin beging diesmal nicht den Fehler, ihnen zu zeigen, wann sie verletzt wurde, sondern setzte als zweite Waffe die Schweigetaktik ein. Und siehe da, die Erfolgsquote lag ungefähr bei siebzig Prozent.

All die kleinen Nadelstiche, die sie im Laufe vieler Jahre erdulden musste, gingen an die Peiniger zurück. Auch die Glaswände, vor denen sie oft wie versteinert zusammengesunken war, wurden seltener. Vielleicht war es sogar möglich, diesem Irrgarten der Verrücktheiten zu entrinnen?

Wenn sie jetzt einen Raum betrat, deren Insassen von hysterischen, ordinären Lachanfällen geschüttelt wurden, schleuderte sie diesen Menschen einen vernichtenden, süffisanten Blick zu, wodurch die Kicherei augenblicklich zu Eis erstarrte. Zauberkraft Körpersprache? Sie hatte die dritte Möglichkeit entdeckt, primitive Menschen in Schach zu halten. Eine Alternative zu Mobbing bzw. körperliche Übergriffe?

Langsam baute sich ein Schutzschild um sie auf, wie eine unsichtbare Glasscheibe.

Die Rollen hatten sich vertauscht. Nun hatte Karin die Machtposition inne. Hätte sie mit den gleichen Waffen gekämpft, würde sie wohl ihre Identität verloren haben.

Der Zeitpunkt rückte näher, an dem sie den Ausgang des Glas-Spiegel-Kabinetts erreichte. Ihre äußere Hülle war fallweise gezwungen, sich in diesem Gefängnis aufzuhalten, doch ihr wahres Selbst glitt mühelos hinaus auf den Weg der Freiheit.

Mond küsst Sonne

Подняться наверх