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Das Spinnennetz

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Schwester Genovefa starrte entsetzt zum Plafond ihrer winzigen Zelle. Eigentlich hätte sie jetzt Gebetsstunde gehabt. Dieses Alleinsein mit Gott hatte ihr bisher immer Frieden und neue Kraft geschenkt in all den Wirrnissen, die in letzter Zeit auf sie eingestürmt waren. Diesmal wagte sie es nicht einmal das Kreuz am Fußende ihres Bettes anzuschauen. Das, was eben passierte, hätte nicht geschehen dürfen. Ihr war überhaupt ein Rätsel, wie ihr Bruder sich Zutritt in die Klausur verschaffte. War es vielleicht sein Priestergewand, das ihn ungeschoren durchkommen ließ? Oder bediente er sich gar einer falschen Behauptung, um so heimlich sein Vorhaben ausführen zu können?

Mittlerweile rückte der Stundenzeiger auf die Ziffer sechs. Täglich um 18 Uhr trafen sich die Schwestern zur Abendmesse. Wie betäubt erhob sich Schwester Genovefa von ihrer Liegestatt. Hohl und unheimlich klangen ihre Schritte auf dem düsteren Gang zur Kapelle. Als sie den mit wunderschönen Blumen geschmückten Andachtsraum betrat, drehten sich einige Schwestern um und bedachten sie mit einem strafenden Blick. Kein Wunder, sie war die letzte.

Da durchzuckte sie mit einem Mal ein fürchterlicher Gedanke. Eine heiße Blutwelle stieg ihr ins Gesicht. Sie hatte ja schon viele Lügen, Gemeinheiten und Heucheleien erlebt, seit sie vor zwei Jahren ins Kloster eingetreten war. Warum konnte sie nicht auch einmal davon Gebrauch machen? Sie tat es ja nicht aus Freude daran, andere zu quälen, sondern bei ihr war es eine Art Verzweiflungsakt. Wie sehr hatte sie doch gehofft, hier Wahrheit und Frieden zu finden. Aber das war wohl ein Trugschluss.

Nach drei Monaten wurde es ihr schmerzliche Gewissheit, dass die ungewollte Intimität mit ihrem Bruder nicht ohne Folgen geblieben war. Hinter ihrem Rücken wurde bereits getuschelt. Bei den Mahlzeiten hörte sie gelegentliche Bemerkungen wie: "Schwester Genovefa, es wäre sicher von Vorteil, wenn sie ihren Appetit etwas zügeln würden!" Einigen ganz Neugierigen, die sie direkt auf eine Schwangerschaft ansprachen, log sie frech ins Gesicht. Aber auf die Dauer konnte sie es sicher nicht verheimlichen. Und so wurde sie eines Tages zur Mutter Oberin gerufen.

"Schwester Genovefa, ich hoffe, der Verdacht, den wir seit einiger Zeit hegen, ist unbegründet. Ich muss Ihnen leider eine sehr indiskrete Frage stellen. Sein Sie in anderen Umständen?"

"Ja, ich bin schwanger!"

"Und - wer ist der Vater des Kindes?"

"Darauf möchte ich lieber keine Antwort geben."

Die Wahrheit hätte ihr niemand geglaubt. Ein Märchen zu erfinden war ihr zu mühselig. Sie hatte es sich ohnehin schon widerstrebend angewöhnt, sich selbst belügen, um das enttäuschende Klosterleben etwas erträglicher zu gestalten. Sie wollte jedoch nicht, dass dies für ihr Leben ein Dauerzustand werden würde.

"Sie haben die Frechheit, mit einem Mann zu schlafen und wagen es dann noch, mir zu verheimlichen, wer der Vater des Kindes ist? Sie packen auf der Stelle Ihren Koffer und verlassen augenblicklich das Kloster!"

Schwester Genovefa hatte nichts Anderes erwartet. Es traf sie nicht unvorbereitet. Die Oberin hoffte wahrscheinlich auf flehentliche Bitten ihrerseits, dass sie bleiben könne. Aber genau diese "Freude" wollte sie ihr nicht machen.

Ihren Bruder hatte sie bereits durch einen Brief informiert. Er schickte ihr daraufhin einen Scheck mit einer beträchtlichen Summe, mit der Bitte, über diese Angelegenheit absolutes Stillschweigen zu bewahren. Sie nahm nun wieder ihren bürgerlichen Namen Doris Brettschneider an. Mit dem Geld konnte sie sich eine kleine, bescheidene Wohnung mieten.

"Jetzt weiß ich, warum du mir immer beharrliche verschwiegen hast, wer mein Vater ist! Es ist mein Onkel, der noch dazu Pfarrer ist! Du bis ein Schwein, ich hasse dich!"

"Wie redest du bloß mit deiner Mutter! Und überhaupt: Woher weißt du das?"

"Du hättest dein Tagebuch nicht offen herumliegen lassen sollen!" schleuderte ihr Martin voll Wut und Verzweiflung ins Gesicht. Doris wusste, dass es wohl besser gewesen wäre, unter diesen Umständen das Kind nicht zur Welt zu bringen. Außerdem hatte sie den Eindruck, dass sie sich für Kinder nicht eignete. Aber was hätte sie tun sollen? Zur Abtreibung fehlte ihr damals das Geld. Und selbst wenn sie es gehabt hätte, würden sie wahrscheinlich religiöse Gründe abgehalten haben. Die Möglichkeit zur Freigabe zur Adoption wollte sie nicht in Anspruch nehmen, da sie wenigstens einmal in ihrem Leben beweisen wollte, dass sie kein Versager war.

Eines Tages - Martin war schon längst ausgezogen - läutete es an der Tür. Ein grau melierter Herr überreichte ihr ein Kuvert mit lieben Grüßen von ihrem Bruder. Als sie den Umschlag öffnete, staunte sie nicht schlecht, einen Scheck über tausend Euro in ihren Händen zu halten. Wo er nur all das Geld immer hernahm? Vielleicht zwang ihn sein schlechtes Gewissen noch immer dazu, eignes von den Spenden "widmungswidrig" für sie zu verwenden. Sicher freute sie sich darüber, aber dringend brauchte sie es nicht mehr, da sie mit ihrem Job als Putzfrau das Nötige für ihren Unterhalt verdienen konnte.

Martin saß in seiner Studentenbude und dachte über sein Leben nach. Nein, er wollte nicht so werden wie seine Eltern, die fast nichts Anderes kannten als Tradition, Lüge und Machtgier. Aber war er nicht selber schon in diesem Spinnennetz gefangen? Auf Drängen seiner Mutter studierte er Medizin. Sicher es war bei diesem Beruf einiges zu verdienen. Unter Umständen wurde man sogar berühmt. Aber was half das alles, wenn man keinen Spaß daran hatte.

Schlaftrunken schaute er sich am nächsten Morgen in den Spiegel. Vor Entsetzen riss er die Augen nun weit auf. Seine Mutter grinste ihm hämisch entgegen. Das konnte nur ein Trugbild sein! Da sich das aber Morgen für Morgen wiederholte, musste er es wohl als Tatsache zur Kenntnis nehmen.

Martin erkannte nur zu deutlich, dass es höchste Zeit war, sein Leben zu verändern. Aber wie? Mit einem Mal entstand ein Bild vor seinem geistigen Auge. Eine Tanzaufführung. Die Tänzerin war zwar in ihren Bewegungen noch nicht perfekt - das konnte auch ein Laie wie er erkennen - aber ihr Gesicht hatte fast einen überirdischen Glanz. Der Zuschauer wurde - ob er wollte oder nicht - in diesen magischen Strom der echten Lebensfreude mit hineingerissen. Nach und nach sah er ein, dass die Hingabe an eine Person oder Tätigkeit viel erstrebenswerter war. Jetzt, als er so nachdachte, merkte er, dass schon längere Zeit in ihm der Wunsch keimte, Menschen in verfahrener Lebenssituationen helfen zu wollen. Und so entschloss er sich, nicht Arzt, sondern Lebensberater zu werden. Zugleich fühlte er aber auch, dass er diesem Spinnennetz aus Unwahrheit, gesellschaftlicher Konvention und die Lust, andere sinnlos zu drangsalieren nie ganz entkommen wird. Er war jedoch fest entschlossen, sich immer wieder davon freizukämpfen. Als Martin nun das nächste Mal in den Spiegel schaute, glaubte er, wieder jemanden Fremden zu entdecken. Oder - war es doch er selbst? Jenes seltsame Feuer in seinen Augen hatte er noch nie an sich beobachtet.

Mond küsst Sonne

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