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Die Wunderdroge

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Es war ein Tag wie jeder andere. Um die Arbeit ein wenig aufzulockern, hielt der Wiener Postbedienstete N.N.* ein angeregtes Schwätzchen mit seinen Kollegen. Da spürte er, wie er von hinten plötzlich hochgehoben und ein Stück weiter vorne wieder abgesetzt wurde. Was als spielerische Kraftdemonstration eines Gewichte-Stemmers gedacht war, endete für Herrn N.* mit einer folgenschweren Komplikation. Wie ein Blitz fuhr ein fürchterlicher Schmerz in seine Wirbelsäule.

Der Arzt im Unfallkrankenhaus entließ seinen Patienten nach einer Röntgenaufnahme mit der Diagnose Lumbago und dem guten Rat, sich ein paar Tage zu schonen.

Doch die Beschwerden wurden auch mit schmerzlindernden Medikamenten nicht weniger. Hinzu kamen noch Probleme mit dem Aufstehen. Er hatte das dumpfe Gefühl, als gehorche ihm sein Körper ab der Hüfte abwärts nicht mehr. Unmotivierte Herzrythmusstörungen, die bald darauf dazu kamen, brachten die ohnehin schon etwas gestörte psychische Balance noch mehr ins Wanken.

Als auch der Hausarzt der Schwiegermutter nichts ausrichten konnte - er vermutete gleich einen Rollstuhl-Patienten - , begann eine Ärzteodyssee. Es wurden verschiedene Vermutungen angestellt, die jedoch alle nicht weiterführten. Und was eben so oft passiert, wenn die Halbgötter in Weiß mit ihrem Latein am Ende sind, das widerfuhr auch N.N*. Er wurde kurzerhand als Hypochonder oder Hysteriker abgestempelt. Oder die Beschwerden hatten eben eine psychosomatische Ursache.

In seinem Inneren brodelte schon lange ein Vulkan. Als jedoch die Wut und die Verzweiflung zum Ausbruch kamen, bestand er eines Tages im Krankenhaus darauf, endlich einmal von Kopf bis Fuß durchuntersucht zu werden, was ja bisher von den Ärzten nicht als notwendig empfunden wurde. "Wollen Sie sich das wirklich antun?" war daraufhin die erstaunte Reaktion des Spitals-Arztes. Damals wusste Herr N.* noch nicht, was auf ihn zukommen würde. Niemals hätte er sich gedacht, dass er in der Psychiatrie landen würde. Statt der geforderten Durch-Untersuchung wurde er mit Kurare und Elektroschocks "behandelt" und mit Psychopharmaka ruhiggestellt. Sein Bettnachbarn waren durchwegs Selbstmordkandidaten.

Seiner Frau, der die psychische Veränderung ihres Mannes nicht entgangen war, holte ihn schließlich auf eigenen Revers heraus. Bis auf das Skelett abgemagert und völlig entkräftet, kämpfte er jetzt auch noch mit Schlaflosigkeit. Die schwerste seelische Belastung kam jedoch, als bislang treue Freunde ebenfalls kein Verständnis zeigten und sich einer nach dem anderen verabschiedete.

Als Herr N.* am tiefsten Punkt seiner physischen und psychischen Konstitution angelangt war, fasste er den Entschluss, keine Medikamente mehr zu nehmen. Und genau das sollte ein Wende in seinem Leben herbeiführen.

Ein Wochenende in den Bergen bedeutet nicht nur Luftveränderung, sondern auch zusätzliche Anstrengung für den ausgezehrten Organismus. Eine Gehleistung von nur hundert Metern brachte Herrn N.* schon an den Rand der Erschöpfung. Die Überwindung von Höhenunterschieden löste sogar Erbrechen aus. Doch er gab nicht auf.

In der drauf folgenden Nacht erlebte er sozusagen ein persönliches Wunder. Das erste Mal seit vielen Jahren gelang es ihm, ungefähr drei Stunden durchzuschlafen. War er nun auf dem richtigen Weg? Die Wanderungen wurden in der darauffolgenden Zeit immer ausgedehnter, bis es zu den ersten Laufversuchen kam.

N.N.* hatte gelernt, abseits der üblichen Ärztediagnostik seinen Körper ganz genau zu beobachten. Er wurde immer sensibler für positive und negative Feedbacks.

Ein weiterer Meilenstein in Richtung Genesung war eine Fußgängerrallye über ungefähr acht Kilometer in Kärnten, wo er gerade Urlaub mit seiner Familie machte. Auch auf diesen acht Kilometern galt es, kleine Hindernisse zu überwinden. Herzrythmusstörungen, Schweißausbrüche, Übelkeit und Schmerzen machten sich jedoch immer seltener bemerkbar.

Schon bald begann Herr N. mit einem Training für Volksläufe bis zu einer Distanz von zwanzig Kilometern. Nun war es keine Seltenheit mehr, dass Vater und Sohn gemeinsam ihrer Laufbegeisterung frönten. Die Mutter lief mit einem etwas gemäßigteren Tempo, doch wurde von den Herren der Schöpfung stets Rücksicht darauf genommen. In dieser Zeit fiel auch die Teilnahme an Marathonläufen. Herrn N.’s* Freude an der Bewegung schien allmählich zur Sucht zu werden, sodass es eines Tages möglich war - bei einem Ruhepuls von nur 36 Schlägen pro Minute - , 150 km in einem durchzulaufen.

In der darauffolgenden Etappe seiner Bewegungsbegeisterung machte er Bekanntschaft mit der Disziplin des Gehens, in Österreich relativ unbekannt und daher auch angefeindet oder mitleidig belächelt. Trotzdem schien ihn diese neue Bewegungsform noch mehr zu faszinieren. N.N.* war es gewöhnt, mit anderen und vor allem mit sich selbst zu kämpfen. Gehen schont gegenüber dem Laufen zwar die Sprunggelenke, trainiert dafür aber intensiv die Bauch- und Rückenmuskulatur. Außerdem muss der Vorderfuß völlig gerade aufgesetzt werden, und der Körper darf in keiner Bewegungsphase vom Boden abheben. Bei Spitzengehern ist eine Leistung von fünfzehn Kilometern in der Stunde möglich. Im Jahre 1978 wurde Herr N.* für seine harte Arbeit das erste Mal belohnt. Bei einem Wettbewerb in der Prager Hauptallee wurde er Wiener Meister im Gehen. Zu diesem Zeitpunkt war er bereits über vierzig Jahre alt und startete daher in der Seniorenklasse. N.N.* wusste jetzt, dass er sich nicht nur seine Gesundheit mit eisernem Willen zurückerobert hatte, sondern auch, dass sein Körper imstande war, Spitzenleistungen zu vollbringen.

Sein nächstes Ziel war, den Europameistertitel anzustreben. Der Einsatz, den er leistete, war sehr hoch. Zwei Stunden Training täglich, bei jedem Wetter, bei dem er bis dreißig Kilometer zurücklegte. Meist in der Zeit von zehn Uhr abends bis Mitternacht, da vorher oft noch andere Verpflichtungen zu erfüllen waren. Diese Leistungen wurden alle im Alleingang erbracht, ohne die Unterstützung und Motivation eines Trainers. Trotz dieser enormen Disziplin schaffte er 1980 in Helsinki nur den vierten Platz. Im Augenblick zählte jedoch nur, bei den Europameisterschaften dabei gewesen zu sein.

1981 wurde ihm angeboten, in Neuseeland an einem Wettbewerb teilzunehmen. Da er sich den Flug jedoch nicht leisten konnte, machte ihm ein Bekannter das Angebot, die Reise zu bezahlen. In diesem Jahr nahm Herr N.* gleich an zwei Ausscheidungen teil. Bei der 5000 Meter Kategorie errang er die Silbermedaille, bei zwanzig Kilometer gelang es ihm sogar, Gold für Österreich zu gewinnen.

Weiter ging es dann im Jahre 1982 in Straßburg, wo er Vizeeuropameister wurde. Die letzte größere Station war 1983 Puerto Rico, wo man ihm nur den Vizeweltmeistertitel zuerkannte. Er wäre sicher Weltmeister geworden, wenn nicht ein Teilnehmer mit unfairen Methoden gekämpft hätte, die jedoch vom Schiedsrichter nicht entdeckt wurden.

Die eben beschriebenen Highlights geben nur einen kleinen Eindruck von N.’s* tatsächlicher sportlicher Laufbahn. In seinem Vorzimmer hängen Hunderte von Medaillen. Pokale und Geschenke sind weitere Dokumente seiner Karriere. Und trotzdem ist er ein bescheidener Mensch geblieben.

"Es dauerte lange, bis die Ärzte als Ursache meiner Beschwerden einen eingeklemmten Nerv und mein "Sportlerherz" vom Gewichtheben bzw. Ausdauertraining erkannten, worunter ich auch heute noch fallweise leide. Auf der anderen Seite ist es ermutigend, Freunde auf der ganzen Welt zu haben. Das Wichtigste im Leben ist wohl, sich immer ein Ziel zu setzen."

Und wenn ich in seine strahlenden Augen blicke, dann spüre ich, dass er recht hat.

*Name wurde von der Autorin geändert.

Mond küsst Sonne

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