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Vorsatz

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Mein zu früh verstorbener Freund Peter Pütz begann einen Vortrag über ethische Fragen in Texten Thomas Manns mit zwei Erinnerungen. Die erste handelte von seinem Deutsch-Lehrer in den 50er-Jahren des 20. Jahrhunderts. Ihn hatten seine Schüler gebeten, Thomas Mann zu lesen, statt Literatur im Geiste eines christlichen Humanismus, wie der Lehrplan vorschrieb. Auf dieses Verlangen habe der Lehrer »mit leiser, bebender Stimme« geantwortet: »Ein Schriftsteller, der jeden, aber jeden Wert durch seine Ironie vernichtet, sollte verboten werden.« Die andere Erinnerung, die Peter Pütz vortrug, war die an die Äußerung eines Freundes, der ihm gesagt habe: »Ich habe in meinem Leben viel Thomas Mann gelesen und studiert und habe oft Vergnügen dabei gefunden – aber gegeben hat er mir nichts.«[1] Ich erinnere mich an Gespräche mit Peter Pütz, aber ich kann nicht stehen lassen, dass Thomas Mann mir nichts gegeben habe. Ich hatte wohl ausdrücken wollen, dass ich Thomas Manns Werke nicht lese, um meine Welt realistisch erklärt zu bekommen, um neue Lebenswerte zu entdecken, oder um einen Religionsersatz zu finden. Was Thomas Mann seinen Lesern im 21. Jahrhundert gibt, sind Wörter, die sich zu Beispielen, Szenen, Bildern ordnen, für eine Weise, wie man in einer Welt lebt, die nicht von einem Schöpfergott ein für alle Mal geordnet und mit starren Regeln des Verhaltens versehen wurde, sondern in einer modernen Welt mit Veränderungen und voller Widersprüche.

Modern ist eine Weltanschauung, die mit Widersprüchen leben kann. Sie verzichtet auf die traditionelle Metaphysik, die das Weltganze aus einem Prinzip zu begreifen suchte, sei es der Schöpfergott oder die auf mathematische Formeln reduzierte Naturwissenschaft. Der modern denkende Mensch hat den lenkenden Schöpfergott in einen Mythos verdrängt, der mit der Naturwissenschaft im Konflikt steht. Ein Konflikt zwischen dem Gefühl, zu einem großen Ganzen zu gehören und dem Wissen, dass eine mathematische Weltformel sich unserem Zugriff entzieht, charakterisiert das moderne Verhältnis zur Welt, auch das in den Werken Thomas Manns.

Seit Charles Darwins On the Origin of Species (1859) kann man es nicht mehr für die einzige Wahrheit halten, dass der Mensch, separat von der Tierwelt, nach dem Bilde Gottes geschaffen wurde. Das Weltall, das die Astronomen beobachten und vermessen, besteht aus Galaxien, die auseinanderfliehen. Aus diesem Weltall lassen sich keine menschlichen Verhaltensregeln ableiten. Die biblische Morallehre hat ihre absolute Autorität verloren und wird durch pragmatisch gefundene Regeln erklärt oder ersetzt. »Modernismus« nenne ich das Bestreben unter Schriftstellern, den Prozess der Säkularisierung, der Modernisierung, anzunehmen. Thomas Manns Werk gehört zu dieser Bewegung, was nicht ausschließt, dass Erzähler und Figuren dieser Bewegung kritisch gegenüberstehen.

Unter den Ersatzreligionen, die sich Thomas Mann als neuen Weltsinn anboten, hat der Ästhetizismus die Schönheit für heilig erklärt und will Künstlern priesterliche Würde zuerkennen. Der moderne Realismus weigert sich, der Schönheit einen solchen Rang zu geben. Wie ein Kunstwerk versteht Thomas Mann Schopenhauers Philosophie, wenn sie den »Willen« als zeit- und raumloses Phänomen die Welt erfüllen lässt. Aller Metaphysik widersprach Nietzsche im zwölften Abschnitt der dritten Abhandlung Was bedeuten asketische Ideale in Zur Genealogie der Moral:

Es gibt nur ein perspektivisches Sehen, nur ein perspektivisches »Erkennen«; und je mehr Affekte wir über eine Sache zu Wort kommen lassen, je mehr Augen, verschiedene Augen wir uns für dieselbe Sache einzusetzen wissen, um so vollständiger wird unser »Begriff« dieser Sache, unsre »Objektivität«, sein. (KSA 5, 365)[2]

Diese Stelle kannte Thomas Mann schon in früher Jugend. Er las auch schon früh Nietzsches Aufsatz Über Wahrheit und Lüge im außermoralischen Sinne (KSA 1, 873–890), in dem er die Wörter der Sprache als bloße Metaphern erkennt, denen keine absolute Geltung zukommt. Sprachwerke bilden nicht die allen bekannte reale Welt ab, sondern Zusammenhänge aus einer oder mehreren Perspektiven, die widersprüchlich sein können.

In der Zeit, in der die Astronomie das Universum als auseinanderstrebende Galaxien erkannt hatte, und in der die Evolutionslehre den Menschen als Tiergattung in die Natur einordnete, im 19. und 20. Jahrhundert, griff die industrielle Revolution in die lange herrschende Ordnung von Gesellschaftsklassen ein. Zur Modernität gehört die Bereitschaft, die Veränderungen der Weltsicht einschließlich der Moralität in das Verständnis der Welt aufzunehmen, obwohl die alte Ordnung der Dinge noch immer die Orientierung des Menschen mitbestimmt, ohne absoluten Glauben zu verlangen. Die moderne Weltsicht der Zeit Thomas Manns, wie auch die der Gegenwart des 21. Jahrhunderts, ist durchsetzt von nostalgischen Rückverweisen auf die alte Ordnung. Ausdrücke wie »mein Gott« oder »Gott weiß« benutzen auch moderne Menschen. Sie implizieren nicht mehr die Existenz einer Gottes-Person, die menschliche Sprache spricht, sondern gebrauchen bloß Schatten der alten Bedeutung als Redensarten.

Zu der Bewegung auf die moderne Orientierung hin gehören Autoren der deutschsprachigen Literatur der Moderne, wie Arthur Schnitzler, Gerhart Hauptmann, Hugo von Hofmannsthal, die Brüder Mann, Hermann Hesse, Robert Musil, Bertolt Brecht, Ernst Toller. Sie sind in einer Welt aufgewachsen, in der traditionelle bürgerliche Werte galten, sowie eine Ethik, die auf religiösen Werten beruhte, obwohl metaphysische Wahrheiten bezweifelbar wurden. Moderne Autoren wie die eben genannten betrachteten die »bürgerlichen« Konventionen ihrer Herkunft mit kritischem Misstrauen. Zwar schrieben sie für ihre Leser in der gebildeten Mittelschicht, die Bildungsbürger, jedoch mit der Erwartung oder Hoffnung, dass die bürgerlichen Konventionen sich ändern würden, darunter die Abhängigkeit vom materiellen Besitz, vom Geld, das seit der Französischen Revolution die soziale Ordnung bestimmt, und auch der mindere soziale Rang der Frauen, der ihnen den Zugang zu höherer Bildung verwehrte. Frauen bildeten die Mehrzahl der bürgerlichen Leser. Noch herrschend auf dem Grund von Kirchenlehren war die Verachtung homosexueller Gefühle, die Thomas Mann bekümmerte.

Modernität, wie wir sie in diesem Buch verstehen, ist keine Sache des Sprachstils. Überraschende Neuigkeiten, wie der Stilpluralismus in Alfred Döblins Roman Berlin Alexanderplatz, oder die Essayistik als narratives Mittel in Robert Musils Der Mann ohne Eigenschaften, sind keine Merkmale eines allgemein geltenden Modernismus, sondern eben nur Neuigkeiten. Thomas Manns Verzicht auf avantgardistische Stilexperimente hat sein Werk nicht gehindert, in einer Welt zu bestehen, in der die alte Metaphysik einer von Gott geschaffenen Ganzheit nicht mehr gilt.

Um 1893, Thomas Mann war achtzehn, ließ Bruder Heinrich den vier Jahre jüngeren an seinen Entdeckungen moderner Literatur und der Philosophien Schopenhauers und Nietzsches teilnehmen. Dem müssen wir nachgehen.

Thomas Mann. Die frühen Jahre

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