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Heinrich Mann »überwindet«
den Naturalismus

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Ende 1890, dem ersten Jahr seiner Dresdener Zeit, gewinnt eine neue literarische Mode Heinrichs Aufmerksamkeit. Er liest den Roman Die gute Schule (1890) des Österreichers Hermann Bahr, in dem, wie er Ewers schreibt, die Psychologie »aufs Höchste getrieben« sei. Er fühle sich geistesverwandt mit Bahr und lobt ihn, weil er »so ganz in der Moderne lebt«.[19] An die Stelle realer und wissenschaftlicher Genauigkeit solle eine Psychologie der fiktiven Figuren treten. Heinrich setzte die neue Mode sofort um in seiner Novelle.[20] Die neue Schreibweise wirkt als nervöser Impressionismus, der statt »Sachenstände« »Seelenstände« zeigt.

Bahr, der in Paris gelebt hatte, empfahl als moderne Schriftsteller Joris-Karl Huysmans, Maurice Barrès, Maurice Maeterlinck, Paul Bourget. Heinrich Mann nahm Bourgets Romane zum Vorbild sowie dessen viel gelesene Essays über moderne Schriftsteller, die 1883 als Buch unter dem Titel Essais de psychologie contemporaine zusammengefasst wurden.[21] Paul Bourget verstand sein 19. Jahrhundert als Spätzeit. Dekadenz sei die Modernität des glaubenslosen Lyrikers Charles Baudelaire. Bourgets Modell für die Zeit des Absturzes in den Verfall war das spätrömische Reich, bevor die germanischen Barbaren es zerstörten. Patrizische spätrömische Intellektuelle trugen zum Untergang ihres eigenen Reiches bei, indem sie sich von ihrem Staat abwendeten.[22] Die dekadente Kunst Bourgets will sich nicht wehren gegen die Stärke der Barbaren, ebenso wenig wie Athen den rauen Mazedoniern gewachsen war. Ihre Zukunft findet die Kunst des Verfalls in jungen Künstlern, die das Besondere schätzen. Weil die Dekadenten in ihrer eigenen Welt leben, teilen sie nicht die gängigen Vorurteile und entwickeln eine allseitige Toleranz.

Paul Bourget wählte Ernest Renan, einen Religionswissenschaftler, als Beispiel für die Fähigkeit, sich in viele Glaubensformen einzufühlen, sie gelten zu lassen.[23] Diese Toleranz hat auch im modernen Roman einen Platz. Renan hatte, wie Baudelaire, seinen katholischen Glauben aufgegeben, ohne ihn durch eine Ersatzreligion zu ersetzen. Bourget schätzte an Renan, dass er nicht-christlichen Glaubensformen einen religiösen Wert zugestand. Die Kunst, sich in andere Menschen einzufühlen, nennt er »Dilettantismus«, ein Wort, das ursprünglich wohlhabende Menschen bezeichnete, die Künstlerisches leisteten, ohne von ihren Produkten leben zu müssen. Diese Herkunft hängt dem Begriff noch an: die Dilettanten Bourgets sind oft die Söhne erfolgreicher Väter, die Kunst genießen, aber selbst nicht mehr kreativ sind. Einmal unterscheidet Bourget die modernen Dilettanten von älteren, vielseitig begabten Künstlern wie Leonardo, Montaigne, Shakespeare. Diese waren kreativ, die modernen sind es kaum noch.[24] Der Dilettantismus ist ein Begriff, der zwischen dem Positiven, der Sehweise des Künstlers und dem Negativen, der fehlenden oder schwindenden Kreativität, schillert.

Modern ist auch der Kosmopolitismus, für den der Bourget der Essais den vielgereisten Romanschriftsteller Stendhal (Marie-Henri Beyle) als Beispiel hinstellt.[25] Kosmopolitismus, Multiperspektivismus, die Einfühlung in fremde Welten, gilt als eine Form des Dilettantismus. Mit seinem Roman Cosmopolis (1892) wendet Bourget sich gegen die Praxis des modernen Dilettantismus zugunsten konservativer Werte. Am Ende des Romans empfiehlt ein Altgläubiger einem kosmopolitischen modernen Dilettanten die Rückkehr zu den Sicherheiten des katholischen Glaubens.

Eine Kunst der Dekadenz, die sich wenig um Fortschritt in die Zukunft kümmerte, war attraktiv für den Kaufmannssohn, der in die Kunst entlaufen war. Aber für die Praxis des dilettantischen Kosmopoliten reichte Heinrichs kleine geerbte Rente nicht.

Ich führe das kosmopolitische Leben so gut wie es bei so beschränkten Mitteln, wie die meinen sind, angeht. Ich pflege die verschiedenen Kultursprachen, lebe das Leben der verschiedenen Länder, genieße überall die eigentümliche Kunst; das genügt jedoch nicht. Ich bin an kleine bürgerliche Pensionen gebunden […]. Mein Gesichtspunkt ist kein freier, über den Interessen und unrealisierbaren Wünschen stehender, es ist der der mehr oder weniger leeren Tasche, der durch alle Einbildungskraft und den möglichen Dilettantismus niemals so weit korrigiert werden kann, dass[26] er zu denselben Resultaten gelangt, wie diejenigen einer gesättigten Existenz.[27]

Bourgets Zweifel an dem Wert seiner dekadenten, dilettantischen und kosmopolitischen Freigeistigkeit wurden in den 90er-Jahren – also zu der Zeit, als Heinrich Mann sich für Bourget begeisterte – zu einer entschiedenen Absage an die Modernität. Der Thesen-Roman Le Disciple (1889) lässt einen Philosophen eine positivistische, deterministische Psychologie entwickeln und vertreten. Seine Lehre wird fragwürdig, als er mit der Schuld eines Schülers belastet wird. Der junge Mann hatte sich durch die Lehren des Philosophen von dem katholisch-christlichen Glauben und von der alten Moral befreit gefühlt; er hat sich davon überzeugt, dass nur das eigene Ich wirklich sei und will die Stärke seiner Lehre beweisen, indem er die Tochter eines adligen Hauses dazu bringt, sich in ihn zu verlieben. Die Betrogene tötet sich. Bevor ihr Bruder den Verführer erschießt, hat dieser seinem Lehrer sein Experiment erklärt und den Philosophen erschüttert. Bourget leitet seinen Roman ein mit einem Brief an einen jungen Franzosen, den er aufruft, an der Gesundung Frankreichs nach seiner Niederlage 1871 teilzunehmen. Bourget meinte das in konservativem Sinn, als Gegner der Dritten Republik. Heinrich, der bald selbst konservative Neigungen entwickeln wird, blieb lange Sympathisant Bourgets. Er verstand Le Disciple eher als Bourgets selbstkritische Analyse der Moderne denn als konservatives Manifest.

Thomas Mann. Die frühen Jahre

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