Читать книгу überleben erfolgreich (in genau dieser Reihenfolge) - Herbert Lülsdorf - Страница 16
Kompliziert – Komplex
ОглавлениеKaum jemand kommt auf die Idee, das Verhalten einer Katze mit rationaler Logik zu ergründen. Es fällt uns leicht zu akzeptieren, dass wir das Verhalten einer Katze nicht berechnen können. Die Evolution hat unserem menschlichen Gehirn, das in großen Teilen, dem der Katzen sehr ähnlich ist, einen Teil hinzugefügt, der uns in eingeschränktem Maße zu logischem Denken und Handeln befähigt. Die Hard- und Software des Menschen und der Katze wurden exakt zum gleichen Zweck von der Evolution hervorgebracht. Einziger Zweck ist das Überleben der Art. Die Tatsache, dass wir in beschränktem Maße dazu in der Lage sind, darüber nachzudenken, was wir tun, ist nur ein winziges Special-Feature, das uns von Katzen unterscheidet. Der weitaus überwiegende Teil des menschlichen Verhaltens wird mit den gleichen Programmen gesteuert, die auch Katzen und anderen Säugetieren das Überleben über viele Jahrtausende ermöglicht haben. Den komplexen Prozess in unserem Gehirn, der unsere Entscheidungen hervorbringt, haben wir nicht ansatzweise verstanden. In diesem Prozess werden unergründbare und rationale Erwägungen auf unbekannte Weise vermengt. Rational wird eine Entscheidung erst, wenn wir einem hochkomplexen Prozess eine einfache, bestenfalls logische Erklärung überstülpen.
Wie kann uns das zu der Annahme verleiten, dass menschliches Handeln mit rationaler Logik ergründbar und berechenbar sein könnte?
Wir gehen so vor, weil es die beste Vorgehensweise ist, die uns zur Verfügung steht – nicht, weil es richtig, wahr oder schlau ist.
Selbstverständlich
- Müssen wir die Realität analysieren, um uns ein möglichst realistisches Bild von unserer Umwelt zu machen. Wir hätten ansonsten keine Orientierung, keinen brauchbaren Ausgangspunkt für unser Handeln.
- Müssen wir die Vergangenheit analysieren, wenn wir aus unseren Fehlern lernen wollen.
- Müssen wir die Zukunft planen, wenn wir etwas Bestimmtes erreichen wollen.
- Müssen wir das auf eine logisch nachvollziehbare möglichst intelligente Weise tun.
Wir bezeichnen diese Vorgehensweise als wissenschaftlich, weil sie es uns ermöglicht, Falsches von Wahrem zu trennen. Wie sollen wir sonst diese Unterscheidung treffen, wenn wir nicht auf logische Weise vorgehen? Unseren Gedanken würde das Gerüst fehlen, um die erkannten Zusammenhänge zu ordnen und zu bewerten.
Indem wir die bestmögliche wissenschaftliche Methode anwenden, glauben wir, Wissen zu schaffen. Wie wir erkennen konnten, ist diese Vorgehensweise fehlerbehaftet. Oft erhalten wir ein Ergebnis, bei dem wir nicht wissen können, wie groß die Fehler im Verhältnis zu dem sind, was an unserem Ergebnis wahr ist.
Es gibt Bereiche, in denen wissenschaftliche Methoden viel Wahrheit und geringe Fehler hervorbringen. Das sind die Bereiche, die sich mit komplizierten Problemen befassen. Es sind z. B. die Bereiche der toten Materie, der Technik, in denen die Gesetze der Physik und Mathematik zur Anwendung kommen. Die Zusammenhänge und Wirkmechanismen sind in diesem Bereich bekannt und anhand der bekannten wahren Gesetzmäßigkeiten berechenbar und auch vorhersagbar.
Es gibt Bereiche, in denen der generierte Fehler und die damit verbundene Unwahrheit sehr viel größer sind im Verhältnis zu dem gewonnenen wahren Wissen. Das sind die Bereiche, die sich mit komplexen Problemen befassen. Das sind z. B. die Bereiche, die sich mit dem Lebendigen befassen. Wir müssen in einer komplexen Umgebung nicht nur Fehler hinnehmen, die wir auch in einer komplizierten Umgebung hinnehmen müssen. Die uns zur Verfügung stehenden wissenschaftlichen Vorgehensweisen zwingen uns dazu, auch im Umgang mit Menschen, Katzen und Leguanen logisch nachvollziehbare Erklärungen zu finden. Auch dann, wenn das Verhalten unserer Katze weder logisch, nachvollziehbar, intelligent oder erklärbar ist. Niemand kann wissen, was in den Köpfen vor sich geht. In dem Moment, in dem wir anfangen, darüber nachzudenken, befinden wir uns in einer sehr tiefen Meeresregion. Wir müssen etwas möglicherweise völlig irrational Blödsinniges in unser wissenschaftliches Gerüst zwängen – nur, um es für unser Denken verwertbar zu machen.
Bei einem komplizierten Problem passt unser Denkgerüst zu dem realen Problem. Unsere Theorien basieren hier auf tatsächlichem Wissen. Bei einem komplexen Problem passt unser Denkgerüst bestenfalls näherungsweise zu dem realen Problem. Unsere Theorien können hier die Einflussgrößen niemals vollständig erfassen. Die Werkzeuge, mit denen wir komplexe Probleme behandeln, sind nicht wahres Wissen, sondern unvollständige und fehler-behaftete Theorien. Diese Theorien erzeugen bei Behandlung komplexer Probleme immer zusätzliche Fehler. Diese zusätzlichen Fehler werden sehr schnell so groß, dass man mit dem Ergebnis Gefahr läuft, mehr Fehler als zusätzliches Wissen zu erzeugen.
Beim Umgang mit komplexen Problemen
beruht das Ergebnis immer auf einer gewagten Theorie.
Nur, weil das die beste Methode ist, dürfen wir unsere Augen nicht davor verschließen, dass sie so, wie wir sie anwenden, in weiten Teilen unsinnig und schädlich sein kann.
Wenn wir überleben wollen, müssen wir die Realität so akzeptieren und behandeln, wie sie ist:
Komplex oder kompliziert? Katze oder Waschmaschine?
Komplex bzw. kompliziert steht für grundlegend unterschiedliche Bedingungen, die berücksichtigt werden müssen, weil sie grundlegend unterschiedliche Handlungsweisen erfordern.
Das heißt natürlich nicht, dass wir an der komplexen Realität nichts verändern oder verbessern können. Wenn wir etwas verändern möchten, müssen wir jedoch dort anfangen, wo wir sind, und nicht dort, wo wir sein möchten.
Das Gute am Klimawandel ist, dass viele Menschen verstanden haben, dass unser Wetter ein komplexes System ist. Zum Verständnis wird hier oft der Schmetterlingseffekt angeführt. Dieser besagt, dass in einem komplexen System, alles mit allem ständig interagiert. So kann ein Flügelschlag eines Schmetterlings im Amazonasdelta innerhalb eines komplexen Wettersystems zum Auslöser eines Sturms in der Japanischen See werden. Die Bemühungen eines indianischen Wettermanns, der, um Regen auszulösen, wild mit den Armen herumfuchtelt, sehen wir kritisch. Wir tun seine Bemühungen als Aberglaube ab, auch dann, wenn es anschließend tatsächlich regnet. Ganz anders beurteilen wir den Wirtschaftsminister, der vor laufenden Kameras erklärt, die von ihm veran-lassten Maßnahmen hätten hervorragend funktioniert und seien für die gute Wirtschaftsentwicklung verantwortlich. Wir glauben tatsächlich, dass unser Wirtschaftsminister etwas gekonnt hätte, seine wissenschaftlichen Berater etwas gewusst und zum Funktionieren gebracht hätten. Obwohl auch er in einer komplexen Umgebung nur herumgefuchtelt hat und sich danach das ge-wünschte Ergebnis eingestellt hat. Zugegeben, das Gefuchtel des Wirtschaftsministers könnte etwas näher am Geschehen sein als das des Wettermanns oder des Schmetterlings. Es ist deshalb möglicherweise etwas weniger dem Zufall ausgesetzt. Deshalb jedoch von Funktion zu sprechen, ist Blödsinn. Solche politischen Statements sind irreführend, weil sie uns einen falschen Eindruck von den Einflussmöglichkeiten eines Wirtschaftsministers vermitteln. Wenn wir die Realität akzeptieren, dürfen wir unseren Wirtschaftsminister nicht länger als einen Mechaniker betrachten, der unsere Waschmaschine wieder zum Funktionieren bringt. Tatsächlich steht er mit seinen Tätigkeiten einem indianischen Wettermann näher. Das ist die unvorteilhafte Realität, die wir akzeptieren müssen, auch wenn unsere Politiker und die Medien alles tun, um diese Realität in das vorteilhafte Gegenteil zu verkehren.
Unsere Erwartungshaltung und die Vorstellung von Funktionen in komplexen Systemen sind weitestgehend falsch. Komplexe Systeme erfordern eine komplett andere Betrachtungs-, Planungs- und Vorgehensweise. Sie erfordern auch eine andere Erwartungshaltung bezüglich der Ergebnisse. Wer hier an Funktionen glaubt, behandelt Menschen wie Maschinen. Alle Wissenschaftler, in deren Fachgebiet der Mensch eine Rolle spielt, werden empört bestreiten, dass sie Menschen wie Maschinen behandeln. Trotzdem sind sie natürlich in der Lage, anhand umfangreicher Theorien das menschliche Verhalten zu erklären, zu analysieren, zu berechnen und vorherzusagen.