Читать книгу überleben erfolgreich (in genau dieser Reihenfolge) - Herbert Lülsdorf - Страница 20
Theorie und Praxis
ОглавлениеIn der Theorie sind Theorie und Praxis das Gleiche – In der Praxis nicht!
In der Praxis werden wir gnadenlos mit den Dingen konfrontiert, wie sie sind – mit der Realität. Um uns zurechtzufinden, brauchen wir eine Vorstellung von der Realität. Dazu eignen wir uns Wissen über komplizierte Dinge an und entwickeln Theorien, mit denen wir uns komplexe Dinge erklären. Bei der Konstruktion einer komplizierten Maschine wenden wir auf intelligente, logische Weise theoretisches Wissen an. Wir erhalten so eine Theorie von der Funktion der Maschine. Diese Theorie können wir, wenn wir uns nicht verrechnet haben, in Form einer funktionstüchtigen Maschine in die Praxis umsetzen. In diesem Sonderfall liegen Theorie und Praxis sehr nahe beieinander. In diesem Fall sind umfangreiches und tiefes Wissen und ein intelligentes, logisches Verständnis der Zusammenhänge von großem Nutzen.
Wenn wir vorhaben, ein elektrisches Handrührgerät zu bauen, nicht auf den Kopf gefallen sind und eine geeignete Ausbildung genossen haben, können wir eine Theorie vom Bau eines elektrischen Handrührgeräts entwickeln. Die Chancen, anhand dieser Theorie in der Praxis tatsächlich ein Handrührgerät zu bauen, das dem vorhergesagten Ergebnis entspricht, stehen gut. Man könnte also als Maschinenbauingenieur, der akribisch den Bau eines elektrischen Handrührgeräts geplant hat und schließlich das Gerät am Ende der Fertigung wie geplant in Händen hält, auf die Idee kommen, Theorie und Praxis seien das Gleiche. Um diesen Eindruck nachhaltig zu stören, bedarf es nur eines genaueren Blicks in die Fertigung, wo die Praktiker mit der Umsetzung der Theorie beschäftigt waren. Diese Leute zeigen sich in der Regel wenig beeindruckt von komplizierten Theorien. Sie bauen das Handrührgerät eben nicht genau so, wie wir uns das theoretisch vorgestellt haben, sondern viel einfacher und schneller, aber mit dem gewünschten Ergebnis. In unserer arbeitsteiligen Gesellschaft finden theoretische und praktische Arbeitsabläufe immer weiter voneinander entfernt statt. Jemand, der wie ich als Maschinenbauingenieur theoretisch und als Maschinenbauer des Handwerks praktisch tätig ist, käme im Leben nicht auf die Idee, Theorie und Praxis könnten das Gleiche sein. Trotzdem können wir feststellen, dass Theorie und Praxis gerade in diesen Bereichen sehr nahe beieinanderliegen und sich durch Anwendungen auch komplizierter Theorien hervorragende Ergebnisse erzielen lassen.
Ein weiterer Bereich, der in der Theorie und Praxis oft den Anschein hat, das Gleiche zu sein, ist die Betrachtung der Vergangenheit. Wenn wir basierend auf bekannten Tatsachen die Vorgänge aus der Vergangenheit erklären und eine plausible, nachvollziehbare, logische Theorie entwickeln, fällt es schwer, diese zu widerlegen. Man könnte den Eindruck gewinnen: So muss es gewesen sein. Theorie und Praxis sind das Gleiche. Betrachten wir unser Vorhaben mit dem elektrischen Handrührgerät rückwirkend, so könnten wir Folgendes feststellen. Das sichtbare Ergebnis ist das wie geplant fertiggestellte Handrührgerät. Die vorhandenen Maschinen und Mitarbeiter in der Fertigung geben uns Anhaltspunkte, wie das Handrührgerät möglicherweise gefertigt wurde. Das sind auch die bekannten Größen, die meiner ursprünglichen Planung vom Bau des Handrührgeräts zugrunde lagen. Ich würde also, wenn ich mir die tatsächliche Fertigung in der Praxis nicht angesehen hätte, den Fertigungsvorgang genau so erklären, wie ich ihn ursprünglich logisch und nachvollziehbar geplant hatte. Diese Theorie würde jeder wissenschaftlichen Untersuchung standhalten und könnte nicht widerlegt werden. Und das, obwohl das Gerät tatsächlich viel einfacher und schneller gebaut wurde, als es in dieser Theorie möglich gewesen wäre. Es ist sehr unwahrscheinlich, dass bei einer wissenschaftlichen Über-prüfung ein Theoretiker die schlauen Tricks der Praktiker entdeckt. Mit anderen Worten: Bei der Betrachtung der Vergangenheit sind Theorie und Praxis meistens deshalb gleich, weil die Theorie falsch, jedoch nicht widerlegbar ist.
In komplexen Bereichen stellen wir Theorien an. Wir müssen beim Theoretisieren unsere Gedankengänge so verknüpfen, dass dabei ein nachvollziehbares und schlüssiges Ergebnis herauskommt. Wenn wir uns dabei nicht an die üblichen Regeln der Logik halten, wird das Ergebnis unserer Denkarbeit zwangsläufig beliebig. Wir haben dann keine begründete Theorie, sondern eine nicht nachvollziehbare Meinung. Ist das Ergebnis unserer Denkarbeit eine begründete Theorie, tun wir so, als sei das unvorhersehbare Komplexe eine Maschine, deren Funktion uns bekannt ist.
Wir könnten also die unbegründete Meinung haben, jemand sei ein schlechter und böser Mensch.
Oder wir lassen ein fünfzigseitiges wissenschaftliches Persönlichkeitsgutachten erstellen und beurteilen diesen Menschen anhand dieser logisch wohlbegründeten, differenzierten Theorie von seiner komplexen Persönlichkeit.
Die Frage ist nicht, was ist richtig – die Theorie des Gutachters oder meine Meinung?
Wir brauchen eine Entscheidungsgrundlage, um in einer komplexen Welt handlungsfähig zu sein.
Die Frage lautet, was ist für mich von Nutzen – die Theorie des Gutachters oder meine Meinung?
Bei den unzähligen Handlungen, die jeder Mensch in seinem Leben durchführt, gibt es Grenzen, die nicht überschritten werden sollten. Wenn ich feststelle, dass jemand in meinem Umkreis diese Grenze überschreitet, fällt er bei mir durch ein Raster. Es gibt einige wenige Menschen, die mir in meinem Leben begegnet sind, die durch dieses Raster gefallen sind. Die wenigen Menschen, die sich so in meiner höchst subjektiven Wahrnehmung als Arschlöcher disqualifiziert haben, genießen eine Sonderbehandlung. Sie nehmen an meinem Leben nicht mehr teil. Ich nehme sie weder optisch noch akustisch wahr und denke auch nicht mehr über diese Menschen nach. Auf einer Welt mit Milliarden guter Menschen bin ich nicht gewillt, mich mit Arschlöchern zu beschäftigen. Das ist ungerecht und überheblich. Aber der völlige Entzug meiner Aufmerksamkeit ist für den Betroffenen, wenn überhaupt, keine schlimme Strafe. Dem gegenüber steht ein erheblicher Zugewinn an Lebensqualität, wenn man sich diese Leute vom Hals hält und sich nicht ständig mit ihnen befassen muss.
Menschen wird oft Schubladendenken vorgeworfen. Damit ist die Zuordnung von Menschen oder Sachverhalten in bestimmte Kategorien/Schubladen wie z. B. Wohltäter, Idiot, gut oder böse gemeint. Die Blume auf unserem Tisch können wir danach beurteilen, ob sie eher verkehrsgelb oder leuchtgelb ist. Egal, wie genau man die unendliche Farbpalette kennt, am Ende landet die Farbe der Blume in einer Schublade. Die Blume ist gelb für jemanden, der weniger Farben kennt, und hellgrau für jemanden der farbenblind ist. Für jemanden, der sich für Farben überhaupt nicht interessiert, ist die Blume weiß. Auch wenn wir uns mit komplexen Sachverhalten beschäftigen, die wir niemals in ihrer Komplexität erfassen können, urteilt jeder Mensch in Schubladen. Etwas anderes als Schubladendenken steht uns leider nicht zur Verfügung. Egal, wie sehr wir etwas differenzieren - in dem Moment, in dem wir ein Urteil oder eine Entscheidung fällen, landet es in einer Schublade, die den Sachverhalt niemals vollständig oder richtig erfassen kann. Die Anzahl der Schubladen oder wie sehr wir differenzieren können, hängt von unseren Fähigkeiten ab. Es kommt aber auch darauf an, ob wir in der Realität mit vielen Schubladen besser klarkommen als mit wenigen. Ein intellektuell höchst differenziertes Schubladensystem kann sich leicht als unpraktisch erweisen. Wenn wir entscheiden müssen, ob wir etwas tun oder lassen sollen, und wir haben das Ergebnis der diesbezüglichen Überlegungen in einer Schublade abgelegt, die irgendwo im Niemandsland zwischen Tun und Lassen zu verorten ist, haben wir keine Entscheidungs-grundlage und wir sind nicht handlungsfähig. Jemandem Schubladendenken vorzuwerfen, zeugt von der Überheblichkeit eines Theoretikers, der anderen Menschen vorwirft, so gut, wie es ihm möglich ist, in der Realität klarzukommen.
In einer komplexen Umgebung erscheint es weit weniger Erfolg versprechend, sein Denkvermögen für die Entwicklung komplizierter Theorien aufzuwenden. Theorien sind notwendigerweise logisch nachvollziehbar, also kompliziert, eine komplexe Umgebung ist dies eben nicht. Es ist wichtig, das zu erkennen und zu akzeptieren. Theorien sind hier grundsätzlich unvollständig und können mit der Praxis bestenfalls behelfsmäßig übereinstimmen. Trotzdem brauchen wir Theorien. Sie sind der Stock, mit dem wir im dichten Nebel der ungewissen Realität herumstochern, um uns zu orientieren. Unsere Theorien müssen nicht logisch und nachvollziehbar sein, damit wir selbst etwas damit anfangen können, damit wir wenigstens eine Vorstellung davon haben können, wo und wie lang der Stock ist, mit dem wir uns der Realität nähern wollen. Theorien sind immer nur ein Hilfsmittel und dürfen auf keinen Fall wie Wissen oder Wahrheit behandelt werden. Realität ist Wahrheit. Wissen beschreibt den Teil der Wahrheit, den wir verstanden haben, nachvollziehen und vorhersagen können. Der überwiegende Teil der Realität bleibt im Ungewissen. Wir können uns diesem Teil nur mit Theorien ohne eigenen Wahrheitsanspruch nähern. Theorien können uns dabei helfen, die Schleifen aus Versuch und Irrtum, die unser Handeln in einer komplexen Umgebung zwangsläufig erzeugt, in die gewünschte Richtung zu lenken. Sie helfen uns, Fehler zu erkennen und zu korrigieren.
In der komplexen Realität ist Theorie das, was uns dabei hilft, uns an dem, was wir als Realität wahrnehmen, zu orientieren, die Fehler, die wir machen, zu erkennen und zu korrigieren, nicht mehr, aber auch nicht weniger.
Wer in der Lage ist, Theorien zu entwickeln, und sie dazu einsetzt, wozu sie geeignet sind, verfügt über eine wunderbare Gabe. Wer Theorien entwickelt und sie wie Wissen behandelt, muss sich abwertend als Theoretiker bezeichnen lassen, was im Gegensatz zum Praktiker berechtigterweise als Beschimpfung empfunden wird.
Es gibt Menschen, Theoretiker, Besserwisser, die alles wissen und nichts können, außer mit dem Finger auf andere zu zeigen. Diese Menschen dürfen regelmäßig für sich in Anspruch nehmen, recht gehabt zu haben. Darüber hinaus müssen sie leider häufig feststellen, dass sie in ihrem Leben nichts erreicht haben oder gescheitert sind. Und auch hierfür hat diese Art von Theoretiker immer mehrere höchst plausible Theorien bzw. Ausreden und Schuldige parat. Sie leben in ihrer eigenen Theorie. Auch die perfekteste Theorie bleibt billige, nutzlose Rechthaberei, wenn sie nicht in die Praxis umgesetzt wird.
Theorien zählen nichts – nur das, was man daraus macht, zählt => machen!
Die Wissenschaft wird in unserer modernen Gesellschaft als der Heilige Gral, als Grundlage für unser Handeln angesehen. Der Prozess von Analyse – Prognose – Planung ist zur Grundlage unseres Denkens und Handelns geworden. Dieser Prozess kann ein für unser Handeln wertvolles Ergebnis liefern, so wie bei der Rakete. Das Ergebnis kann für uns jedoch auch völlig nutzlos sein, wie bei dem psychologischen Gutachten. Das Ergebnis kann auch schädlich für uns sein, wenn der beinhaltete Fehler, das Risiko größer als das Wissen ist oder wenn wir das Risiko eines Ergebnisses ignorieren. Wir machen einen großen Schritt in Richtung Überleben, wenn wir die Wissenschaft und den wissenschaftlichen Prozess nur dort anwenden, wo es für uns nützlich ist, und auch nur dann, wenn sich die damit verbundenen Risiken nicht vermeiden lassen. Mit dieser Erkenntnis nähern wir uns dem Wissen der Praktiker. Das Wissen der Praktiker hat so wie die Wissenschaft auch einen eigenen Prozess hervorgebracht. Der Prozess der Praktiker unterscheidet sich erheblich von dem der Wissenschaft. Der Prozess der Praktiker ist entscheidend für unser Überleben und dauerhaften Erfolg.