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1.1.3 Lernprozessqualität: Die Lernkultur

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Vergegenwärtigt man sich den aktuellen Diskurs über Aufgaben, dann lässt sich festhalten, dass der Fokus auf der Analyse des kognitiven Potenzials bzw. der schwierigkeitsgenerierenden Merkmale von Einzelaufgaben liegt, wobei es bei der Bestimmung des »objektiven Schwierigkeitsgrades« in der Regel um Urteile von Expertinnen und Experten geht. Dass damit die Frage nach der Qualität von Aufgaben abschließend geklärt sei, ist zu bezweifeln. Denn was die Qualität einer Aufgabe ausmacht, hängt auch wesentlich davon ab, über welche Voraussetzungen die einzelnen Lernenden zu deren Lösung bereits verfügen, das heißt, welche Funktion im Lernprozess die Aufgabe einnimmt:

Zieht man Bilanz aus dem aktuellen Diskurs über Lernaufgaben, lässt sich festhalten, dass der Fokus auf der Auseinandersetzung mit Einzelaufgaben und auf der Betrachtung von (kategorisierten) Einzelaufgaben in »Aufgaben-Mengen« besteht. Bislang weitestgehend ausgeklammert wurde eine systematische Auseinandersetzung mit Lernwegen zum Aufbau von Kompetenzen und ihrer Strukturierung durch Lernaufgaben. (Schmit, Peters & Kiper, 2014, S. 25, Hervorhebung im Original)

Parallel zu der Diskussion um die Aufgabenqualität einzelner Aufgaben muss daher die Frage geklärt werden, auf welche Weise durch geeignete Aufgabenreihung der Lernprozess der Schülerinnen und Schüler strukturiert werden soll.

Für die Strukturierung von Lernprozessen wurden in der Vergangenheit unterschiedliche Modelle vorgeschlagen. Im deutschsprachigen Raum gilt das von Herbart (1776–1841) entwickelte Formalstufenmodell als erstes Lernstruktur-Modell (vgl. Herbart, 1922, S. 169–174):

1.Stufe der Klarheit, auf der die Lehrkraft den Lerngegenstand exponiert;

2.Stufe der Assoziation, auf der den Schülerinnen und Schülern neue Wissenselemente angeboten werden, die sie mit ihren bisherigen Erfahrungen und Denkweisen verbinden;

3.Stufe des Systems, auf der die Lernenden die neu erworbenen Vorstellungen und Kenntnisse in den bereits vorhandenen Wissensbestand einordnen;

4.Stufe der Methode, auf der das neu erworbene (assoziierte) und eingeordnete (systematisierte) Wissenselement eingeübt und angewendet wird.

Diese Grundfigur hat Aebli (1923–1990) aufgegriffen (vgl. Aebli, 1997), um einen vollständigen, verstehensorientierten Lernprozess auf der Tiefen­struktur des Unterrichts zu modellieren. In seinem PADUA-Modell stehen »P« und »A« für »Problem« und »Aufbau« oder zusammengenommen für »Problemlösender Aufbau«, »D« für »Durcharbeiten«, »U« für »Üben und Wiederholen« und »A« für das Anwenden der entwickelten Kompetenzen in einem anderen Kontext. Kompetenzförderndes Unterrichten kann somit – aus der Perspektive der Lernenden betrachtet – als ein Durchlaufen vollständiger Lernprozesse beschrieben werden (vgl. Reusser, 2014, S. 92). Steiner (2010, S. 69) reflektiert das katalytische Potenzial von Aufgaben für unterschiedliche Phasen eines adaptiven Lernprozesses.

Aufgaben als Dreh- und Angelpunkt schulischen Lernens müssen, um die Strukturmomente vollständiger Lernprozesse im Unterricht tatsächlich gewährleisten zu können, nach ihren Funktionen unterschieden werden. Beispielsweise braucht es Erarbeitungsaufgaben zum Aufbau oder Übungsaufgaben zum Festigen und Vertiefen von Kompetenzen. Für die Mathematik haben Prediger et al. (2013, S. 770) hierzu ein mehrperspektivisches Strukturierungsmodell entwickelt, das im Lehrwerk »Mathewerkstatt«[7] zur Anwendung kommt. Darin werden vier Aufgabenformate unterschieden: Aufgaben zum Anknüpfen, zum Erkunden, zum Ordnen und zum Vertiefen.

Eine breite Beachtung hat das Modell des Lehr-Lern-Prozesses nach Leisen (2010, S. 60) gefunden. Die Schülerinnen und Schüler haben gemäß diesem Modell zunächst die »Aufgabe«, die Problemstellung (Fragestellung, Thema, Aufgabe, Relevanz usw.) zu entdecken und zu entfalten. Die Konfrontation mit einer passenden »kalkulierten Überforderung« als einer Form der Störung wird bewusst dazu genutzt, die Lernenden zunächst in ein kognitives Ungleichgewicht zu bringen (1). In einem zweiten Schritt werden Vorstellungen darüber entwickelt, wie das Problem gelöst werden kann. Damit soll das Vorwissen reaktiviert werden (2). Im dritten Schritt erhalten die Schülerinnen und Schüler Informationen und Lernmaterialien, die ihnen helfen sollen, neue Erkenntnisse zu gewinnen, sie besser zu verstehen und zu erweitern. Der Lernzuwachs ist jedoch noch instabil (3). Er muss daher in einer weiteren Phase einerseits stabilisiert, andererseits vernetzt und erweitert werden (4). Im fünften Schritt wird der Lernzuwachs bestimmt, und es wird erprobt, ob er einem handelnden Umgang standhält (5). Zuletzt wird das in einem bestimmten Kontext Gelernte eventuell in einem anderen Kontext oder auf andere Beispiele angewendet (6). Gemäß Leisen (2010) sollte die Aufeinanderfolge einzelner Aufgaben in einer »Lern­umgebung zur Kompetenzentwicklung« (ebd., S. 60) eine Verlaufsstruktur aufweisen, die auf die Logik des Lehr-Lern-Prozesses ausgerichtet ist. Dieser Gedanke wird im vorliegenden Band verfolgt und weiterentwickelt. Denn es leuchtet ein, dass die einzelnen Aufgaben klar durch ihre Funktionen im Lehr-Lern-Prozess bestimmt sind. Im Folgenden wird daher eine Aufgabensammlung, die mit der Logik des Lehr-Lern-Prozesses korrespondiert, als Aufgabenset bezeichnet.

Fazit: Der Kompetenzaufbau ist ein Lernprozess, der Zeit braucht und stets über mehrere Stationen erfolgt. Zum Lernen werden funktional unterscheidende Aufgabenstellungen benötigt. Es ist sinnvoll, die Aufgaben entlang ihrer didaktischen Funktion im Lernprozess auszurichten. Dabei hilft die Orientierung an Lernprozessmodellen, weil sie vollständige Lernprozesse modellieren. Als Aufgabensets werden Aufgabensammlungen bezeichnet, die sich an solchen Lernprozessmodellen orientieren. Lehrkräfte sind gefordert, neben der didaktischen Funktion einzelner Aufgaben auch die damit verbundenen Bearbeitungsprozesse als Ganzes zu erkennen.

Kompetenzförderung mit Aufgabensets

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