Читать книгу Kompetenzförderung mit Aufgabensets - Herbert Luthiger - Страница 12
1.1.4 Qualität der Aufgabensituation: Die Dialog- und Unterstützungskultur
ОглавлениеGrundsätzlich müssen Schülerinnen und Schüler ihre Kompetenzen selbst aufbauen und entwickeln, indem sie sich im Unterricht aktiv mit den Lerninhalten auseinandersetzen. Gemäß dem Angebot-Nutzungs-Modell kann keine noch so versierte Lehrkraft ihnen diese Arbeit und die damit verbundenen Anstrengungen abnehmen. Trotzdem brauchen sie qualifizierte Lehrkräfte, die ihnen eine hohe Aufmerksamkeit und Sensibilität für Verständnisprobleme entgegenbringen. Bereits bei der Unterrichtsvorbereitung hat die Lehrkraft deshalb die Denk- und Verstehensprozesse der Schülerinnen und Schüler, die durch die Aufgabe nahegelegt werden, zu antizipieren (am besten, indem sie die Aufgabe zunächst selbst einmal löst).
In der Aufgabensituation geht das Handeln der Lehrkraft mit einer Lernunterstützung und -begleitung einher, bei der sie argumentative und diskursive Prozesse fördert, vertieftes Verstehen des Inhalts und die Vernetzung von Wissen ermöglicht. Ein Konzept der konstruktiven, aufgabenbezogenen Lernunterstützung erfordert von der Lehrkraft somit 1. das Lesen von Lernspuren, 2. strukturierende Maßnahmen, 3. Rückmeldungen sowie 4. eine Haltung, die Schülerinnen und Schüler als autonome Persönlichkeiten schützt und wertschätzt (vgl. Cornelius-White, 2007, S. 134).
1. Weil sich die Kompetenz als Disposition einer Person erst in der Performanz zeigt, also in der Art und Weise bzw. im Grad der Bewältigung einer Anforderungssituation, müssen die Schülerinnen und Schüler in Performanzsituationen verwickelt werden, damit sich ihre bisherigen Kompetenzen zunächst einmal zeigen – damit Sie anschließend weiterentwickelt werden können. Solche Performanzsituationen werden im schulischen Unterricht mehrheitlich über Aufgaben realisiert und strukturiert, weil sie einen Einblick in die Vorstellungen, Erfahrungen und Kompetenzen – und so in das Lernen – der Schülerinnen und Schüler geben: Aufgaben machen im besten Sinne von Hatties (2009) Kernbotschaft das Lernen sichtbar. Von der Lehrkraft erfordert dies jedoch eine beträchtliche interpretative Arbeit. Einerseits gilt es, die Lernspuren zu lesen, andererseits sind die Erkenntnisse diagnostisch in die Lernunterstützung und in die weitere Planung einzubinden. Deutlich wird, dass die Gestaltung von Aufgabensituationen ein personales Geschäft ist, bei dem es erstens um aufgabenbezogene Lehr-Lern-Dialoge und zweitens um eine adaptive pädagogische Lernunterstützung geht.
2. Neben dem Lesen von Lernspuren gehören zu einer aufgabenbezogenen Lernunterstützung strukturierende Maßnahmen, wie sie in der Literatur zum Scaffolding beschrieben sind (vgl. z. B. Hogan & Pressley, 1997; Pea, 2004). Dabei kann zwischen Prompts und Coaching-Moves unterschieden werden. Prompts sind Anleitungen, Denkanstöße und andere Hilfestellungen, die den Schülerinnen und Schülern helfen, ihr Potenzial an Kenntnissen und Fähigkeiten möglichst optimal auszuschöpfen (vgl. Bannert, 2009, S. 139). Sie vermitteln kein Wissen, sondern geben Impulse, um das bereits vorhandene Wissen zu aktivieren: »Beschreibe zuerst …!«, »Zeige auf …!«, »Ermittle …!«, »Ordne zu/ein …!«, »Gib wieder …!«, »Fasse (thesenartig) zusammen …!«, »Zeichne/Skizziere …!« u. Ä. (vgl. Brodengeier, 2007). Prompts dienen der Überwindung eines Produktionsdefizits, nicht der Demonstration eines Verfügbarkeitsmangels (vgl. Wirth, 2009, S. 91), indem sie die Bewältigung einer bestimmten Aufgabe vereinfachen. Mithilfe von Coaching-Moves gestaltet die Lehrkraft dagegen Dialoge ko-konstruktiv und unterstützt die Lernenden darin, eigene Vorschläge, Begründungen und Sichtweisen einzubringen: »Nimm Stellung …!«, »Warum …!«, »Wieso …!«, »Begründe …!«, »Beurteile …!«, »Reflektiere …!«, »Charakterisiere …!« u. Ä. (vgl. Brodengeier, 2007). Ein solches Repertoire hilft der Lehrkraft, mündlich in Form von Lerndialogen oder schriftlich in Form von Lernkarten-Prompts auf der Oberflächenstruktur der Lernbegleitung eine aufgabenbezogene Unterstützung zu installieren; beides ist aber nicht hinreichend für eine Lernbegleitung mit tiefenstruktureller Wirkung auf den Lernprozess (vgl. Reusser, 2014, S. 96) – hier sind die Lehrkräfte im Analysieren und Diagnostizieren von Lernspuren gefordert.
3. Der Prozess des Kompetenzerwerbs als ein eigenaktiver Lernprozess ist komplex und somit auf Rückmeldungen (Feedback) angewiesen: Lernende und Lehrende müssen wissen, welches Wissen, welche Verfahren usw. bereits gefestigt sind, damit weitere Schritte darauf aufgebaut werden können. Die Rückmeldung gehört gemäß der Studie von Hattie (2009, 2013; Hattie & Timperley, 2007) zu den einflussreichsten Faktoren für den schulischen Lernerfolg. Doch nicht jede Rückmeldung ist automatisch wirksam. So gibt beispielsweise die sachliche Rückmeldung »Das ist falsch!« der Schülerin oder dem Schüler zwar objektiv den Hinweis, dass er oder sie die Aufgabe falsch gelöst hat, wird aber darüber hinaus sehr wohl auch als persönlicher Misserfolg aufgefasst. Diese Deutung wird noch verstärkt, wenn einerseits keine weiteren inhaltlichen Informationen folgen oder Mitschülerinnen oder Mitschüler mit einer entsprechenden Bemerkung aufwarten. Nach Hattie (2013, S. 209) greift eine wirksame Rückmeldung die Stufen der Aufgabe, des Prozesses und der Selbstregulation auf. Auch Jacobs (2008) verweist in seinen Forschungsarbeiten auf die Überlegenheit eines sachorientierten Feedbacks mit Hinweisen auf Fehler und deren Überwindung gegenüber einer rein motivationalen Rückmeldung:
Motivationales Feedback kann sachorientiertes Feedback nicht ersetzen, aber sinnvoll ergänzen und vermutlich zu einer Verbesserung der Lehrer-Schüler-Interaktion beitragen. Deshalb sollte z. B. ein Lob des Lehrers die sachbezogenen Aspekte der Aufgabe einbeziehen, hierbei wertschätzende Anerkennung guter Leistung mit aufgabenrelevanten Argumenten verknüpfen, vornehmlich an individueller Bezugsnorm orientiert sein und konstruktive Kritik zur Überwindung von Fehlern anbieten. (Jacobs, 2008, S. 109)
Rückmeldungen sind von verschiedenen Seiten und auf unterschiedliche Weise möglich. Üblicherweise gibt die Lehrkraft Rückmeldungen. Inzwischen liegen aber vielfältige Formen der Selbst- (z. B. Portfolios, Lernjournale, Lerntagebücher) und der Fremdbeurteilung durch Mitschülerinnen und -schüler (z. B. Textlupe, wandernde Texte) vor.
4. Grundlage für eine aufgabenbezogene Lernbegleitung ist die Qualität der Beziehung zwischen der Lehrkraft und den Lernenden, die sich in emotionaler und motivationaler Lernunterstützung konkretisiert. Weil der Aufbau von Kompetenzen aus Sicht der Lernenden mehrere und unterschiedliche Aktivitäten einschließt – Kontakt herstellen, Aufmerksamkeit auf einen Lerngegenstand richten, Informationen aufnehmen, diese mit dem eigenen Vorwissen verknüpfen, Strukturen bilden, eigene Schlüsse ziehen usw. – und somit elaborierende Lernprozesse bedingt, ist den Lernenden in dieser Phase explizit das Recht auf Fehler einzuräumen. Vor allem in Situationen, in denen Aufgaben bearbeitet werden, können Lehrkräfte entscheidend dazu beitragen, positive Bedingungen für das Lernen zu schaffen, indem sie Fehlersuchprozesse anregen und mit den Schülerinnen und Schülern über gelungene und misslungene Versuche nachdenken. Dies erfordert von der Lehrkraft eine aktivierende physische und psychische Präsenz, aus der heraus sich ein niederschwelliges und lösungsorientiertes Interventionsverhalten gestalten lässt.
Die Lehrkraft benötigt für die aufgabenbezogene Lernbegleitung ein ganzes Bündel von fachlichen, fachdidaktischen, diagnostischen, kommunikativen und sozialen Kompetenzen. Lepper, Drake und O‘Donnell-Johnson (1997) fassen dieses Kompetenzbündel in ihrem INSPIRE-Modell wie folgt zusammen (Abbildung 1.4):
Fazit: Aufgaben sind selten didaktische Selbstläufer. Vor allem für mittlere oder schwächere Schülerinnen und Schüler ist eine klug dosierte aufgabenbezogene Lernbegleitung wichtig. Diese setzt voraus, dass Lehrkräfte Schülerinnen und Schüler beim Aufgabenlösen beobachten und sich über die individuellen Lernvoraussetzungen und die spezifischen Anforderungsstrukturen von Aufgaben ins Bild setzen, damit sie zu einer kognitiv empathischen und wirksamen Lernbegleitung fähig sind. Ob Aufgaben ihr Lernpotenzial entfalten, hängt nicht nur von der Aufgabenstellung ab, sondern auch von einer auf fachliche Lerntiefe zielenden didaktisch-methodischen Unterstützung.