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Vorwort
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Aufgaben und Lernaufträge als Aufforderungen zur Auseinandersetzung mit einem Gegenstand prägen seit jeher das Lernen in Bildungsinstitutionen. Dennoch ist ihnen lange Zeit in der Didaktik nur geringe Aufmerksamkeit zugekommen. Dies hat sich in den vergangenen Jahren stark geändert. Das Thema »Weiterentwicklung der Aufgabenkultur« ist fachübergreifend besonders aus zwei Gründen in den Fokus der Unterrichtsentwicklung gerückt: zum einen durch die Analyse der in internationalen Videostudien hervorgetretenen, teils eklatanten Qualitätsdefizite der im Unterricht bearbeiteten Aufgaben (z. B. in der TIMSS-Video-Studie: mehr als zwei Drittel der Mathematikaufgaben sind Repetitionsaufgaben auf niedrigstem Komplexitätsniveau) und zum andern durch die Expertise zu den Bildungsstandards,[1] in deren Rahmen Aufgaben als zentrale Träger von Kompetenzerwartungen begriffen werden.
Der vorliegende Band nimmt diese sowie weitere aus der Unterrichtsforschung gewonnene Erkenntnisse auf, wonach Aufgaben als didaktisch inszenierte Lerngelegenheiten eine Schlüsselfunktion für einen kompetenzfördernden Unterricht zukommt, und konkretisiert diese Erkenntnisse in einem Grundlagenkapitel sowie in zahlreichen, das Fächerspektrum der Volksschule abdeckenden fachdidaktischen Beiträgen auf der Grundlage einer psychologisch-didaktischen Prozessvorstellung qualitätsvoller und vollständiger Lernprozesse.
Was sind hochwertige Aufgaben? Durch gehaltvolle Aufgaben und Lernmaterialien werden kulturell bedeutsame Bildungsinhalte pädagogisch konkretisiert und zu Ausgangspunkten des fachlichen und überfachlichen Lernens. Inhaltlich und methodisch durchdachte Aufgabenstellungen motivieren dazu, sich mit einem Stoff zu beschäftigen, und bilden als Impulse zur angeleiteten und zur selbstständigen Auseinandersetzung mit Gegenständen den Motor förderlicher Lernumgebungen. Gute Aufgaben materialisieren dabei jene Wissens- und Denkstrukturen und lenken den Blick auf jene Begriffe und Zusammenhänge, um die es in einem Fach geht. Bei didaktisch intelligenter Inszenierung stimulieren Aufgaben jene Prozesse des Verstehens, Denkens und Handelns, durch die sich erwünschte fachliche und transversale (soziale, methodische, personale) Kompetenzen im Unterricht entwickeln können.
Inhaltlich und methodisch attraktive Lernaufträge und Aufgaben bilden das Rückgrat von Lehrmitteln und Lernarrangements in fast allen Domänen: für die Schülerinnen und Schüler als Quellen der Motivation, als Gelegenheiten, sich auf Phänomene und Gegenstände einzulassen, für die Lehrkräfte als Dreh- und Angelpunkt der Unterrichtsplanung, der Unterrichtssteuerung und Lernunterstützung sowie der Überprüfung von Lernergebnissen. Eine Aufgabenkultur, die es darüber hinaus ermöglicht, die Unterrichtsaktivität stärker auf die Seite der Schülerinnen und Schüler zu verlagern und ihnen eine aktive Rolle zu geben, leistet zudem einen wichtigen Beitrag zu einer an Selbstständigkeit und der Übernahme von Verantwortung für das eigene Lernen orientierten Schule.
Im Einzelnen zeichnen sich ertragreiche Aufgaben in allen Fächern durch eine Reihe von Qualitätskriterien aus. Gute Aufgaben
•repräsentieren Kernideen eines Faches und erfordern zu ihrer Bearbeitung fachspezifische Kompetenzen;
•eröffnen Zugänge zu fachspezifischem Verstehen und zu Denkformen eines Faches;
•wecken durch Alltagsnähe, Anschaulichkeit, Überraschungsmomente und kognitive Konflikte die Neugier und motivieren dazu, Denkimpulse auszuagieren und sich auf einen Gegenstand einzulassen;
•laden ein zu tiefem Verstehen und Problemlösen und zum Austausch darüber;
•erlauben multiple Denk- und Lernwege und lassen sich auf unterschiedlichen Niveaus lösen;
•haben (Selbst-)Differenzierungseigenschaften und eignen sich für schwächere und stärkere Schülerinnen und Schüler;
•ermöglichen aktives und selbstständiges, individuelles und kooperatives Lernen und fördern damit auch die Kultivierung überfachlicher Kompetenzen;
•zielen auf ein materielles oder immaterielles Lernprodukt (Erklärung, Ergebnistext, grafische Darstellung, Flussdiagramm, Arbeitsplan, Begriffsnetz), das ausgewertet, diskutiert und gegebenenfalls weiterentwickelt werden kann;
•lassen Raum für Mitbestimmung und Mitgestaltung hinsichtlich der Lerninhalte und Lernwege (enge, halb offene und offene Aufgabenstellungen).
Selbstverständlich kann nicht jede einzelne Aufgabe alle Merkmale erfüllen. Wichtig ist, dass Aufgaben von den Lernenden als bedeutsam wahrgenommen werden und motivierend wirken. Weiter können die Kriterien dazu dienen, Lernaufträge und Aufgaben bewusst zu gestalten und möglichst adaptiv auf die Lernstände und Bedürfnisse von Schülerinnen und Schülern auszurichten.
Lehrkräfte stehen fast täglich vor der voraussetzungsreichen Aufgabe, an die Ansprüche ihrer Lernenden angepasste Aufgabenstellungen bereitzustellen und – zumal Lernaufgaben selten »didaktische Selbstläufer« sind – deren Bearbeitung in heterogenen Lerngruppen fachdidaktisch adaptiv zu unterstützen. Dazu müssen Lehrkräfte die Potenziale und Verständnisherausforderungen von Aufgaben erkennen (Ausloten des task space/Aufgabenraumes), und sie müssen sich darauf vorbereiten, leistungsstarke und -schwache Schülerinnen und Schüler durch Zusatzimpulse und abgestufte Hilfestellungen zu unterstützen. Ob Aufgaben ihr Lernpotenzial im Unterricht tatsächlich entfalten, hängt nicht nur von den Aufgabenstellungen selbst, sondern auch von ihrer auf fachliche Lerntiefe zielenden und zugleich auf unterschiedliche Lernvoraussetzungen Rücksicht nehmenden didaktisch-methodischen Unterstützung ab. Fragen, die sich in dem Zusammenhang stellen, sind: Welches ist der (über-)fachliche Bildungs- und Kompetenzwert der Aufgabe? Welche exemplarischen fachlichen Einsichten und Fähigkeiten lassen sich gewinnen? Welche Potenziale bietet die Aufgabe in Hinsicht auf die Übung (verallgemeinerbarer) methodischer, sozialer und personaler Kompetenzen? Welche Verständnisschwierigkeiten sind zu erwarten? Welche altersgerechten Möglichkeiten bietet die Aufgabe hinsichtlich der Art und Weise, in der sie gestellt, methodisch bearbeitet, differenziert und (sozial) unterstützt werden kann? Seit Klafkis Leitfragen zur didaktischen Analyse[2] gehört die Beantwortung dieser Fragen zum Kern der Unterrichtsvorbereitung von Lehrkräften.
Die fachdidaktischen Beiträge des Bandes widmen sich auf exemplarische Weise diesen Fragen. Sie leisten damit einen wertvollen Beitrag zur Lehrer- und Lehrerinnenbildung und zu einem fachdidaktisch gehaltvollen, kompetenzfördernden Unterricht.
Prof. Dr. Kurt Reusser, Universität Zürich