Читать книгу Kompetenzförderung mit Aufgabensets - Herbert Luthiger - Страница 15
1.3.1 Konfrontationsaufgaben (→ Ka)
ОглавлениеEpistemologische Funktion: Die epistemologische Qualität von Konfrontationsaufgaben besteht darin, gezielt an bereits vorhandenen Vorstellungen und Vorerfahrungen der Schülerinnen und Schüler und an deren Vorstellungen hinsichtlich domänenspezifischer Begriffe, Phänomene und Prinzipien anzuknüpfen. Diese Vorstellungen und Erfahrungen dürfen nicht vorschnell an fachlichen Normen gemessen und als falsch betrachtet werden, da sie sich im bisherigen Denken bewährt haben. Spätestens seit der konstruktivistischen Wende besteht in der Lerntheorie Konsens darüber, dass Menschen stets auf Basis ihrer bisher gesammelten Erfahrungen wahrnehmen, denken, sprechen und Neues dazulernen. In der Bearbeitung von Konfrontationsaufgaben nutzen die Schülerinnen und Schüler ihre Erinnerung an individuelle Erlebnisse, Erfahrungen – vielleicht auch »Angelesenes«, sie stoßen dabei auf Schwierigkeiten und äußern ihre Intuitionen. Das führt dazu, dass sie Fragen aufwerfen, die an diese Erfahrungen anknüpfen und für sie ein neues Erfahrungsfeld öffnen.
Mit dem Aufgreifen existierender Vorerfahrungen ist in epistemologischer Hinsicht der Anspruch verbunden, zu irritieren, neugierig zu machen auf etwas Unbekanntes, eine Fragehaltung oder ein Problembewusstsein zu entwickeln – und um kumulatives Lernen und Selbststeuerung im Erkenntnisprozess insgesamt zu ermöglichen. Daher ist es wichtig, dass Konfrontationsaufgaben mit der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler in Verbindung stehen oder ein innerfachliches Problem manifestieren, das sie als Problem zu identifizieren bereits in der Lage sind. Es geht bei einer Konfrontationsaufgabe also gerade nicht um das nachvollziehende Verstehen eines nahezu Bekannten, sondern im Gegenteil um die Begegnung mit etwas Fremdartigem, Mehrdeutigem, Anderem. Daher steht bei Konfrontationsaufgaben auch nicht das didaktische Zurichten von komplexen Sachverhalten im Vordergrund, sondern umgekehrt die Präsentation und Entfaltung eines komplexen Sachverhaltes samt seiner Fragwürdigkeit.
Ein Einstieg in einen Lernprozess, in dem Faktenwissen dargelegt wird, erzeugt in der Regel bei den Schülerinnen und Schülern nur wenig Unruhe und kaum Staunkraft. Darauf hat bereits Dewey (1859–1952) aufmerksam gemacht:
Das Denken nimmt seinen Ausgang von einer Beunruhigung, einem Staunen, einem Zweifel. Es ist kein Akt spontaner Entladung, es vollzieht sich nicht nach »allgemeinen Gesetzen«. Es muss ein ganz bestimmter Anlass vorhanden sein, um es auszulösen. Ein Kind oder einen Erwachsenen ganz allgemein zum Denken aufzufordern, ohne dass vorher in irgendeiner Form das Gefühl einer Schwierigkeit empfunden wurde, das sein Gleichgewicht erschüttert, ist daher vollkommen sinnlos. (Dewey, 2002, S. 15)
Änlich der Pädagoge Rumpf: »Es gibt eine Staunkraft, die sich am Phänomen entzündet und die sich nicht durch Abstraktionen entkräften lässt« (Rumpf, 2010, S. 38). Bei Konfrontationsaufgaben stehen deshalb nicht Darstellungen von Fachwissen im Zentrum, sondern Phänomene, Probleme oder fachliche Impulse, deren erste mögliche und sinnvolle Beantwortung vor dem Hintergrund des Vorwissens und der Vorerfahrungen der Lernenden verstanden werden kann. Die Schülerinnen und Schüler erleben die Konfrontationsaufgabe somit als Gelegenheit für eine »singuläre Standortbestimmung« (Ruf & Gallin, 1998, S. 27).
Didaktische Funktion: Der Kontakt mit einer lebensweltlichen Situation oder einem fachauthentischen Problem regt die Schülerinnen und Schüler zum Fragen an, macht sie neugierig, irritiert sie, lässt Assoziationen zu, weckt das Bedürfnis, etwas Neues zu verstehen oder etwas Neues zu können. Er regt zum Austausch an. Die Fragen der Schülerinnen und Schüler rufen Alltagskonzepte und Alltagskompetenzen auf und aktivieren die Auseinandersetzung mit der Sache: Diese Auseinandersetzung muss sich lohnen! Hier spielen inner- und außerfachliche Kontexte eine zentrale Rolle. Ziel ist es, die Lernenden mit einer Anforderungssituation vertraut zu machen, die ein bestimmtes Erfahrungsfeld öffnet und für dessen Lösung der folgende Unterricht Aufgaben zum Erwerb von Erkenntnissen und Fähigkeiten bereitstellt. Als Anforderungssituationen sollten Konfrontationsaufgaben daher im Idealfall in der Lebenswelt der Schülerinnen und Schüler angesiedelt sein und einen hohen Authentizitätsgrad aufweisen, sie sollten zugleich fachlich höchst relevant sein, weil durch sie exemplarisch bedeutende Sachverhalte und fachliche Fähigkeiten gelernt werden können. Aufgrund der Komplexität der Anforderungssituation können mit Konfrontationsaufgaben auch ganze Bündel verschiedener Teilkompetenzen angegangen werden. In solchen Fällen kann eine Konfrontationsaufgabe nicht im Direktgang gelöst werden, sondern verlangt nach sukzessiver Bearbeitung während des nachfolgenden Lernprozesses.
Eine Verschriftlichung der Lösungsversuche oder -wege (z. B. in einem Lernjournal oder Arbeitsheft) gibt der Lehrkraft Einblick in die individuellen Denkweisen und Hinweise auf vorhandene Kompetenzen. Konfrontationsaufgaben wirken daher steuernd auf die Gestaltung des folgenden Lernprozesses, indem die individuellen Vorstellungen der Schülerinnen nicht nur aktiviert und gewürdigt, sondern auch zur substanziellen Weiterarbeit genutzt werden. Für die Schülerinnen und Schüler stellt es eine motivierende Erfahrung dar, wenn der sukzessive Kompetenzzuwachs spürbar wird.
Fazit: Konfrontationsaufgaben beruhen auf lebensweltlichen Phänomenen, Situationen oder Ereignissen oder bestehen aus fachauthentischen Problemen. Sie machen neugierig, irritieren, laden die Schülerinnen und Schüler dazu ein, ihre Intuitionen, bestehenden Kompetenzen, Erfahrungen und Einstellungen zu äußern, ihre Fragen ins Spiel zu bringen und sich ihnen im Austausch in ihrer ganzen Breite und Komplexität zu stellen. Konfrontationsaufgaben fördern divergierendes Denken, lassen alle Assoziationen zu und wecken das Bedürfnis, etwas zu verstehen oder neu zu können. Sie können die Lernenden während der gesamten Unterrichtssequenz begleiten.