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Kapitel 8 2011 Claudia
ОглавлениеClaudia fuhr aus dem Schlaf hoch und stieß einen dumpfen Schrei aus. Ein Geräusch oder instinktiver Reflex riss sie aus den grässlichen Bildern ihres immer wiederkehrenden Traums. Ihr Herz pochte, als wolle es jeden Moment zerspringen Sie zitterte und spürte den pelzigen Geschmack der Angst auf der Zunge.
Langsam gewöhnten sich Claudias Augen an die Dunkelheit und ihr Blick klärte sich. Kurt lag neben ihr und schnorchelte leise. Ihre Hand tastete zu ihm hinüber und holte die Sicherheit, die sie zum weiteren Schlaf benötigte. Die Gewissheit, dass die kalten Fischaugen ihrer Traumwelt nicht sie suchten, gab ihr ein wenig Ruhe und Sicherheit. Sie waren kalt… leer… absolut unbeteiligt… und gefährlich. Sie zwang ihre Gedanken in angenehmeres Fahrwasser.
Claudia Plum leitete das Kriminalkommissariat in Aachen. Nach erfolgreichem Abschluss der Polizeihochschule in Münster wurde sie nach Düsseldorf ins LKA versetzt. Unkonventionelle und spektakuläre Ermittlungserfolge rückten sie in den Focus ihrer Vorgesetzten. Eine Beförderung war aufgrund des fast jugendlichen Alters von siebenundzwanzig Jahren ausgeschlossen. Die Behörde wagte den Versuch und übertrug ihr die Verantwortung der Mordkommission. Anfängliche Schwierigkeiten meisterte sie mit Kompetenz und Einfühlungsvermögen. Jetzt, nach fast drei Jahren, gingen ihre Kolleginnen und Kollegen durchs Feuer für sie.
Vor einem Jahr lernte sie während eines Falles in der Knollensavanne, so wurde das nördliche Gebiet ihres Aufgabenbereiches bezeichnet, ihren Lebensgefährten Kurt Hüffner kennen. Eine haarsträubende Geschichte, wenn sie sich zurück erinnerte. Auf jeden Fall, seit den Ermittlungen in dem kleinen Heidedorf hatte sie Kurt an der Backe, wie er ihre Beziehung umschrieb. Die Begegnung mit ihm war mehr als ein kleiner Hinweis des Schicksals. Sie wohnte nun seit wenigen Wochen in dem Dorf, in dem sie die ersten sechs Jahre ihres Lebens verbrachte.
Ihre Gedanken stockten. Ahnungsvoll resümierte sie die wenigen Wochen, die sie mit Kurt zusammenlebte. Der Traum begann in diesem Haus. Blödsinn, schalt sie sich. Was hat ein Haus mit Träumen zu schaffen? Fakt blieb, dass die Augen schon ewig in den Abgründen ihrer Gedanken lauerten und der Traum fast Erleichterung brachte, wenn nicht dieses Gefühl der Gefahr damit verbunden wäre. Scheiße. Sie litt unter Verfolgungswahn. Doch, wenn die Gedanken einmal kreisten, wurde es schwierig, sie in ruhiges Fahrwasser zu leiten.
Claudia dachte an ihre Eltern, die in Düsseldorf lebten. Der Vater besaß ein kleines Pharmaunternehmen. Als Chemiker forschte er mit Gen-Produkten. Schon in jungen Jahren stand für Claudia außer Frage, in seine Fußstapfen zu treten. Jetzt war sie Polizistin mit Leib und Leben.
Über die gemeinsame Zeit im Dorf wurde seitens der Eltern nie gesprochen. Antworten auf ihre Fragen diesbezüglich blieben vage und erschöpften sich schnell. Das einzige, was blieb, waren Gesprächsfetzen aus jungen Jahren, wenn die Eltern sich unbelauscht glaubten. Sie hatte eine Vision von damals, die Eltern viel jünger, in ihrem heutigen Alter, saßen bedrückt am Frühstückstisch und eine tiefe Traurigkeit beherrschte die Szene. Sie spürt das ohnmächtige Gefühl, dass sie empfunden hatte. Sehnsucht nach Liebe und Geborgenheit. Dinge, die sie in ihrer Jugend und Kindheit nicht empfunden hatte.
Ihre Gedanken glitten zu Kurt, der friedlich neben ihr schlummerte. Er gab ihr Geborgenheit und stoppte, ohne, dass er sich dessen bewusst war, ihren furiosen Karrieredrang. Ja… Karriere. Sie wollte Kinder. Eine funktionierende Familie, die Zeit füreinander hatte. Aber dazu kannten sie sich noch nicht lange genug.
Mit Kurt wurde Claudia eine Gabe bewusst, die vorher selbstverständlich war, wie das Atmen.
Während den Ermittlungen zu Mordfällen verließ sie sich auf eine Art Intuition, die von den Kollegen als Bauchgefühl beschrieben wurde. Irgendwann keimte ein Gedanke, der ständig wiederkehrte. Danach folgte das Ziehen in den Gedärmen und sie wurde sicher, der richtigen Spur zu folgen. Claudia spürte fast körperlich, ob ein Mensch die Wahrheit sagte oder nicht. Nie sprach sie mit jemandem darüber, bis sie Kurt traf, der auch in ihren letzten Fällen eine zentrale Rolle spielte.
Vielleicht war es Einbildung. Doch das Dorf oder vielleicht auch das Haus hatten etwas Magisches, das ihr Inneres rührte.
„Weißt du“, sagte Kurt vor einiger Zeit beim Frühstück. „Hier liegen so viele Geheimnisse verborgen. Mich verwundert, dass ein Zusammenleben möglich ist. Der Kern der Einheimischen besteht aus vier Familien. Aus einer von denen kommst du. Obwohl… so genau kann das niemand mehr sagen. Im Grunde hast du Blut von allen in deinen Adern.“
„Was machst du dir für idiotische Gedanken?“, fragte sie verblüfft, weil er dieses Thema ohne Anlass anschnitt.
„Mit ging gerade der blöde Zufall durch den Kopf, der dich hier hin zurückgespült hat. Es ist doch merkwürdig. Oder findest du nicht?“
„Wenn du das so sagst.“ Claudia runzelte die Stirn. Sie hatte diese Gedanken nicht in den Vordergrund gelassen. Aber tatsächlich. Es war schon seltsam. Doch, was wollte er eigentlich wirklich? „Willst du mich jetzt als Inzuchtergebnis bezeichnen?“, fragte sie ablenkend und lächelte. Dabei bereitete sie innerlich den Rückzug vor.
„Klar.“ Er ging sofort auf den leichten Ton ein. „Deine Begabung macht mir Gedanken. Ich habe hier schon öfter davon gehört. Einige, vor allem ältere Leute, haben diese Ahnungen auch. Vielleicht wurden sie über die Jahrhunderte weitergegeben.“
„Fang‘ jetzt nicht an, zu spinnen. Du bist Realist. Wie kannst du solchen Quatsch denken?“ Ein Frösteln regte sich zwischen den Schulterblättern, die unwillkürlich gegeneinander strebten. Ihr böser Traum und das, jetzt bewusste, emphatisches Gefühl.
„Nein, nein. Du missverstehst mich. Ich möchte dich nicht in den Bereich des Übersinnlichen abdrängen. Es ist ganz einfach eine Begabung, die in der Familie liegen kann.“
„Davon verstehe ich zu wenig. Vererbungslehre ist nicht mein Gebiet.“ Hoffentlich fing der jetzt nicht an zu spinnen. Sie hatte schon zweimal Pech mit Typen. Ihre Beziehung befand sich noch in der Findungsphase. Mehr und mehr kristallisierte sich heraus, dass Kurt wahrscheinlich der Mann war, mit dem sie eine lange Zeit des Lebens verbringen möchte. Sie war nicht mehr jung genug, um allein auf die Gefühle zu hören. Doch sie fühlte sich wohl mit ihm. Auch der sexuelle Teil stimmte und brachte mehr, als sie bisher für möglich gehalten hatte. Der große dreiunddreißig jährige Junge beherrschte ihr Denken und die Gefühle. „Was bezweckst du mit dem Thema?“, fragte sie vorsichtig.
„Ungewöhnlich ist es schon, wenn deine Eltern über ihre Zeit im Dorf schweigen. Ungewöhnlich ist auch, dass ich sie bis heute nicht kennengelernt habe.“
„Schon wieder dieselbe Leier. Darüber haben wir oft genug gesprochen. Du wirst sie noch früh genug sehen.“ Sie verdrehte die Augen. „Mir geht schon seit langem im Kopf herum, was damals geschehen sein mag und meine Eltern veranlasste, hier – man kann schon sagen, fluchtartig – das Weite zu suchen.“ Sie sah zum Fenster hinaus über den Garten hinweg auf das frisch gepflügte Feld, an dessen Ende der Waldsaum begann. Links lag das Heidegebiet, das sich über die holländische Grenze hinauszog. Die Heide hatte viel von ihrem Charme verloren, seit, in ungefähr dreißig Kilometer Luftlinie, Braunkohle abgebaut wurde. Das Grundwasser lief ab und ließ große Flächen des Hochmoores versanden. Doch immer noch lag die seit Jahrhunderten andauernde geheimnisvolle Stimmung über dem Gebiet, der auch sie sich nicht entziehen konnte. Ob Kurts Gedanken tatsächlich in die richtige Richtung wiesen? Hier sollen Kelten gelebt haben. Überall stießen Archäologen auf Spuren. In der Nachbarschaft wohnte eine Anthropologin. Mit der sollte sie sich einmal unterhalten.
„Ich hab‘ mich ein wenig umgehört“, fuhr Kurt fort. „Jeder scheint etwas zu wissen, jedoch niemand sagt etwas. Das liegt vielleicht daran, dass ich ursprünglich aus Teveren komme.“ Teveren war der Nachbarort und beheimatete die Nato Air Base für die AWACs. Seit Menschengedenken waren sich die Einwohner beider Ortschaften nicht grün. Nichts, was man packen konnte, jedoch latent vorhanden. „Die Jüngeren, in unserem Alter, wissen nichts. Die Alten bestätigen, deinen Vater gekannt zu haben und sprechen mit Hochachtung von ihm. Ins Detail wollen und werden die nicht gehen.“
Claudia knuffelte ihr Kissen zusammen und versuchte die richtige Schlafposition zu finden. Jedoch kreisten die Gedanken weiter. Sie stand auf, stieg die Treppe hinunter in die Küche und warf die Kaffeemaschine an. An Schlaf war nicht zu denken.
Der nervende Traum begann wenige Tage nachdem sie zu Kurt zog.
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