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Kapitel 5 23. Juni 2011 07:30 Uhr

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„Pater Anselm“, Claudia winkte, schimpfte, hüpfte oder stand einfach still vor der scheinbaren Geisel, im ungefähren Abstand der Entfernung, die das erste Warnsignal auslöste. Den Hinweis von Heinz auf die Übertragung im weltweiten Netz verdrängte sie. „Hören Sie, guter Mann. Ich kann Ihnen wahrscheinlich helfen, wenn Sie mitmachen. Ihr Schweigen bringt doch nichts.“ Sie unternahm einen neuen Versuch.

Stoisch verharrte der Priester in seiner Stellung. Mehrfach richtete er zwar seinen Blick auf sie und zweimal drehte er den Kopf. Hinter dem Glitzern seiner merkwürdigen Augen, nahm sie Trotz wahr.

Weshalb war der Mann so störrisch? Der dunkle Pullover, den er trug, wies keinerlei Ausbuchtungen auf, die davon zeugen konnten, dass er eine Sprengladung trug. Das Oktogon, Dom und Rathaus sowie die umliegenden Dächer waren frei von Heckenschützen. Wer oder was veranlasste ihn zum Schweigen?

Ein merkwürdiger Mensch, der sofort in die Schublade ‚unsympathisch‘ gesteckt wurde. Sie musterte ihn. Er wirkte weder ängstlich noch verstört. Er kniete lediglich stoisch in seiner Haltung und die Lippen bewegten sich unaufhörlich – wie sie jetzt wusste – im Gebet. Sie hatte irgendwann gelesen, dass dieser Trick in vielen Religionen angewandt wurde, um äußere Einflüsse auszuschließen. Eine Art von Selbsthypnose, um die vielen Bußen die den Gläubigen und Dienern des Glaubens auferlegt wurden, unbeschadet zu überstehen. Oder, um vielleicht den zeitlichen Faktor auszuschließen. Wenn sie früher auf den Bus wartete, hatte sie immer die Sekunden gezählt. Bei dreihundert waren die fünf Minuten voll. Die Zeit verkürzte sich. Der Priester strahlte Unnahbarkeit aus, die fast körperlich spürbar war. Arrogant, dachte sie. Dem möchte ich nicht im Dunkeln begegnen. Schluss, schalt sie sich. Welch blöde Gedanken? Wenn nicht alles täuschte, war der Geistliche eine Geisel. Antipathie oder Sympathie spielten keine Rolle.

„Wird Ihr Leben bedroht?“ Sie konzentrierte sich wieder auf ihre Aufgabe.

Seine Augenlider flatterten.

„Ihr Leben ist in Gefahr“, stellte Claudia fest.

Der Priester kniff die Augen zusammen, ohne dass sein Gesichtsausdruck eine Veränderung zeigte.

Also bestand Lebensgefahr. „Einer oder mehrere?“

Die Augenlieder flatterten.

„Einer?“ Klar, wie sollte er ihren Fragen antworten.

Die Augenlider flatterten.

„Also mehrere“, stellte Claudia fest.

Die Augenlider flatterten.

„Sie dürfen mir keine Informationen geben?“

Die Augen kniffen zusammen und musterten sie danach spöttisch.

Ihr lief ein eiskalter Schauer über den Rücken. Sie musste die Kontrolle behalten und durfte die aufkommenden Emotionen nicht zulassen. Der Mann stieß sie ab, obwohl sie noch kein Wort gewechselt hatten. Ihre emphatischen Sensoren sprangen an und signalisierten Abneigung.

Der kniende Priester legte nicht das Verhalten eines Opfers an den Tag. Klar, da war eine gewisse Anspannung, die sie jedoch mehr als Wachsamkeit diagnostizierte. Keine Angst. Im Gegenteil.

Was mochte der Urheber dieses Aktes bezwecken?

Unbehaglich spürte Claudia die Cams. Fast körperlich wurden ihr die Blicke von wer weiß wie vielen Zuschauern bewusst. Einen Moment stand sie hilflos herum, während sie abwog, inwieweit weitere Fragen das Opfer bedrohten. Die Informationen, die zurzeit zur Verfügung standen, reichten nicht für weitere Fragen, ohne zu riskieren, dass das Leben des Paters in möglicherweise akute Gefahr geriet.

Die Übelkeit von vorhin drängte wieder in ihre Speiseröhre. Hoffentlich musste sie nicht vor einem Millionenpublikum kotzen. Millionen? Claudias Gedanken stockten und nahmen langsam die tatsächliche Situation auf. Mit Macht unterdrückte sie den Ansatz von Panik, der sie zu überwältigen drohte.

*

Maria Römer beobachtete gebannt Claudias verlorene Gestalt auf dem Monitor. Ihre Chefin sah übernächtigt und verletzlich aus, dabei unglaublich jung. In ihrem Gesicht spiegelten die widerstreitenden Gefühle, die sie empfand und auch etwas, wie Angst. Maria rückte ihre Augen näher vor den Monitor. Die Cams setzten Claudia gut in Szene. Die Übertragung war von hervorragender Qualität. Wer immer für die Technik verantwortlich zeichnete, verstand etwas davon. Da war tatsächlich, ganz hinten in den Augen, Furcht.

Das bildest du dir ein, sagte Maria ihren Gedanken. In der zwar kurzen, jedoch sehr intensiven Zeit, während ihres gemeinsamen Dienstes, hatte sie ähnliches nie bemerkt. Claudia war ein Kopfmensch mit zwar intuitiven Gedanken, jedoch nie ängstlich oder gefühlsbetont. Während eines Einsatzes konnten sie blind auf diese Frau vertrauen.

Jedoch, tatsächlich. Die Kameras holten die Gefühle gnadenlos aus dem Spiel der Muskeln Ihres Gesichts. Claudia fürchtete sich. Zumindest befand sie sich in einem Zwiespalt.

Vielleicht schlecht geschlafen, dachte Maria.

Ihr Leben ist in Gefahr“, stellte Claudia gerade auf dem Bildschirm fest.

Damit erinnerte sie Maria wieder an ihre Aufgabe.

Oberkommissarin Maria Römer zählte neunundvierzig Lenze. Ihre frauliche Figur maß einhundert zweiundsechzig Zentimeter. Sie hatte ihre blonde Phase. In regelmäßigen Abständen wechselte die Haarfarbe und Frisur. Zurzeit umrahmte die streng frisierte Dauerwelle, das ein wenig überschminkte Gesicht. Ebenso auffällig wie die Person, war ihre Kleidung. Der enge, zwei Fingerbreit über dem Knie endender, Rock, spannte über den fülligen Hüften. Die Knöpfe der auffällig gelben Bluse wurden von ihrem Vorbau unter Spannung gehalten. Maria war eine Frohnatur und stets in irgendwelche Affären verstrickt. Sie beherrschte wie kaum eine zweite, das Medium PC.

Kurz nach sechs erhielt sie den Anruf von der Einsatzzentrale. Zehn Minuten später war sie im Büro.

Maria hatte in der lauen Nacht kaum geschlafen und war schon um fünf Uhr auf den Beinen. Senile Bettflucht, fluchte sie. Dabei war klar, dass ihre jetzige Affäre die Hormone wie bei einer Achtzehnjährigen durcheinander wirbelten. Armin war zehn Jahre jünger und ihr war klar, dass sie ihn wahrscheinlich nicht auf Dauer halten konnte. Die biologische Uhr war gnadenlos und zeigte irgendwann den Altersunterschied auf.

Claudia und Heinz waren schon unterwegs, als sie im Präsidium eintraf. Ihre Nachfrage bei der Bereitschaft brachte kein Ergebnis. Ein Priester und Stimmen… sagte ihr nichts. Also normaler Morgendienst mit einem Spinner.

Maria schaltete, wie immer, den PC ein, um auf Facebook die neuesten Personenstatusmeldungen ihres Bekanntenkreises zu erfahren. Dabei rauchte sie, trotz des Rauchverbots, eine Zigarette und genoss den Kaffee.

Danach kam der Zeitpunkt, an dem sie sich langsam den dienstlichen Belangen und der elektronischen Post zu widmete.

Der Betreff einer Mail stach ihr sofort ins Auge ‚ Ein Maximum an Recht bedeutet sehr viel Unrecht‘. Noch so ein Spinner, dachte sie und öffnete die Nachricht neugierig.

Ein Link.

Auf dem heimischen PC hätte sie die Nachricht sofort gelöscht. Bei allem PC Wissen blieb immer noch ein wenig Restangst im Hinterkopf, ein Virus könnte ihre Dateien löschen. Nicht auszudenken, wenn die ganzen Kontakte in den Communitys verloren gingen? Undenkbar. Doch hier ließ die Firewall nichts durch, was dem System schaden konnte und sie war nicht persönlich betroffen.

Ein Klick, zwei Sekunden schwarzer Bildschirm und schon sah und hörte sie ihre Chefin „Pater Anselm. Sagen Sie doch etwas.“ Wahnsinn. Claudia stand im Zentrum der Szene und etwas abseits kniete ein Priester. Heinz Augen suchten unruhig den Platz ab und er hatte das Handy an der Backe.

Im gleichen Augenblick signalisierte die Telefonanlage ein eingehendes Gespräch. Sie drückte den Knopf für Freisprechen, ohne den Blick vom Monitor zu nehmen.

„Maria?“ Heinz Bauers Stimme drang fragend an ihr Ohr.

„Wer denn sonst“, sagte sie aufgeregt. „Was ist los bei euch?“

„Was soll los sein. Irgendein Spinner hält einen Pater in seiner Gewalt und wir kommen nicht das Opfer heran.“

„Ist das der Typ, der links von dir kniet?“ Sie unterbrach ihn.

„Wo bist du?“ Maria sah auf dem Bildschirm, wie er sie suchte. „Wir brauchen dich an und für sich im Präsidium. Aber… wenn du hier bist, kann ich auch nichts machen.“

„Ich bin im Präsidium und sehe dich genau.“ Maria unterbrach ihn.

Heinz Gestalt versteifte. „Sag bloß…“

„Genau. Ihr seid im Netz. Ich bin vor wenigen Minuten darauf gestoßen. Eine Mail mit einem Link. Auf jeden Fall kann ich euch sehen und hören.“

„Scheiße. Maria lass‘ die Maschinerie anlaufen. Kidnapping. Oder besser noch, unterrichte den Polizeipräsidenten und die Staatsanwaltschaft. Dann sind wir auf der sicheren Seite. Ich hab‘ ein komisches Gefühl.“

„Du und deine Ahnungen. Claudia färbt schon auf dich ab.“ Maria graute vor den Ahnungen ihrer beider Kollegen. Sie war Realistin und stand mit beiden Beinen auf dem Boden. Obwohl sie zugeben musste, dass das Bauchgefühl ihnen häufig weitergeholfen hatte. „Jetzt Schluss. Ich habe einiges zu tun.“ Maria rief Google auf und gab ‚pater anselm‘ ein. Dreihunderteinunddreißigtausend Ergebnisse. Die ersten Seiten zeigten Informationen zu einem Pater Anselm Grün. Der hatte nichts mit dem Priester auf dem Bildschirm zu tun. Sie musste mehr Daten haben, sonst suchte sie sich zum Krüppel.

Andere Kollegen waren schon bei der Arbeit, wie sie auf dem Monitor sah. Vielleicht hatte Kollegin Backes etwas, die das Bistum kontaktieren sollte. Sie drückte die Kurzwahltaste.

„Gerti. Bist du schon weitergekommen?“

„Nein. Es ist zum Mäuse melken. Die geben keine Informationen zum Personal. Vor allem nicht am Telefon. Hinzu kommt, dass bei denen der Dienst noch nicht begonnen hat.“

„Ruf‘ die Fahrbereitschaft und fahr‘ selbst dorthin. Mach‘ irgendeinem Priester Dampf unterm Hintern. Vorsorglich besorge ich beim Staatsanwalt einen Durchsuchungsbefehl.“ Kaum hatte sie das Gespräch beendet, rief sie den Polizeipräsidenten an.

„Römer hier, Herr Präsident.“

„Ich wollte mich gerade bei Ihnen melden. Schauen Sie ins Internet. Kollegin Plum und Kollege Bauer drehen während der Dienstzeit einen Film.“

Maria verdrehte die Augen. Der Typ war bekloppt, das wusste sie schon immer.

„Deshalb melde ich mich, Herr Präsident. Wir brauchen das LKA. Sie sehen keinen Krimi. Das ist echt.“

„Ich werde alles veranlassen.“

Maria nickte verwundert mit dem Kopf. Er schaltete schnell.

Während des Telefonats klopfte der nächste Teilnehmer an. Sie drückte den entsprechend Knopf auf der Anlage.

„Dengler.“

„Herr Staatsanwalt. Sagen Sie bloß, sie sind auch schon online am Tatort.“

„Genau. Was ist da los?“

Sie erstattete einen kurzen Bericht.

„Ich bin schon auf dem Weg“, er beendete das Gespräch.

„Schei…benkleister“, fluchte Maria. Er war so schnell weg, dass sie die Durchsuchungsanordnung für das Bistum nicht beantragen konnte. Sie klickte durch das Menü ihres PC bis das entsprechende Formblatt erschien. Schließlich gab es Intranet.

Maria zündete die zweite Zigarette des Morgens an, als das nächste Gespräch herein kam.

„Maria, was macht Claudia auf dem Katschhof?“ Kurt, der Lebensgefährte ihrer Chefin. Wie immer meldete er sich ohne Vorstellung.

„Kurt, ich habe jetzt keine Zeit.“ Sie würgte ihn ab.

Auf dem Display sah sie, dass er umgehend einen weiteren Versuch startete. Sie hob ab.

„Was ist los bei euch?“, er ließ ihr keine Zeit etwas zu sagen. „Das ganze Dorf hängt im Internet und beobachtet Claudia auf dem Katschhof. Habt ihr eine Übung?“

„Ganz kurz… hier ist der Teufel los und ich habe keine Zeit. Das ist keine Übung. Claudia ist im Einsatz. Jetzt lass‘ mich in Ruhe.“ Sie unterbrach das Gespräch.

Rechts unten auf dem Monitor blinkte die Anzeige, zum Anzeichen, dass Mails eingegangen waren. Zweiunddreißig in den letzten Minuten. Dann wollte sie mal.

Vergeltung

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