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Kapitel 1 23. Juni 2011 05:30 Uhr

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Der Schlag der Autotür klang wie ein Schuss in den frühsommerlichen Morgen und ließ die Ratten des Himmels flügelschlagend aktiv werden. Dicht schwärmten sie aus und nahmen dann gleich wieder die ursprüngliche Position ein. Weißgraue Kotstreifen markierten, auf der Pflasterung vor den Gebäuden, die Stammplätze.

Die Sonne schob sich langsam über den Horizont und entließ die ersten rotgoldenen Strahlen in den frühen Tag. Zögernd strichen sie von der Spitze des Aachener Doms zur Kuppel des Oktogon und erhellten Zug um Zug den Katschhof. Der bellende Hund in der Ferne übertönte noch das unmerkliche Zunehmen der Geräuschkulisse

Das wegfahrende Auto lenkte zunächst von der Veränderung auf dem Platz ab, zudem sie unbemerkt stattfand. Nur der freche Spatz schimpfte auf den Mann, der in der Mitte des Katschhofs kniete und kein Auge oder gar Ohr für seine Umgebung hatte.

Die ersten Menschen hetzten über den Platz. Sie mussten pünktlich ihren Arbeitsplatz erreichen. Die Uhr tickte gnadenlos. Mehr, als ein flüchtiger Blick für den Knienden, blieb nicht. Nein… sie machten einen großen Bogen um ihn.

Der laue Frühsommertag in der ehemaligen Kaiserpfalz begann mit der Ahnung, dass er in mehrfacher Hinsicht heiß werden würde. Die Meteorologen sagten den bisher heißesten Tag für diesen Sommer voraus.

Das Pärchen, noch gefangen von der gemeinsam verbrachten Nacht, stockte.

„Guck‘ mal, die drehen einen Film“, sagte der junge Mann.

„Nee. Da sind die Kameras größer. Dort auf dem Stativ“, die Frau zeigte mit dem Finger darauf, „ist ja nicht mehr, als eine Webcam.“ Sie und ihre Begleitung näherten sich neugierig dem regungslosen Mann. „Da sind noch mehr… zwei …drei Webcams. … vielleicht doch ein Film?“

Halt! Bleiben Sie bitte stehen“, die befehlende Stimme erklang überlaut in der morgendlichen Stille und ließ sie unwillkürlich einen Schritt zurücktreten.

Der kniende Mann verharrte bewegungslos in seiner ungewöhnlichen Stellung. Die Fußspitzen auf dem Boden, die Knie auf dem unteren Brett der Gebetsbank, die hier völlig deplatziert wirkte. Aus dem Kniegelenk heraus reckte sein Körper in einem neunzig Grad Winkel gerade nach oben. Die Schlinge um den Hals war über das dünne Seil mit dem linken Fuß verbunden und hielt die Wirbelsäule gerade. Der Strick hatte genügend Spiel. Darüber bestand keine Lebensgefahr. Er trug einen Priesterkragen. Sein Gesicht zeigte blasierte Anspannung, die über die Neigung der Mundwinkel zum Ausdruck kam. Ansonsten waren markanten Züge des Mannes starr und ausdruckslos. Obwohl schon älter - etwas über sechzig -, zierte keine Falte die rosig angehauchten, etwas hohlen, Wangen. Die stark hervorquellenden Augäpfel störten den harmonischen, fast schönen, Ausdruck des Gesichts. Der Blick des scheinbaren Priesters wurde vom Oktogon des Doms eingefangen, auf dem er bewegungslos ruhte. Das dunkle Haar stand militärisch kurz geschnitten, wie ein Igelpanzer, in die Luft.

Eine menschliche Statue vor dem Hintergrund der historischen Kulisse rund um Dom und Rathaus.

Die beiden jungen Leute betrachteten ihn aus ungefähr fünfzehn Metern Entfernung.

„Wer hat das gesagt? Von dem Typ kam das nicht. Ich habe ihn beobachtet. Für einen Film sind zu wenige Leute hier. Hier ist niemand, der Regie führt oder etwas Ähnliches.“

Sie gingen wieder näher, um ihn genauer zu mustern.

Halt! Bleiben Sie bitte stehen.“ Die gleiche Stimme, der gleiche Tonfall wie vorhin, hielt sie auf.

Sie ließen ihre Augen kreisen. Die Situation wurde ihnen unheimlich.

„Komm‘ wir hauen ab“, sagte die Frau. „Außerdem kommen wir zu spät zur Arbeit.“

„Nein, nein. Hier stimmt etwas nicht. Schau‘ dir sein Gesicht an. Und… der hat ein Seil um den Hals.“ Mittlerweile blieben mehrere Passanten stehen und beobachteten die eigenwillige Szene.

Halt! Bleiben Sie bitte stehen.“ Auf der anderen Seite sprang ein Schaulustiger erschrocken zurück und wäre dabei fast gestolpert.

„Die Aufforderung kommt aus irgendwelchen Lautsprechern. Ich ruf‘ die Polizei.“ Der junge Mann zückte sein Handy und tippte die 110 auf das Display. „In wenigen Minuten wird jemand hier sein.“

Während die neugierige Menschenmenge größer und größer wurde, bog, zehn Minuten später, der blausilberne Einsatzwagen auf den Platz. Zwei uniformierte Polizisten stiegen aus und näherten sich gemächlich.

„Wer hat angerufen?“

Drei Hände hoben sich.

„Wir möchten gleich noch mit Ihnen sprechen“, wies der jüngere Beamte sie an. „Und Sie gehen weiter“, wandte er sich an die versammelte Menge.

Sein Kollege ging gewichtigen Schritts auf den Priester zu.

Halt! Bleiben Sie bitte stehen.“ Erschrocken hielt er inne und trat zurück. Er schüttelte verwirrt den Kopf und machte den Schritt wieder nach vorn.

Halt! Bleiben Sie bitte stehen.“

Stocksteif verhielt er auf der Grenze, die die Stimme vorgab. Der Polizeibeamte stand, an dieser Stelle, ungefähr fünfzehn Meter von der reglosen Gestalt entfernt.

„Hier sind bestimmt Lichtschranken“, stellte jemand fest.

„Heh Frank. Hast du das mitbekommen?“

„Ich bin doch nicht taub. Jemand will uns auf den Arm nehmen“, der jüngere Beamte lachte unsicher und warf Hilfe suchende Blicke in die Zuschauermenge, die den Einsatz hautnah miterleben wollte. „Frag‘ ihn, was er dort tut.“

„Heh. Sie da. Was machen Sie dort? Haben Sie eine Genehmigung?“, rief der Uniformierte dem menschlichen Hindernis zu. Keine Antwort. Der Mann verharrte reglos.

„Mensch Mann… ich sehe doch, dass Sie reden können. Sagen Sie etwas.“ Ungläubig registrierte er die Ignoranz seiner Kompetenz. „Jetzt wird es mir zu bunt“, er ging entschlossenen Schritts auf den Kirchenmann zu. Nach drei Metern schrillte ein durchdringender Warnton und ließ ihn zur Salzsäure erstarren. Sekunden später ertönte die Stimme: „Ich bitte Sie eindringlich. Bleiben Sie stehen. Pater Anselm wird sterben, falls Sie weitergehen.“ Im gleichen Augenblick entdeckte er die Schlinge um den Hals, die zum linken Fuß führte.

*

Vergeltung

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