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Kapitel 11 1988 Frieder
Оглавление„Was ist los mit dir, Junge“, Pater Benedict sah ihn strafend an. Frieder rutschte unruhig auf seinem Platz herum.
„Mein Popo tut weh“, antwortete Frieder bedrückt. Darüber durfte er nicht sprechen. Aber Pater Benedict war ein Vertreter Gottes.
„Was tut dir weh?“, fragte der Mönch erblassend.
„Mein Popo.“
„Komm“, der Klosterbruder fasste ihn am Arm und zog ihn vom Sitzmöbel auf den Flur. Er schleifte ihn zu einer Kammer. Er kniete nieder und sah dem Jungen in die Augen. „Seit wann tut dein Popo weh?“, fragte er sanft.
„Schon lange“, stellte Frieder fest. Er hatte es noch nicht so mit der Zeit. „Seitdem der ‚Liebe Gott‘ den Mann geschickt hat.“
„Verdammt“, entfuhr es dem Mönch. Er war in den Sechzigern und trug sympathisch offene Züge. „Was macht der Mann mit dir?“
„Er steckt etwas Hartes in meinen Popo. Holz oder so etwas.“
Dem Pater stiegen Tränen in die Augen. „Weißt du wer er ist?“, er flüsterte.
Frieder schüttelte verwirrt den Kopf. Woher sollte er das wissen? Der ‚Liebe Gott‘ hatte doch gesagt, er solle die Augen gesenkt halten, wenn sein Engel kam.
„Warte hier“, der Priester verschwand. Kurze Zeit später kam er mit einer Tube Salbe wieder. „Tu‘ das auf deinen Popo, dann brennt es nicht mehr so.“ Er strich dem Jungen über den Kopf. „Der ‚Liebe Gott‘ hat Recht, Frieder. Du darfst mit niemandem darüber sprechen.“
„Auch nicht mit dir, Vater Benedict?“, fragte er mit weinerlicher Stimme.
„Du bist ein braver Junge. Nur wenn wir alleine sind, können wir uns darüber unterhalten. Ich beschütze dich. Jetzt komm‘. Geh‘ spielen.“
Frieder ließ einen nachdenklichen Pater Benedict zurück, dessen Gedanken arbeiteten. Er hatte es geahnt. Einige der neuen Jungen waren blass, als ob sie nicht genug Schlaf hatten oder etwas sie bedrückte. Er konnte sie nicht beschützen. Was nicht sein durfte, konnte nicht sein… das geheime Motto des Klosters. Seine Tage hier wären gezählt, falls er öffentlich eingestehen würde, dass mindesten ein Päderast im Kloster sei. Zumindest würde er den Jungen das Leben erleichtern.
Pater Benedict galt im Kloster als seltsam. Oft konnte er seine Gedanken nicht ordnen. Er vergaß viel und wechselte während eines Gesprächs unmotiviert das Thema. Er wusste darum und verhielt sich dementsprechend. Er ging Unterhaltungen aus dem Weg und betete häufig und viel.
Die Zeit schritt weiter und Frieder spürte instinktiv, dass die nächtlichen Besuche nicht richtig waren. Der Junge empfand schon längst nicht mehr den Schmerz, wie bei den ersten Vergewaltigungen. Er entwickelte Abscheu und hasste den Augenblick, wo ihn das Ungeheuer im Schlafsaal bei den Schultern fasste und bedeutete zu folgen. Immer noch wagte er nicht den Blick zu heben.
Nur einmal sah er den Mann. Das Kind konnte in Erwartung des Unheils nicht einschlafen und wälzte unruhig im Bett. Da, vor dem Hintergrund des Fensters. Kein Gesicht. Eine unförmige Gestalt mit Kapuze auf dem Kopf. Das Gewand reichte bis auf den Boden. Der Peiniger ragte riesengroß empor. Frieder schloss, in großer Furcht, schnell die Augen, bis er die Berührung spürte und aus dem Bett stieg.
Frieder stand morgens gerne früh auf. Er liebte die verschlafene Stille und selbst die harten Bänke in der Kapelle. Hier war sein Zufluchtsort, wenn ihn etwas bedrückte. Die Mutter Gottes wachte über ihn und mit dem Herrn am Kreuz hielt er stille Zwiesprache.
Der Mann suchte ihn in regelmäßigen Abständen heim. Frieder wusste genau, wann der Zeitpunkt nahte. Mit der Zeit schmerzte die Vergewaltigung nicht mehr, weil er lernte, auf der harten Stuhllehne, seinen Körper in die Stellung zu bringen, die den Schmerz erträglich machte.
Frieder wurde stiller und stiller. Niemand, außer Vater Benedict, bemerkte, wie er verkümmerte. Der Junge verstand nicht, was ihm geschah. Erst, als im Biologieunterricht die Fortpflanzung der Säugetiere, ganz nebenbei auch die der Menschen, erklärt wurde, bekam er so etwas wie eine Ahnung. Nach dem Unterricht stöberte er in der Bibliothek. Sein noch kleiner Verstand fand zwei Bücher, die ihn noch mehr verunsicherten. Sie handelten von Liebe. Liebe, die im Herzen lag, den Verstand verwirrte und Begierde hervorrief. Eine andere Liebe, als die, die er dem ‚Lieben Gott‘ entgegenbrachte.
Frieder wusste nicht, was Begierde war… nur so viel, dass er sie nicht hatte. Es sei denn… Begierde erzeugt Schmerzen.
*
Er war zehn und verunsichert, weil er nicht wusste, wie ihm geschah. Er hatte die Augen geschlossen und lag im Klostergarten hinter einem Busch. Sein geheimes Versteck. Sein Gehirn war träge und konnte sich nicht entscheiden, zu denken. Er befand sich in einem zeitlosen Zustand und spürte, wenn er die Augen schloss, die Bewegung der Erde. Ein Gefühl des langsamen Fallens.
Dies war sein Platz. Gott kam nicht hierher und somit auch nicht sein Abgesandter, ob Engel oder Teufel, das war ihm Moment ziemlich egal.
Nach, für ihn unendlich langer Zeit, setzte sein Verstand wieder ein und die Gedanken, die bis dahin ausgeschlossen waren, kamen wieder.
Frieder öffnete die Augen und ließ sie durch den Busch zum Himmel gleiten. Die Wolken glitten träge dahin und ließen ab und zu einen Sonnenstrahl durch, der dann gleich wärmte. Noch war er jahreszeitlos. Ihm war egal, ob Frühjahr oder Sommer war. Hauptsache die Nacht nahte nicht so schnell. Denn dann kamen die Schatten und die Angst, die sein kleines Herz krampften, so dass das Atmen schwer fiel. Dabei war er von der Gewissheit erfüllt, dass Gott ihn liebte. Doch weshalb versteckte er sich vor ihm, fragte eine kleine Ecke seines unfertigen Verstandes.
Plötzlich bekam er keine Luft mehr. Sein Puls raste und die Gedanken drohten seiner Kontrolle zu entgleiten. Dann entspannte er wieder. Nur einer der Mitschüler, der den Kiesweg entlang ging.
Die Vorstellung des Zusammenhangs von Gottes Liebe und den nächtlichen Besuchen war fürchterlich. Doch instinktiv wusste er auch, welche Gefahr davon ausging, sich auf diese allzu tiefen Gedanken einzulassen. Er sehnte sich nach Liebe, doch nicht nach Schmerz. Ein weiteres Gefühl kam hinzu, dass er nicht bewusst wahrnahm, jedoch latent vorhanden war. Erniedrigung, die im Ansatz Wut erzeugte und irgendwann den Weg nach draußen suchte.
*