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Kapitel 2 Juni 2009 Frieder Baumann
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Die schweren Wolken des aufziehenden Gewitters hingen schwarz und gefährlich über dem Rursee.
Woffelsbach, dachte Frieder, noch zehn Minuten, dann würde das Unwetter auch hier herunter kommen.
Aus dem Wintergarten heraus sah er links auf die Staumauer und fast in der Mitte des breiten Fensters, tief nach unten, die Halbinsel Eschauel des Stausees. Die Wipfel der Bäume wiegten heftig am Hang. Die ersten Vorboten des Unwetters.
Seit zwei Jahren lebte er im Oberdorf von Schmidt. Ein kleiner Bungalow. Frieder benötigte nicht viel Platz. Er war allein und auf den Rollstuhl angewiesen. Das Haus war ein Schnäppchen. Der alte Mann, der hier wohnte, verstarb unerwartet und die Erbengemeinschaft wollte schnelles Geld sehen. Den barrierefreien Umbau finanzierte die öffentliche Hand. Dabei verdiente er genug, und die Ausgaben hätten ihm nicht wehgetan. Aber… warum nicht?
Der Wintergarten passte nicht zu dem modernen Haus. Seit er in der Nähe Bonns, auf einem Versuchsgut des Landes den Anbau des Haupthauses gesehen hatte, schwebte ihm der Stil vor. Holz und Glas. Kein Kunststoff. Viele kleine Fensterscheiben.
Er rollte seinen Stuhl zur Seite und zog die Jalousie hoch, um ungehindert auf den See sehen zu können. Dabei war ihm bewusst, dass in wenigen Minuten, lediglich Blitze, die dann fast schwarze Wasserfläche, minimal erhellte. Frieder mochte das dunkle Szenario des Gewitters. So dunkel, wie seine Gedanken zurzeit.
Noch spiegelte der See in der Sonne.
Fast zögerlich rollte er den Stuhl an den Schreibtisch zurück und sah auf den blinkenden Cursor. Von Zeit zu Zeit verfiel er in diese Depressionen.
Frieder Baumann zählte dreiunddreißig Lenze. In der Regel strahlte sein Gesicht ruhige Freundlichkeit aus, begleitet von warmen Blicken seiner gefühlvollen braunen Augen. Dunkles lockiges Haar fiel über die Stirn und kringelte sich leicht über der geraden Nase und im Nacken. Ein fast stattlicher, schöner Mann mit breiten Schultern und trainierten Armen… wäre nicht der Rollstuhl. Der Mund neigte stets zu einem breiten Lächeln. Selbst jetzt im Haus und bei der schwülen Feuchtigkeit, die durch die geöffneten Fenster hereindrang, war er korrekt, mit blütenweißem Hemd und Krawatte, bekleidet. Das einzige Zugeständnis an die Witterung war der an der Garderobe hängende Sakko.
Von einem Augenblick auf den anderen wurde es dunkel. Jedes Mal, wenn ein Blitz über den dunklen Himmel zuckte, wurde Frieders Gesicht aus dem Dunkel gerissen. Er war allein mit sich und den Gedanken an den wiederkehrenden Traum.
Frieder, eigentlich Dr. Frieder Baumann, schrieb an seinem dritten Buch ‚Der Einfluss der Religion bei der Erziehung von Kindern‘. Seit zwei Jahren unterrichtete er Religion und Soziallehre an der Gesamtschule in Langerwehe. An die Zeit davor mochte er nicht zurückdenken. Doch die Erinnerung überfiel ihn schlagartig.
An diesem Abend war es besonders schlimm. Der Verstand bemühte sich die verzerrten Eindrücke und Erinnerungsfetzen der längst vergessen geglaubte Vergangenheit zu einem Ganzen zu fügen. Die Gestalt, die zu der Hand gehörte hatte nun ein Gesicht und wirkte übermäßig groß. Sein Wissen sagte ihm, dass er als kleiner Junge die Bedrohung übermächtig empfunden haben musste und die Proportionen dadurch verzerrt wurden. Doch es half nichts. Der nicht körperliche Schmerz und die daraus entstehende Angst wurden übermächtig. Er umklammerte seinen Kopf, als könne er die Gedanken, die aus seinem Schädel drangen zurückhalten.
Sie war da… die große Hand… zwischen deren Zeigefinger und Daumen die gezackte blaue Narbe verlief. Er hatte nachgelesen. Die blaue Narbe konnte von einer Verletzung herrühren, die unmittelbar mit Kohlenstaub in Verbindung stand.
Es war immer derselbe Traum, aus dem es kein Entrinnen gab.
Seit wenigen Wochen war etwas anders. Die Hand gehörte zu einem Gesicht, einem realen Menschen, der aber noch keinen Namen hatte. Das Gefühl des Abstandes und der Sicherheit stellte sich nicht mehr ein. Er hörte einen Schrei, dem ein Stöhnen folgte. Die Geräusche drangen tief und unkontrolliert aus seiner Kehle. Er riss die Augen auf und durchdrang die schweflige Dämmerung, durch die mittlerweile, vom See angezogen, in schneller Abfolge die Blitze zuckten. Das Gesicht, das auf seine Netzhäute gebrannt war, schälte sich schemenhaft in den vorbeiziehenden Wolkenfetzen heraus. Frieder schaffte es nicht, die Gedanken in den Winkel seines Gehirns zu verbannen, der zumindest zeitweise Ruhe gab. Er wusste, wenn ihm dies nicht gelang, würde er wieder Stunden schluchzend vor dem Fenster sitzen, in der Angst vom Schlaf übermannt zu werden. Der Schweiß überzog seinen Körper, wie einen Wasserfilm und rührte nicht von der schwülwarmen Witterung. Die unerklärliche Angst presste die Flüssigkeit durch die Poren.
Gott sei Dank unterbrach das dezente Summen der Signalanlage die dunklen Gedanken. Er berührte den Sensor für die Gegensprechanlage auf dem Paneel, links neben dem Schreibtisch.
„Gott zum Gruß“, erklang Irenes fröhliche Altstimme.
Kopfschüttelnd betätigte er den Türöffner. Schwerfällig tauchte sein Verstand in die unmittelbare Gegenwart. Welcher Teufel ritt diese Frau wieder? Sie hatte mit allem etwas zu tun, aber auf keinen Fall mit Gott. Wenige Augenblicke später stürmte der Wirbelwind in den Raum.
„Hast du getrunken?“, fragte Frieder zur Begrüßung und musterte die junge Frau. Nicht größer, als ein Mülleimer, schoss ihm durch den Kopf. Na, ja… ein wenig doch.
Irene Förster maß stolze einhundert achtundfünfzig Zentimeter. Doch diese waren kompakt. Stämmige braune Waden und Schenkel trugen den kurvigen ebenso kräftigen Körper. Ihre graugrünen Augen fixierten ihn ernst, entspannten sich jedoch sofort.
„Eine Begrüßung…“, sie ließ den begonnenen Satz in der Luft hängen und das interessante Gesicht strahlte mit entwaffnendem Charme. Er sah nicht die Beunruhigung hinter der optimistischen Fassade, nachdem sie ihn einer eingehenden Musterung unterzogen hatte.
„Wie siehst du überhaupt aus?“ Frieder schmunzelte. Irene hielt nichts von Konventionen.
Die schmuddelige enge Shorts, das angegammelte Shirt und verschwitzte Gesicht unter braunen Strähnen, die Haare genannt wurden, passten nicht zu einer dreißigjährigen Diplom Ingenieurin.
„Kann ich ein Bier haben?“, sie ging nicht auf ihn ein.
Frieder nickte zur Küche.
„Da kommt gleich was runter. Ich hab‘ es gerade noch geschafft.“, Irene nickte zum Fenster, während sie ihm ein Stubbi reichte. Die Blitze zuckten in den See, während der Donner noch ein leichtes Grummeln war. „Du hattest wieder einen deiner Anfälle?“, stellte sie fragend fest und suchte in dem schweren Ledersessel eine bequeme Stellung, dabei seinen Blick vermeidend, weil er sich sonst sofort in sich selbst zurückzog.
„Anfälle? Ein kleiner depressiver Schub. Mehr nicht.“ Frieder bagatellisierte wie immer seinen Anfall von Schwermut. Sie tat schon so viel für ihn und er wollte sie nicht zusätzlich belasten. Doch, wie er sie kannte, würde sie keine Ruhe geben.
„Wer’s glaubt? Am Wochenende habe ich Feldstein einen Besuch abgestattet.“ Irene sah unbeteiligt auf die schwankenden Baumwipfel.
„Du warst im Kloster?“ Frieder rollte wütend vor den Sessel, so dass sie die Füße blitzschnell auf die Sitzfläche ziehen musste. Die Schuhe hinterließen eine Staubspur.
„Ja“, sagte sie gedehnt und ruckelte unbehaglich. „Ich wollte mir endlich ein Bild machen.“
„Wir haben eine Abmachung.“ Frieders Augen blitzten zornig.
„Ich weiß. Ich war in Kall… und da habe ich die Gelegenheit beim Schopf gepackt.“
„Was um Gottes Willen hast du in Kall zu tun?“
„Gummimatten für den Pferdestall. Die sind dort am Günstigsten.“
„Ja und?“
„Mensch Frieder. Ich habe mir lediglich eines der bedeutendsten Baudenkmäler unseres Landes angesehen.“ Irene zog einen beleidigten Flunsch, wobei ihre wachen Augen jede Regung ihres Gegenübers aufnahmen. Sie kannte ihn seit dem Studium an der RWTH Aachen und wusste auch, dass er sie liebte. Wenn sie sich einen Bruder backen könnte, sollte er so sein wie Frieder. Ihre Freundschaft zu Frieder war bedingungslos. Häufiger erwischte sie sich bei dem Gedanken, ob die vergangenen Jahre mehr daraus wachsen ließen, als sie zulassen wollte. Ihre Beziehung zueinander war weder einzigartig noch ungewöhnlich. Eine Freundschaft zwischen Frau und Mann, wenn da nicht seine Gefühle für sie wären.
„Du hast recht“, er bewegte den Stuhl zum Fenster und wandte ihr den Rücken zu. „Ich muss mich endlich wieder aufraffen. Ich habe Angst vor der Vergangenheit.“
„Ich weiß“, sie trat hinter ihn und gab ihrem Impuls nach und legte die Hände auf seine Schultern. Berührungen vermieden sie. Zum Geburtstag eine kurze Umarmung war das höchste von Gefühlsdarstellung.