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Kapitel 7 23. Juni 2011 08:00 Uhr

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Die Trompete riss Claudia aus ihren Überlegungen. Drei Töne. Einen Augenblick Stille. Dann spielerische Klaviermusik. Ein klassisches Thema, das ihr jedoch unbekannt war. Nach einer halben Minute setzte ein wunderschöner Bariton ein:

Von der Pein, die ich empfunden,

ist mein Antlitz abgeschwunden,

Ungeduld macht die Gestalt

mir vor meinem Jahren alt;

denn ich muss von allen Seiten

mit dem losen Haufen streiten,

der mir antut Schmach und Spott

und mich ädert auf den Tod.


Die Stille, die nach dem Lied eintrat, wirkte unwirklich in den beginnenden Sommervormittag.

Ein Choral. Er klang in Claudias Innerem nach und löste beklemmende Gefühle aus. Welch schwermütiger Text: ‚Von der Pein, die ich empfunden, ist mein Antlitz abgeschwunden‘. Wer hatte Pein erlitten? Pater Anselm? Wahrscheinlich nicht. Es musste der Entführer oder was immer er war, sein. Was geschah hier? Eine Geiselnahme wurde immer wahrscheinlicher. Wer inszenierte dieses Schauspiel? Welches perverse Gehirn steckte dahinter? Claudia fluchte, ob ihrer Ohnmacht. Die Gedanken musste sich jemand anders machen. Hoffentlich schalteten die Kollegen vor den Bildschirmen und analysierten den Choral.

„Guten Morgen“, die männliche Stimme schallte laut über den Platz und riss Claudia aus ihrer Versunkenheit. „Es ist acht Uhr. Sie haben zwölf Stunden Zeit, das Leben des Priester zu retten.“ Eine kleine Pause „Frau Plum, wenn ich richtig verstanden habe?“

Sie nickte. Ihr Blick hetzte wild durch das Umfeld und suchte nach dem Ursprung der Stimme. Die Lautsprecher waren noch immer nicht gefunden. Geistesabwesend drückte sie die Kapsel der Freisprecheinrichtung des Handys ins Ohr, schaltete das Handy ein und drückte die Kurzwahltaste ihrer Kollegin Maria. Prompt kam die Bestätigung, dass sie tatsächlich unter Beobachtung standen.

„Eine kluge Entscheidung. Sie werden alles Wissen von außerhalb benötigen. Dazu ein guter Rat: Sprechen Sie alles aus, sonst wird der Pater nicht überleben.“ Der Unbekannte klang leiser. Er hatte die Lautstärke gedimmt. Seine Stimme drang weich und angenehm, wenn auch durch die Übertragung ein wenig verzerrt, zu ihr. Die Stimmlage und das Timbre klangen bekannt. Er war der Sänger des Chorals.

„Sie sind für diese Show verantwortlich? Wer sind Sie?“ Claudia hatte keinen Plan. Die Stimme erwischte sie kalt. Dabei überkam sie fast etwas, wie Erleichterung. Eine Geiselnahme. Kein Spinner, der sie narren wollte. Und, das Wichtigste: Bei einer Entführung wurde ihr der Fall entzogen. Das LKA übernahm. Sie musste nicht auf der weltweiten öffentlichen Bühne agieren. Da kamen andere zum Zug.

„Uninteressant im Moment“, entgegnete die unbekannte Stimme.

„Sagen Sie mir, wer Sie sind? Was soll der Unsinn? Lassen Sie sofort den Menschen dort auf der Kirchenbank frei.“

„Dazu kommen wir später. Im Moment nicht.“ Die Stimme klang amüsiert.

„Was wollen Sie?“

„Vielleicht sage ich es Ihnen… oder auch nicht.“

„Vielleicht höre ich Ihnen zu … oder auch nicht.“ Claudia äffte ihn nach. Ein Irrer, der spielen wollte?

„Sie spielen mit dem Leben des Paters.“ Die Stimme wurde kalt.

Konnte der auch noch Gedanken lesen, dachte Claudia. Er hatte den Ball zurück geschoben. „Lassen Sie den Priester frei.“

„Alles zu seiner Zeit. Und… ob er frei kommt, liegt bei Ihnen.“

„Was wollen Sie überhaupt? Ich verstehe Sie nicht.“

„Frau Plum“, die Stimme wurde spöttisch. „Das ist eine Geiselnahme… eine Entführung. Haben Sie es kapiert?“ Er zog die Sätze gedehnt in die Länge. „Ich hatte genügend Zeit, Sie zu beobachten. Seit Sie hier auftauchten, habe ich alle Informationen zusammengetragen, die im Netz zur Verfügung standen. Sie werden als intelligent und sehr erfolgreich beschrieben. Wollen Sie Ihr Licht unter den Scheffel stellen?“

Der Choral ist von Louis Bourgeois. Siebte Strophe. Mehr weiß ich noch nicht“, Marias Stimme sprach durch den Knopf im Ohr.

„Auf Ihre Einschätzung meiner Person kann ich verzichten. Außerdem mag ich kein überhebliches Geschwafel. Lassen Sie uns zum Kern kommen. Noch einmal: Was wollen Sie?“ Claudia spielte mit dem Gedanken, den Unbekannten zu reizen, wusste jedoch, dass sie vorsichtig sein musste. „Gut“, sagte sie, nachdem er schwieg, „lassen Sie mich dem Mann Erleichterung verschaffen. Der bringt sich ja um.“

„Sie wissen selbst, wie leidensfähig der Mensch ist. Bei dem… dem Wesen können Sie davon ausgehen, dass er durchhalten wird.“

„Falls ich Sie richtig verstehe, besteht eine Verbindung zwischen dem Priester und Ihnen?“

„Mutmaßen Sie nicht. Suchen Sie Fakten.“ Die Stimme klang wieder belustigt.

Verdammt, dachte Claudia. Ich stehe auf dem Präsentierteller und wer weiß wie viele Menschen sahen sie und hörten zu. Das war die absolute Arschkarte. Sie konnte nur verlieren.

Was mochte er wollen? Eine normale Geiselnahme sah anders aus. Der Pater und die Stimme kannten sich, so viel war klar. Ging es um Rache? Der Priester auf der Gebetsbank. Ein Zeichen? Aber welches?

„Fakten. Geben Sie mir Hinweise.“ Wie sie es hasste. Jetzt musste Sie dem Geiselnehmer auch noch Brei um den Mund schmieren, damit er wohlgesinnt blieb.

„De mortuis nil nisi bene… in Deutsch: Über Tote nichts sagen, es sei denn Gutes.“

Auch das noch. Vorhin während der pompösen Eröffnung mit dem Choral, beschlich sie schon die Ahnung. Kirche und ein Intellektueller. Dafür war Claudia die denkbar ungeeignetste Person. Das letzte Mal hatte sie eine Kirche während ihrer Kommunion von innen gesehen. Hoffentlich kamen die Spezialisten des LKA bald.

„Pater Anselm lebt. Sie wollen nichts Gutes über ihn sagen. Deshalb lebt er noch.“

Die Stimme lachte schallend.

„Sie amüsieren sich. Haben Sie etwas gegen die Kirche?“ Claudia war um ein Gespräch bemüht.

„Nein. Sicherlich nicht. Ich bin ein sehr gläubiger Mensch.“

„Weshalb wollen sie nicht Gutes über Pater Anselm sagen?“

„Pfeifen Sie das Kommando zurück.“ Er klang barsch.

Claudia sah sich um. Kollegen des Sondereinsatzkommandos füllten den Platz. In ihren schwarzen Kampfanzügen und den geschlossenen Visieren an den Helmen machten sie einen bedrohlichen Eindruck. Sie ging zu einem Beamten.

„Halten Sie sich im Hintergrund. Ein Verrückter, wir wollen ihn nicht provozieren. Geben Sie mir noch etwas Zeit.“

„Wir verfolgen alles“, nickte er zustimmend und zeigte auf den Tablet-PC in seiner Hand.

*

Die Tür wurde aufgerissen, die Köpfe fuhren herum.

„Hauptkommissar Armin Krüger. LKA. Ich bin der leitende Einsatzbeamte.“ Der große Mann mit dem kurz geschnitten Haar trat in Begleitung von drei Männern ein.

„Dengler, Staatsanwalt“, er erhob sich halb von dem schmucklosen Drehstuhl und löste nur kurz die Augen von der Monitorwand des Einsatzcontainers. Zwei weitere Beamte im Container nickten freundlich. „Wir haben sie angefordert…“

„Schon klar“, fuhr Krüger dem Staatsanwalt über den Mund. „Ich habe mir ein Bild gemacht bevor ich hereinkam. Unsere Sprengstoffexperten untersuchen mit Spezialkameras das Umfeld des Opfers. Das SEK haben wir gerade zurückgezogen. Frau Plum hat natürlich Recht. Wir müssen den Priester schützen. Dann wollen wir loslegen“, er rieb seine Hände. „Was machen Sie eigentlich vor Ort?“, fragte er den Staatsanwalt. „Sie können nicht bleiben. Das ist zu gefährlich. Sie sind für solche Situationen nicht ausgebildet.“ Der LKA Beamte machte gleich klar, wer jetzt das Sagen hatte.

„Waren Sie schon bei dem Opfer?“

„Räumen Sie einfach Ihren Platz. In fünf Minuten will ich Sie nicht mehr sehen. Wir richten gerade im Rathaus einige Büros für unsere Bedürfnisse her. Beziehen Sie eins oder zwei mit Ihrer Mannschaft. Falls ich Sie benötige, melde ich mich.“ Er war bestimmt, jedoch nicht unfreundlich. „Sie auch“, forderte er die beiden Polizisten auf, die eine Monitorwand beobachteten.

Die Bildschirme zeigten die Aufnahmen aus dem Netz: den Katschhof in verschiedenen Perspektiven. Das große Areal wurde komplett abdeckt. Ein Computerprogramm setzte die einzelnen Kameraaufnahmen zusammen und bildete das Ergebnis, als dreidimensionales Bild, auf der Projektionsfläche, rechts an der Wand, ab. Das LKA machte sich die Übertragung zunutze und bearbeitete das Bild mit eigener Software für ihre Bedürfnisse.

Die Spezialisten bestimmten, draußen auf dem Hof, mit ihren Messgeräten den Bereich, der durch Bewegungsmelder abgedeckt wurde. Sie wirkten eher wie ein Vermessungstrupp, als hoch spezialisierten Polizeibeamten. Die GPS Koordinaten wurden drahtlos an das entsprechende Programm gesendet und verarbeitet. Fast gleichzeitig wurde die gedatete Fläche auf dem Hauptmonitor farblich unterlegt. Das Pflaster bekam auf dem Bildschirm eine hellere Einfärbung und bildete um das Geiselopfer eine ellipsenförmige Fläche.

Dengler und die beiden Beamten waren im Begriff den Container zu verlassen, als Claudia Plum die Tür öffnete. Sie stieg in Begleitung des Polizeipräsidenten ein.

„Sie haben mich herbestellt?“, fragte sie Dengler.

„Das war ich.“, sagte Krüger, der mit dem Rücken zu ihr stand. „Morgen Claudia.“

„Armin. Gut, dass du hier bist.“ Sie freute sich ehrlichen Herzens, ihn zu sehen. Sie hatte ihn bei verschiedenen Einsätzen als wertvollen und kompetenten Kollegen kennengelernt. Zwar humorlos und in seine Paragraphen verliebt, jedoch zuverlässig. „Dieser Wahnsinn dort draußen übersteigt meine Vorstellungskraft. Ich hab‘ absolut keine Ahnung, was dort vor sich geht.“

„Wir auch noch nicht.“ Krüger reichte ihr die Hand. „Meine Herren, sie müssen jetzt gehen. Wir benötigen den Platz und es ist zu gefährlich.“ Er komplimentierte den Staatsanwalt und Polizeipräsidenten hinaus. „Sie halten sich bereit“, sagte er zu den beiden Beamten. „Drüben in der Ritter Chorus Straße wird die Einsatzzentrale hergerichtet. Melden Sie sich bei den Kollegen. So Claudia“, er machte eine auffordernde Handbewegung.

„Ein Selbstdarsteller“, stellte Claudia fest. „Der kniende Priester und die bombastische Ouvertüre des Geiselnehmers.“

„Was habt ihr unternommen?“

„Wenig. Zu viele Unsicherheitsfaktoren. Ich konnte die Warnungen nicht ignorieren. Vor ungefähr zwanzig Minuten, wie vorhin gesagt, die Ouvertüre“, sagte Claudia sachlich.

„Du hast vollkommen richtig gehandelt. Es stört dich doch nicht, wenn unser Psychologe übernimmt?“ Die Frage war rhetorisch, wie Claudia wusste. Er hatte jetzt das Kommando.

„Absolut nicht“, sie fühlte sich erleichtert. Auf dem Präsentierteller, wer weiß von wie viel Menschen beobachtet, war nicht ihr Ding. Sie nickte dem Kollegen dankend zu, der ihr ein Glas Wasser reichte. „Was habt ihr jetzt vor?“

„Falls diese geheimnisvolle Stimme… ach… da ist überhaupt nichts geheimnisvoll… es zulässt, werden wir draußen den Raum markieren, den die Bewegungsmelder abdecken.“ Er wies auf die Darstellung der Projektionswand. „Das ist auch eine gute Gelegenheit, die Gemütslage des Entführers zu testen. Meine Leute werden zunächst emotionale Verfassung des Geiselnehmers ausloten. Unser Profiler wird seine mentale Situation analysieren, dann sehen wir weiter. Zwölf Stunden sind eine verdammt lange Zeit. Wir stellen uns auf einen langen Tag ein. Wer weiß wozu der fähig ist? Übrigens… zunächst jede Stunde Einsatzbesprechung und bei Bedarf.“ Er beobachtete die Szene auf dem Katschhof. „Da ist Werner, unser Psychologe.“ Einer der Beamten an den Geräten stellte den Ton lauter.

*

„Darf ich mich vorstellen… mein Name ist Werner, vom Landeskriminalamt. Ich werde jetzt mit Ihnen sprechen.“ Er stand auf dem Platz, den Claudia vorher innehatte.

Ein junger Mann. Frisch von der Schule, dachte Claudia. Wenn das mal gut geht

„Wir haben im Moment keinen anderen“, Krüger las Claudias Gedanken auf ihrem Gesicht. „Urlaubszeit und früh am Morgen. Werner hat Bereitschaft.“

Die Stimme reagierte nicht.

„Erklären Sie uns Ihre Forderungen.“ Werner tat, als sei es die normalste Sache, Claudia Plum abzulösen.

Der Geiselnehmer ließ auch den Satz unbeantwortet im Raum stehen.

„Wollen Sie Lösegeld? Oder haben Sie andere Forderungen? Wir können ihre Wünsche nur erfüllen, wenn Sie sie formulieren.“ Der Psychologe sah unbehaglich zu einer Webcam. Die vielen Zuschauer gingen ihm durch den Kopf. Falls der Typ reagierte, sah er alt aus. Er konnte nur verlieren. Die Entführung hatte nichts gemein mit denen, die er aus dem Lehrbuch kannte. Klar wurde der Kontakt mit den Medien behandelt, doch hier stand er auf dem weltweiten Präsentierteller. Keine angenehme Vorstellung. Mit innerer Genugtuung stellte er fest, dass die Lautsprecher stumm blieben.

Für die Zuschauenden wirkte Kollege Werner jung, verletzlich und verloren. Dabei musste er aufpassen, dass die Erleichterung nicht auf dem Gesicht erschien. Jetzt, kurz vor den Sommerferien, waren viele Kollegen urlaubsbedingt abwesend. Er hatte Einsatzbereitschaft. Im Normalfall hätte ein älterer Kollege übernommen.

„Ich verstehe“, stellte er fest. Er stand noch einen Moment, als überlege er, wie er neu ansetzen könne, dann verließ er den Platz, den er von Claudia übernommen hatte.

*

Der Mann sah amüsiert auf den hilflosen Psychologen. Eigentlich müsste er beleidigt sein. Die Polizei nahm die Situation nicht ernst und schickte ihm einen Studenten. Na ja. Ein Mann in Priesterkleidung auf einer Kirchenbank war ja auch nichts Bedrohliches. Zumindest noch nicht. Die studentische Aushilfskraft würde er auf keinen Fall akzeptieren. Der junge Kriminalist war nicht dumm und realisierte seine Chancen sehr schnell. Dem Mann vor dem Monitor war nicht entgangen, wie erleichtert der Psychologe war, als die Lautsprecher stumm blieben. In einer anderen Situation hätte er ihn noch etwas schwitzen lassen. Doch die Situation war zu ernst, als, dass er Zeit für solche Spielereien hatte.

Die Hauptkommissarin war ideal. Ihr Unwohlsein vom frühen Morgen war verschwunden und die Augen blitzten, meist aufgebracht, in die Kameras. Sie schaltete schnell und steckte voller Emotionen, die er für sein Vorhaben nutzen wollte. Er musste einen Weg finden, sie nicht gegen sich aufzubringen und vor allem ihre Selbstachtung nicht ankratzen. Ein Opfer war genug, Seit kurz vor sechs Uhr beobachtete er die Entwicklung auf dem Katschhof und war zufrieden mit dem, was er auf die Beine gestellt hatte.

Claudia Plum wirkte jung, verletzlich… ja fast noch mädchenhaft. Sie war die ideale Besetzung und wie geschaffen für seinen Plan. Die Kameras holten überscharf all das hervor, was das normale Auge nicht sah. Ein ständiger Kummer stand ganz hinten in ihren Augen. Ob sie sich dessen bewusst war?

Der Mann besaß keinen festen Plan. Lediglich eine ungefähre Richtung und möglicherweise den Tod der Geisel. Doch bis dahin war noch ein weiter Weg.

*

„Das erschwert die Situation. Ich denke, du musst wieder übernehmen Claudia“, stellte Krüger unbeeindruckt fest, als der Psychologe den Gesprächsversuch abbrach.

Claudia hatte das Intermezzo nur teilweise mitbekommen. Sie beobachtete den armen gequälten Mann. Was mochte hier geschehen?

Was veranlasste ihn, nichts zu sagen? Unter welchem Druck stand er? Sie hatte keinen Ansatzpunkt. Ein Priester… was konnte ein Pastor verbrochen haben, um ihn so zu strafen? Pater Anselm stand am Pranger. Mittelalterliche Folter unter technischem Ambiente. Wie alt mochte er sein. Anfang sechzig? Diese Augen. Unangenehm. Das war ihr vorher nicht aufgefallen.

Tatsächlich, der Typ hatte den Priester an den Pranger gestellt. Er wollte nicht töten, glaubte sie zumindest. Und wenn doch?

Was war, wenn sie einem Gag aufsaßen? Die Blamage wäre unvorstellbar.

„Was hast du gesagt? Ach ja… ich kann darauf verzichten.“

„Danach fragt Sie niemand, Frau Plum.“ Einer der Beamten im Hintergrund stellte die unverschämte Bemerkung in den Raum.

„Das hat mir noch gefehlt. Ein Klugscheißer, der die Landesbehörde heraushängen lässt.“ Sie warf ihm einen vernichtenden Blick zu. „Klar übernehme ich, Armin. Aber, pfeife deine Schlaumeier zurück. Ich reagiere allergisch auf solche Typen. An den Einsatzbesprechungen nehmen der Staatsanwalt und mein Chef teil. Immerhin seid ihr auf unserem Territorium und wir bekommen die Prügel, wenn es schief geht.“ Claudia guckte den Beamten aus, der ihr die Entscheidung nehmen wollte. Sie wirkte selbstsicher und herausfordernd. „Ihr müsst für den Pater etwas tun. Im Verlaufe der Aktion wird er gerbraten. Einen Sonnenschirm bekommen wir im Moment nicht dorthin. Lasst euch etwas einfallen“, fuhr sie an Krüger gewandt fort.

„Ist in Arbeit“, er nickte bestätigend und horchte nach draußen.

Halt! Bleiben sie bitte stehen“, ertönte mehrfach aus den Lautsprechern.

„Die Kollegen stecken den Raum ab, den wir ausgemessen haben.“ Seine Augen verfolgten auf dem Bildschirm, wie die Kreidestriche auf dem Pflaster Konturen annahmen. „Wir haben den Boden innerhalb dieser Fläche“, er fuhr mit dem Finger die Konturen auf der Projektionswand nach, „mit verschiedenen Methoden, du weißt schon, Infrarot und so, untersucht. Keine Kabel und falls Sprengstoff… Plastik. Er ist klug. Wir können nicht näher heran. Was um diesen Pater Anselm herum sein mag, wissen wir nicht. Das bedeutet, uns können Überraschungen erwarten. Die Kollegen provozieren eine Reaktion, die scheinbar misslingt.“ Er ging zum kleinen Fenster und beobachtete das SEK in den schwarzen Kampfanzügen, die über die Lichtschranken, die Warnung aktivierten.

„Versucht Informationen zu dem Choral zu bekommen. Mein Gefühl sagt mir, dass gerade die kleinen Informationen wichtig werden.“ Claudia wechselte das Thema und fixierte versonnen einen imaginären Punkt. „Wir müssen uns überlegen, wie wir an ihn herankommen.“

„Meine Leute tun nichts anderes. Hast du eine Idee?“, fragte Krüger leicht aggressiv.

„Überhaupt nicht. Ich muss ihn einfach kommen lassen. Unintelligent ist der auf keinen Fall. Ich stelle mich auf ein Puzzle ein. Teilchen für Teilchen.“

„Möglich“, bemerkte der Beamte von vorhin. „Erpressung ist wahrscheinlicher.“

„Auf keinen Fall“, entgegnete Krüger. „Aus dieser Entführung kommt der Geiselnehmer nicht heraus. Das weiß er. Die Technik werden wir irgendwann zurückverfolgen.“.

„Auch mein Gedanke“, sagte Claudia. „Falls er Plastiksprengstoff benutzt, wenn überhaupt, muss er ein Funksignal senden. Könnt ihr keinen Störsender um die Geisel herum legen.“

„Zu gefährlich“, stellte ein anderer LKA Kollege fest. „Wir wissen nicht, wie technisch begabt Mister X ist. Ein Störsender könnte eventuell die Katastrophe auslösen. Wir können uns diesem Pater auch nicht nähern, weil möglicherweise Druckauslöser angebracht sind. Der Platz ist gut gewählt. Erst in der vergangenen Woche wurden hier Kabel verlegt. Internet oder so. Falls er etwas in den Boden eingebracht hat, dann zu dieser Zeit. Was wiederum belegen würde, dass er über ausreichendes technisches Knowhow verfügt. Hier sind hunderte, wenn nicht tausende Menschen entlang gelaufen, ohne, dass etwas geschah. Aufgrund der durchgeführten Bauarbeiten haben wir auch keine Chance, Unregelmäßigkeiten der Pflasterung zu nutzen. Störsender auf keinen Fall. Was mich stört, ist die Wahl des Ortes auf dem Hof. Überall liegen diese großen Steinplatten im Boden. Nur der Teil um die Kirchenbank ist mit den kleineren Blausteinpflastern bedeckt. Wir erkundigen uns gerade bei der Stadt, ob das schon vor den Bauarbeiten dort lag oder möglicherweise von dem Geiselnehmer vorgenommen wurde. Wenn ja, ist dort eine sehr gefährliche Zone.“

„Technischen Verstand besitzt er allemal“, der dritte LKA Beamte ergriff das Wort. „Neben den Webcams auf den Stativen greift er die Signale der Überwachungskameras ab.“ Er zeigte zum Rathaus und Dom. „Eine Technik, die wir noch nicht verwenden. Hier schauen Sie einmal“, er drehte einen Monitor, „das Programm, das er verwendet, verarbeitet Signale von beliebig vielen Kameras und sendet diese fast holografische Aufnahme. Faszinierend.“ Seine Augen leuchteten. „Er könnte auf der anderen Seite des Erdballs sitzen und uns narren. Aber wer sagt uns, dass nur eine Person am Werk ist?“

„Kacke“, sagte sie unverblümt und verarbeitete die Informationen. „Mein Gefühl trügt also nicht. Der Aufwand ist groß. Wir müssen uns tatsächlich auf einen langen Tag einstellen und ich muss tatsächlich dort hinaus.“ Sie schüttelte sich. „Noch nie habe ich mir einen Mord gewünscht. Heute Morgen ist das anders. Über die Anzahl der Entführer haben wir uns auch schon Gedanken gemacht. Ein solcher Aufwand von einer einzigen Person veranstaltet, ist fast nicht möglich.“ Claudia gab sich einen Ruck. „Wenn es sein muss, gehe ich wieder hinaus. Ungern. Äußerst ungern. Schafft mir einen Stuhl und Tisch dorthin. Falls die Zeit ausgeschöpft wird, kippe ich aus den Latschen bevor Mittag ist. Und etwas zum Schreiben. Ich bin jetzt mal für kleine Mädchen und dann schauen wir, wie weit ich komme.“

„Hier“, Krüger hielt ihr ein Headset mit Mikrofon hin. „Wir schalten die Anlage von hier. Falls Maria oder sonst wer, wichtige Infos hat, bekommst du diese direkt aufs Ohr. Ansonsten werden die Anweisungen von mir gegeben. In Kürze haben wir noch einige Einsatzcontainer hier. Krisenstab und Experten… du kennst das ja. Wir geben dir den Kollegen Werner zur Hand. Ich hoffe, das ist dir recht?“

„Den Bubi?“, fragte sie gedehnt. „Aber klar. Jede Unterstützung ist willkommen und notwendig“, fuhr sie spöttisch fort.

„Das ist unfair. Er tut sein Bestes“, verteidigte ihn einer der Kollegen. „Was sagt Ihr Gefühl?“, schob er die Frage nach.

„Wir müssen noch eine Menge tun, ehe wir an die Geisel herankommen“, meinte Claudia. „Es wäre nicht der einzige Fall bei dem die ersten Eindrücke täuschen.“ Sie lenkte den Blick hinüber zu dem knienden Priester. „Ich habe meine Zweifel, dass er ist, was er scheint.“ Claudia beobachtete die Kollegen. Wenn es eine Polizeibehörde gab, die sich in Heimlichtuerei hüllte, dann das LKA. Sie konnte sich ohne weiteres ausmalen, dass man ihr Knüppel zwischen die Beine warf, um einen eventuellen Erfolg für sich zu verbuchen. Sie konnte ihre Meinung zwar an nichts festmachen, doch war sich aus Erfahrung sicher. Zwar war Armin Krüger aufgrund seiner Beziehung zu Maria vorsichtiger, würde sie jedoch dem Altar des Erfolges opfern. Die Vorstellung bereitete ihr Unbehagen.

„Und was glaubt Du?“, fragte Claudia Armin Krüger.

Einen Moment lang blickte Armin auf den Boden; dann schaute er Claudia ins Gesicht. „Ich? Die Sache läuft nicht, wie ich mir es vorstelle. Mister X ist klug. Er hält uns mit Macht heraus und setzt auf dich. Ich möchte jetzt nicht überheblich klingen, doch wir können nicht unsere Erfahrung einsetzen, auf deine Rolle könnte ich gern verzichten.“

„Mach‘ dir keine Sorgen. Du klingst überheblich und arrogant. Dieser Einsatz liegt mir nicht. Er wird nicht vom Verstand, sondern von Gefühlen bestimmt werden. Du kannst mir eine andere Aufgabe übertragen. Doch, wenn ich jetzt dort hinausgehe, werde ich den Fall bis zum Ende bearbeiten. Darüber musst du dir im Klaren sein.“ Sie begegnete ihm unbeeindruckt. Nichts ließ darauf schließen, dass sie ihn für einen aufgeblasenen Armleuchter hielt. Allein um Maria Willen musste sie Ruhe bewahren.

„Wir stecken in Hierarchien, wie du weißt.“ Krüger brachte sein Gesicht ganz nahe vor ihres. „Im Moment habe ich das Sagen und die Verantwortung. Geiselnahme… du gehst jetzt entsprechend meiner Anordnung hinaus. Wir müssen wissen, was er im Schilde führt und wie seine Forderungen sind.“

Claudia zuckte lediglich mit den Schultern. Sie trat aus der Tür, als der Polizeipräsident zu ihr eilte.

„Ich habe gehört, Sie werden die Verhandlungen leiten“, sagte er.

„Stimmt“, bestätigte Claudia

„Falsch“, unterbrach Krüger. „Frau Plum ist faktisch unser Sprachrohr.

„Ich bin Dieter Klein, der Polizeipräsident. Da Frau Plum für beide Behörden, also LKA und mein Präsidium arbeitet, ist es wohl am besten, wir arbeiten zusammen.“

„Nun, wir stehen noch am Anfang, aber ich habe nichts dagegen, jemandem Gefälligkeiten zu erweisen, solange ich eine Gegenleistung erhalte“, versetzte Krüger vorsichtig.

„Ich spreche nicht von Gefälligkeiten. Sie bedienen sich meiner Beamten und für mich ist es nicht mehr recht als billig, wir in die Aktionen einbezogen werden.“ Klein sah dem LKA Beamten ruhig in die Augen.

Erstmals, seid ihr Chef die Leitung des Präsidiums übernommen hatte, wurde Claudia bewusst, weshalb. Er schien knochenhart, wobei er bisher, von ihr und den Kollegen, als unfähiges Ekel angesehen wurde.

„Das kann ich nicht zulassen“, reagierte Krüger unwirsch. „Außerdem fehlt mir die Zeit, mich jetzt mit Kompetenzgerangel zu beschäftigen. Lassen Sie uns unsere Arbeit tun. Die Beschwerden bearbeiten wir später.“ Er nickte Claudia zu, ihre Aufgabe anzupacken.

„Nicht so eilig“, der Präsident vertrat ihr den Weg. „Es geht keinesfalls um Kompetenzgerangel“, sagte er zu Krüger. „Sie können jede Mitarbeit gebrauchen und meine Mitarbeiterin wird nur mit meinem Segen die Verhandlungen führen. Sie können auf meine Beamten zugreifen, jedoch nicht selbstherrlich. Dazu fehlt Ihnen der Dienstrang, wenn ich die Angelegenheit auf diese Schiene schieben darf.“

Claudia verfolgte belustigt den Hahnenkampf um die Macht und hatte so im Gefühl, als das Krüger klein beigeben werde.

„Ich habe Kollegin Plum während der Besprechung vorhin schon die Hierarchien erklärt. Entführung ist Sache des LKA.“ Der Düsseldorfer Kollege strampelte.

„Bestreite ich nicht“, stimmte Klein ihm zu. „Dann machen Sie mal. Kommen Sie Frau Plum. Wir werden nicht gebraucht.“ Er fasste sie leicht am Arm.

„Ich muss zur Toilette. Fechten Sie Ihren Kampf aus. Wenn ich fertig bin, werde ich meine Job tun. Unmöglich diese Reibereien vor dem Hintergrund des gepeinigten Priesters.“ Sie wandte sich ab und schlenderte zum Ratskeller. Daneben lag die öffentliche Toilette. Ihr Blick kreiste in der Hoffnung, etwas Ungewöhnliches zu entdecken. Zum Rathaus hin war alles geräumt. Keine Zuschauer mehr. Sie blieb stehen und erfasste den gesamten Platz. Tatsächlich… mittlerweile war er von Schaulustigen geräumt. Dagegen hingen in den Fenstern der umliegenden Gebäude dicke Menschtrauben in den Fenstern.

Ob das nicht gefährlich war, schoss ihr durch den Kopf. Soll sich doch das LKA kümmern.

Hatte der Typ sie jetzt ausgeguckt oder wollte er einfach nicht mit dem Düsseldorfer Psych sprechen? Düstere Ahnung überzog sie. Sie sah dem angekündigten heißen Sommertag mit gemischten Gefühlen entgegen.

Fast glaubte sie auf dem Kaiserdom, die Bewegung des Schattens zu sehen, der unbarmherzig von der Sonne weggedrückt wurde. Blöde Kuh, schimpfte Claudia sich. Halbvoll oder halbleer… natürlich breitete das Licht sich aus - den Schatten verbannte sie.

Nichts desto trotz blieben die Geisel, der Unbekannte, eine Hand voll Polizisten und die Aufzeichnungsgeräte.

Um den merkwürdigen Pater Anselm herum bildeten die Kreidestriche eine Entfernung zwischen fünfzehn und siebzehn Metern. Die innere Grenzlinie mit der Todeswarnung hatte das LKA ausgeklammert. Niemand wollte den Unbekannten verärgern und damit den Priester einer unkalkulierbaren Gefahr aussetzen.

Ob sich jemand Gedanken darüber machte, ob und welcher Gefahr sie möglicherweise ausgesetzt war, wenn sie dort auf dem Präsentierteller stand? Ihr graute davor. Möglicherweise ein Irrer, der hier unberechenbar seine Show abzog.

Sie stieg mit ihren gemischten Gefühlen die Treppe zur Toilette hinunter.

*

Vergeltung

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