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Kapitel 10 23. Juni 2011 08:30

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Halt! Bleiben Sie bitte stehen.“

„Verdammt“, entfloh es Claudias Lippen. Sie hatte die Bewegungsmelder vergessen. Hart an der äußeren Begrenzung standen Tisch und Stuhl. Die Kollegen waren fleißig gewesen. Bei der Frage nach Getränken hatte sie mit dem Hinweis auf den armen Pater abgewinkt, der schließlich auch ohne auskommen musste.

Der Polizeipräsident hatte die Auseinandersetzung scheinbar für sich entschieden, weil weder Krüger noch er, Einspruch erhoben. Hoffentlich war Armin klar, dass sie jetzt bis zum Ende dieser Farce die Gangart bestimmte. Eine halbe Stunde nach dem Ultimatum des Unbekannten waren sie schon zerstritten. Das konnte heiter werden, wenn die Differenzen sich über den ganzen Tag zogen.

LKA Kollege Werner saß schon bereit. Er wirkt ein wenig nervös, dachte Claudia. Seine Hände lagen keinen Augenblick still auf dem Tisch. Er schob den Block hin und her oder tippte mit dem Kuli auf die Platte.

Das Sonnensegel über dem Pastor war gespannt. Drei Stapler, deren Gabeln hochgefahren waren, dienten als Halt. Das Tuch würde für einige Stunden Schatten spenden.

Zwei Feuerwehrleute rollten einen Schlauch aus, der wohl dazu dienen sollte, die Pflastersteine um den Ort der Geiselnahme zu kühlen, falls es notwendig wurde. Der Tag sollte sehr heiß werden. Fünfunddreißig Grad Celsius. Hier im Innenhof sicherlich noch einige Grad höher.

Nachdenklich nahm Claudia Platz und schob nervös den DIN A4 Block hin und her, der dort lag. Sie grinste und wurde ruhig. Wenige Augenblicke vorher machte sie sich Gedanken über den nervösen Psychologen und jetzt saß sie genauso hier.

Der Entführer hatte ein festes Konzept. Zumindest erweckte er in der kurzen Unterhaltung vorhin den Eindruck. Sie musste den roten Faden finden und zerschneiden. Die Ahnung von Gefahr im Hintergrund ihrer Gedanken verstärkte sich von Minute zu Minute. Dabei wusste sie genau, dass keine körperliche Gewalt drohte. Nein. Ihr Verstand, ihre Psyche waren in Gefahr. Sie hatte jedoch keinerlei Vorstellung, wie oder wann der Geiselnehmer zuschlug. Das machte sie verrückt und nervös.

Es war nach wie vor windstill und die Atmosphäre, nicht nur in der Luft, heizte langsam aber sicher hoch.

Was mochte der Tag bringen?

*

Maria Römer brachte das Polizeipräsidium in Schwung. Die Leitungen zum LKA standen. Die Informationen liefen dort zusammen. Armin Krüger koordinierte die Aktion vom Einsatzwagen der Landespolizei auf dem Katschhof. Daneben hatte sie die Standleitung zu ihrer Chefin, wie sie auf dem Monitor ihres PC sehen konnte. Der kleine Icon auf der Menüleiste zeigte hell unterlegt die bestehende Verbindung an.

Armin war Marias neuester Lover. Na ja. Vielleicht schon etwas mehr. Die Beziehung hielt nun schon ein halbes Jahr. Vielleicht, weil er in Düsseldorf wohnte und sie in Aachen. In ihrem Alter noch einmal zu entflammen, war eine Erfahrung, die sie nicht missen mochte. Im Hintergrund nagte zwar der Gedanke an den Altersunterschied, den sie immer wieder verdrängte, doch in dieser Beziehung war sie vom Stamme ‚Nimm‘. Lieber ab und zu eine Enttäuschung, anstatt als Blaustrumpf enden.

Claudia“, Maria nahm Kontakt zu ihrer Chefin auf.

Die junge Inspektorin nickte leicht mit dem Kopf, zum Zeichen, dass die Verbindung stand. Sie saß kerzengerade und starr, als wolle sie den Zustand des Paters ebenso durchleben.

Hier laufen die Leitungen heiß. Ich soll mich kurz halten, sagen die vom LKA. Die Mailkonten quellen über. Interessant ist vielleicht die Info einer Mail. Ich habe sie geprüft und folgendes Ergebnis:

Der Katschhof ist eine Reproduktion des Hofes in der karolingischen Kaiserpfalz. Westlich des Rathauses stand früher das sogenannte Grashaus, die Gerichtsstätte des Schöffengerichts… der Acht. Erst im 14. Jahrhundert wurde die karolingische Königshalle zum Rathaus umfunktioniert.“ Sie machte eine kurze Pause, um die Gedanken zu sammeln. „Dort wo der Pater kniet, stand bis gegen 1800 der Pranger. Daher der Name Katschhof. Was nichts anderes bedeutet, als dass du im Hof des Schandpfahls bist. Wenn das ein Zufall ist, fresse ich einen Besen.“ Sie stockte kurz und zog ein Blatt heran. „Noch eine Info zum Choral, der vorhin gesungen wurde. ‚Herr, nicht schicke deine Rache über meine böse Sache‘ beginnt der Eingangsvers. Vielleicht ergibt das irgendwann einen Sinn.“ Während sie sprach, beobachtete Maria den Bildschirm und gelangte zu der Überzeugung, dass Claudia die Nachricht verstanden hatte.

*

„Sie haben keine Personalunterlagen über Pater Anselm?“, fragte Kriminalkommissarin Gerti Backes ungläubig. Sie sprach im Bischöflichen Generalvikariat mit einer Angestellten.

Als sie vor wenigen Minuten den Raum betrat war, stand die Enttäuschung in ihrem Gesicht geschrieben. Sie wusste nicht genau, was sie erwartet hatte. Auf jeden Fall nicht die modernen Büroräume. Mit Kirche brachte sie verstaubte Bücher und antiquierte Möbel in Zusammenhang. Dicke Folianten in denen die Kirchengeschichte festgehalten war.

Das Personal arbeitete hier auch am PC. Wie unromantisch. „Nach den Informationen, die uns vorliegen, betreut der Pastor Pfarren in ihrem Bistum. Wollen Sie mich auf den Arm nehmen?“ Sie machte einen Schuss ins Blaue.

„Es tut mir leid.“ Die junge Frau hob bedauernd die Schultern. „Falls Sie ein wenig warten… der Vikar kommt gegen zehn Uhr… dann können Sie persönlich mit ihm sprechen.“

„Fast eineinhalb Stunden? Auf keinen Fall. Vielleicht zweihundert Meter von hier wird ein Mitarbeiter Ihrer Kirche als Geisel ausgestellt und Sie verweigern mir Informationen?“ Kommissarin Backes war fassungslos.

„Wir haben keine Info im Computer. Das geschieht schon einmal, wenn der Geistliche nicht vom Bistum betreut wird. Ich kann Ihnen leider nicht weiterhelfen.“ Ihre Augen baten, keine Schwierigkeiten zu machen.

Gerti Backes überlegte. Die Angestellte hatte ihr vielleicht einen wichtigen Hinweis gegeben. Außerdem war sie sicherlich nicht an der Misere des Priesters schuld. Die Kommissarin wusste um die schwierigen Arbeitsbedingungen bei der Kirche und beließ es zunächst dabei. Sollte der Staatsanwalt eine Durchsuchung anordnen.

*

„Frau Plum. Sie entfernen sich, wenn ich es erlaube.“ Die Stimme tönte drohend auf den Platz. „Dieses eine Mal habe ich Nachsehen mit Ihnen. Sie spielen mit dem Leben des…“, er ließ den Namen in der Luft hängen. „Ihren Arbeitsplatz einzurichten, halte ich für einen guten Gedanken. Sie werden ihn benötigen.“

Claudia schreckte unwillkürlich hoch. Er hatte sie wieder einmal kalt erwischt. Sie dachte über einen Plan nach, wie sie den Psychologen einbauen konnte. Sie kannte den Mann nicht. Sah ihn heute zum ersten Mal. Werner und sie mussten einen gemeinsamen Faden spinnen. Hoffentlich war er kein Kopfmensch. Das konnte sie nicht ab. Sie verstand ihren Job aus einer Mischung von Gefühl und Verstand, einem intuitiven Leitgedanken, dem sie folgte.

„Wir sind vorhin bei ihrem Verhältnis zur Kirche stehen geblieben.“ Claudia überging den Beitrag des Unbekannten. Sollte er doch drohen. Letztendlich ging es darum, die Geisel aus ihrer Lage zu befreien.“

„Lassen Sie von Ihren Kollegen den Sonnenschutz entfernen. Er verdeckt die Kameras. In der Zwischenzeit erzählen Sie etwas über sich.“

„Mit Sicherheit nicht“, Claudia reagierte empört. „Wollen Sie den Mann vor Ablauf der zwölf Stunden umbringen?“

„Die Spielregeln bestimme ich.“

„Das mag sein. Wenn die Geisel frei ist, schicke ich Ihnen meinen Lebenslauf.“

Claudia bist du wahnsinnig? Bitte vorsichtiger und ruhiger. Lasse dich nicht provozieren.“ Armin Krüger beruhigende Stimme versuchte ihren Ansatz zu stoppen.

Schallendes Gelächter erfüllte den Katschhof. Der Entführer regelte dafür die Lautstärke hoch.

„Ich wusste, dass ich meinen Spaß haben würde, doch so…“, er lachte glucksend weiter und dimmte wieder die Lautstärke. „Sie sind nicht aus dieser Gegend?“, fragte er im Plauderton.

„Doch“, sie beherzigte den Rat des LKA Beamten.

„Ja und?“

„Aufgewachsen, weggezogen und jetzt wieder hier.“

„Düsseldorf?“

„Weshalb fragen Sie? In ihren Unterlagen steht wahrscheinlich meine Lebensgeschichte.“

„Nein. Sie täuschen sich. Ihr Dialekt. Ich habe eine gutes Ohr.“

„Und Sie?“

„Provinz. Nicht sehr weit von hier.“

„Davon höre ich nichts heraus.“

„Ich habe hart an mir gearbeitet. Jetzt sie.“

„Ein kleines Dorf in der Nähe ist jetzt meine Heimat.“ Claudia verdrehte innerlich die Augen. Der absolute Irrsinn. Sie plauderte mit dem Geiselnehmer und die Geisel litt in dem Betstuhl. In welcher Welt lebte sie?

Die Kollegen beratschlagten, wie der Sonnenschutz angebracht werden konnte, ohne die Sicht auf das Opfer zu verhindern. Dazu sahen sie auf ein Notebook und dirigierten die Gabelstapler, die das Segel trugen.

„Sind Sie verheiratet?“ Der Irre gab nicht auf.

„Jein.“

„Verbessern Sie mich, falls ich falsch liege. Sie haben einen Lebensgefährten. Das Ehegelübde ist noch nicht gesprochen.“

„Korrekt.“ Wie viele Menschen mochten im Moment zuschauen? Unter keinen Umständen würde sie vor der Öffentlichkeit ein Liebesbekenntnis zu Kurt abgeben. Hallo Deutschland, hier ist die bekloppte Kriminalbeamtin, die durch ihren Übereifer der Quotenhit wird.

„Mir wird das Zusammenleben mit einer Frau nicht vergönnt sein“ der Unbekannte gab wehmütig ein Detail seines Lebens preis.

„Weil Sie als überführter Verbrecher einsitzen“, brach aus Claudia der Unmut heraus. „Entschuldigen Sie“, fügte sie an.

„Angenommen. Jetzt Sie.“

„Sie haben ein Faible für martialische Methoden?“

„Durchaus nicht“, die Stimme klang ruhig aus verborgenen Quellen. „Nicht liegt mir ferner, als eine Kampfhandlung zu provozieren. Mir macht die Situation Spaß.“

„Werden Sie uns den Grund für Ihre Freude mitteilen?“ Werner leistete seinen Beitrag. Einen Augenblick lag fühlbare Stille über dem Platz.

„Junger Mann. Falls ich Sie als Gesprächspartner wünsche, teile ich Ihnen das mit. Sie sind die Dekoration. Frau Plum wird sich sicherer fühlen, solange Sie an Ihrer Seite sind. Eine andere Aufgabe haben Sie nicht. Noch ein Wort von Ihnen und Sie sind Vergangenheit. Also Klappe oder Ihre Karriere ist beendet.“ Die Stimme klang eher missmutig, als drohend.

„Jetzt lassen Sie Kollege Werner in Ruhe. Er macht seinen Job.“ Claudia legte eine Hand auf den Arm des Kollegen. „Martialisch… mein Fehler… falsche Wortwahl. Selbstdarstellung. Genau. Sie sind ein Selbstdarsteller.“ Claudia spürte förmlich, wie die Menschen vor den Bildschirmen die Luft anhielten, obwohl sie keinen Gedanken daran verschwendete Sie knüpfte unverdrossen dort an, wo Werner unterbrach.

Seitens der Stimme erfolgte keine Reaktion.

„Lassen Sie mich auf Ihre Bemerkung von vorhin zurückkommen. Das Zusammenleben mit einer Frau…“ Er hat sich in der Gewalt. Es wird schwer ihn zu provozieren, dachte Claudia. Naja. Der Versuch war müde und untauglich. „Mitleidsmasche oder Tatsache?“ Sie konnte es nicht lassen.

„Das Erstere.“

„Dachte ich mir. Lassen Sie uns noch einmal von vorn beginnen. Sie haben ein Anliegen und benötigen Publikum, es vorzutragen. Dazu inszenieren Sie dieses Schauspiel. Dazu quälen Sie einen Menschen. Dazu führen Sie mich und meinen Kollegen“, sie legte wieder die Hand auf Werners Arm, „vor. Die Zeitvorgabe betrug zwölf Stunden. Ich habe keine Lust, mich jetzt einen langen Tag mit Nichtigkeiten aufzuhalten. Das Leben des Paters gegen meines. Ich bin keines klaren Gedankens fähig, solange der Priester in dieser Haltung verharren muss. Lassen Sie ihn frei und ich verspreche Ihnen, den Dialog fortzusetzen.“ Claudia ignorierte die Stimmen, die versuchten sie aufzuhalten. Nicht nur Krüger, sondern auch die anderen LKA Menschen im Container quasselten durcheinander in ihr Ohr. Der Typ brachte sie unweigerlich auf die Palme.

„Ich bin überrascht, Frau Plum. Sie wollen meinen Zeitplan beeinflussen. Mit dem Austausch meines Kunstwerks habe ich zu einem späteren Zeitpunkt gerechnet. Also, nicht böse werden. Ihr Vorschlag ist im Moment nicht diskutabel. Ich möchte noch ein wenig über Sie erfahren. Also legen Sie los.“

„Was wollen Sie?“ Claudia raste innerlich. Sie musste das Thema wechseln. „Das Ambiente Ihrer Aufführung hat sicherlich einen bestimmten Grund.“ Vielleicht schmeichelte ihm das. „Links der Dom und rechts das Rathaus. …sonst hätte es doch auch der Tivoli getan. Was wollen Sie denn?“ Claudia verlor wieder die Fassung und schrie die Frage heraus. Sie litt mit dem Gefolterten.

„Sehr kluge Gedanken. Ich überlasse Ihnen einige Zeit den Weg der Fragen zu bestimmen. Wie kommen Sie darauf?“ Er klang weiterhin gelassen und ließ ihren Ausrutscher unkommentiert.

„Sie haben sicherlich kein Interesse an einem geschichtlichen Vortrag.“

„Nur zu. Vielleicht lerne ich dazu.“

„Ich denke…“, Claudia stockte und verarbeitete Marias Informationen. „Dieser Hof hier…“

„Und?“

„Was und?“, Claudia wurde ungehalten. Der Situation war sie nicht gewachsen. „Ich stehe hier, wie eine Pennälerin und lasse mich von Ihnen testen. Dazu hab‘ ich keinen Bock. Es mag ja sein, dass sie Gründe haben, den Priester an den Pranger zu stellen… aber ich bin ich und hab‘ keine Lust vor, wer weiß wie viel, Zuschauern ebenso angeprangert zu werden.“

„Es tut mir unendlich leid“, die Stimme wurde spöttisch. „Stellen Sie ihr Ego hinten an. Sie sind Vertreterin des Rechtssystems, Frau Plum. Für Ihren Job werden Sie bezahlt.“

„Also gut“, maßlose Wut stieg in Claudia hoch. Sie unterdrückte ihre Emotionen und schluckte hinunter, was sie sagen wollte. „Pater Anselm steht am Pranger… weshalb?“

„Finden Sie es heraus.“

Jetzt lief das Fass über. Sie stand auf.

„Ich werde es herausfinden. Kommen Sie“, forderte sie den Psychologen des LKA auf.

„Halt“, der Unbekannte hielt sie zurück. „Sie werden mich jetzt nicht verlassen.“

„Ich verlasse Sie nicht. Ich muss ohne Ihre werte Präsenz mit Herrn Werner sprechen.“

„Sie müssen gar nichts.“ Die Stimme wurde ungehalten. „Sie bleiben hier an dieser Stelle. Denken Sie an Pater Anselm.“

Claudia mache keinen Unsinn.“ Krüger flüsterte warnend in ihr Ohr.

Verdammt. Weshalb ließ dieser verdammte Verein sie nicht in Ruhe? Immer quasselte Krüger dazwischen. Der Typ wollte sie, also musste er mit ihr leben. Claudia traute sich mit Fortschreiten der Unterhaltung durchaus zu, den Peiniger des Paters aus der Reserve zu locken. Gut Krüger, ich versuche es noch einmal, dachte sie.

„Der Katschhof wurde im Mittelalter zur Vollstreckung von Urteilen genutzt. Das Schöffengericht tagte dort drüben“, sie zeigte unlustig dorthin, wo früher das sogenannte Grashaus stand. „Die Verurteilten wurden nach erfolgter Rechtsprechung an den Schandpfahl gebunden. Genau an dem Ort, den Pater Anselm jetzt innehat. Nichts liegt näher, als den Zusammenhang ihres Verbrechens mit denen der Vergangenheit in Verbindung zu bringen. “

Claudia“, rief Krüger warnend über das Headset.

„An diesem Schandpfahl möchte ich Sie leiden sehen“, fügte die Kriminalistin gehässig hinzu.

*

Vergeltung

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