Читать книгу Ein Migrant ohne Namen - Hermann Grabher - Страница 10
Оглавление5 Ein Knalleffekt mit Folgen
Herbst 2010
Es wurde kühler im Land, saisonbedingt. Albino badete nun nicht mehr im Fluss. Das Klima der Konfrontation Pro und Kontra Asylantenheim im Dorf war umständehalber etwas eingeschlafen. Vielleicht auch eingefroren. Andererseits spielte Albino regelmässig das Spiel mit den sechzehn schwarzen und den sechzehn weissen Figuren auf einem Brett mit vierundsechzig Feldern. Selina und all die anderen hatten längst keine Chance mehr in Games gegen ihn.
Ein 80-jähriger Altmeister machte die Aufwartung, weil er vom Schachwunderkind Albino im Sonnenhügel gehört hatte. Der Mann, von Beruf Psychologe, fand die Begegnung mit dem taubstummen und sehbehinderten jungen Mann zumindest spannend. Auch der Meister wurde diskussionslos von Albino in die Schranken gewiesen, was in diesem Spiel Schachmatt heisst. Ein solches Resultat hatten doch alle eher nicht erwartet. Insbesondere der Champion selbst nicht. In Wahrheit bedeutete dieser Sieg für Albino offensichtlich eher wenig. Viel lieber wäre es ihm gewesen, sich im Fussball weiterzuentwickeln. Weil Fussball seine echte, seine wahre Liebe bedeutete. Doch Albinos körperliche Beeinträchtigungen, insbesondere seine Sehschwäche, sorgten dafür, dass ihm in diesem Sport unverrückbare Grenzen gesetzt waren. Das Brettspiel war für Albino eine Art Ersatz, nicht mehr.
Im Anschluss an das Schachspiel analysierte der Schachmeister Albinos Strategie. Er meinte, dass der Junge wohl nicht ein Schachgenie im eigentlichen Sinne sei, weil er viel zu wenig Praxis habe und somit wenig Erfahrung. Albino besitze eine ausgeprägte kognitive Begabung, die vielleicht gerade infolge seiner Behinderungen überhöht sei: Der junge Mann lebe abgekapselt in seiner eigenen Welt, werde weniger abgelenkt als ein Mensch, bei dem alle Sinne funktionierten. Dies sei wohl der Grund, weshalb er in der Lage sei, sich ganz intensiv zu konzentrieren und auch zu fokussieren. Albino könne sich einerseits extrem gut in die Denkweise seines Gegenübers hineinversetzen, andererseits sei davon auszugehen, dass er mit einem hohen IQ ausgestattet sei. Mit dieser intellektuellen Begabung sei er gegenüber den meisten Menschen mit normaler Begabung insbesondere im analytischen Denken im Vorteil. Dies erlaube ihm nicht nur zwei oder drei mögliche Varianten von Schachzügen vorauszudenken - auf seiner Seite, wie auch auf der Seite des Gegners, sondern eben noch mehr, vielleicht sogar fünf, sechs oder noch mehr. Albinos hohe Intelligenz werde zweifellos auch im normalen Leben für ihn hilfreich sein. «Dieser Mensch könnte durchaus Furore machen, entgegen der allgemeinen Erwartungen aufgrund seiner Einschränkungen!»
Und was der Psychologe auch noch erwähnte, zwar eher beiläufig, aber doch mit Nachdruck: Er glaube, dass der Junge einen Anflug von telepathischen Fähigkeiten besitze, die ihn wohl in die Lage versetzen könnten, in einem gewissen Sinn Gedanken, Empfindungen, Gefühle des Gegenübers zu lesen. Wobei Lesen wohl ein falscher Begriff sei, weil Albino ja weder des Lesens noch des Schreibens kundig sei. Erkennen, sei wohl ein besserer Begriff für jenes was er meine. Gehörlose Menschen würden oft ein besonderes Sensorium besitzen, das ihnen ermögliche, Schwingungen, die von anderen Menschen ausgehen, zu empfangen, ohne Verwendung der biologischen Sinnesorgane. Telepathie eben.
Die Analyse des greisen Schachmeisters und Psychologen wurde von Meier und seiner Frau gemeinsam aktiv ignoriert, aber immerhin nicht auf unhöfliche Art. Meinrad flüsterte zu Pia: «Er ist und bleibt ein alter Spinner!»
Selina und Ladina wandten sich ab, weil die zwei Mädchen überhaupt nichts von jenem verstanden, was der Mann versucht hatte zu erklären.
Andererseits hatte Meinrad Meier eine freudige Botschaft zu verkünden: Für Albino wurde ein Platz in einer Schule für Hörbehinderte frei. In wenigen Tagen würde der Junge sein Bündel packen können und in ein Internat in der Zentralschweiz umziehen dürfen. Hier würde er die so notwendige Unterstützung finden, um dereinst in einem Leben mit Selbstverantwortung und vor allem auch Selbstbestimmung bestehen zu können.
Insgeheim war der Heimleiter froh, einen zwar friedfertigen, aber doch eher komplizierten Kunden damit loszuwerden. Des Weiteren glaubte das Ehepaar Meier bemerkt zu haben, dass sich Selina etwas gar gut mit Albino verstand, das Mädchen sich wohl in ihn verguckt hatte. Offensichtlich und wohl – aus Sicht der Eltern - auch glücklicherweise, ohne dass Albino dies realisiert hatte. Auf jeden Fall schien die Sympathie doch eher einseitig zu sein. Mit dem Abschied von Albino würde sich dieses Problem damit von selbst erledigen.
Selina feierte am Abend vor Albinos Abreise ihren 14. Geburtstag. Eine riesige Torte wurde angeschnitten und jeder im Haus konnte sich mit einem Stückchen bedienen.
An diesem Abend gebärdete sich Albino aussergewöhnlich unruhig. Der Junge hatte wohl gut verstanden, dass er vor einem Umzug stand und dass es nun in einen Lernprozess gehen würde, der ihn fordern würde, ihn aber gleichzeitig auch auf einen neuen Level hieven würde, um schliesslich im Leben bestehen zu können. Doch das Neue, das vor ihm stand, die Ungewissheit der Zukunft schien Albino zu bedrücken.
Schliesslich weigerte er sich an diesem letzten Abend zu essen und er wollte auch nicht in seinem Bett in seiner Kammer schlafen. Er deutete an für diese letzte Nacht im Keller des Hauses am Boden übernachten zu wollen. Dabei war es ihm nicht möglich den Grund für dieses eigenartige Ansinnen zu artikulieren.
Meinrad Meier sah darin eine blöde Flause, die es auszutreiben gelte und er befahl gebieterisch mit entsprechenden Gesten: «Das ist dein Zimmer und da schläfst du! Basta! Keine Widerrede! Bitte keinen unnötigen Krach an diesem letzten Abend!»
Weit nach Mitternacht, als alle Hausbewohner in ihren Betten lagen, ereignete sich eine gewaltige Explosion im äusseren Bereich des Hauses Sonnenhügel, welche nicht nur die Bewohner des Heims aufschreckte, sondern das gesamte Dorf erschütterte.
Schon nach kurzer Zeit waren Ambulanzfahrzeuge, die Feuerwehr und auch die Polizei vor Ort, von den Gaffern nicht zu reden. Der Ort des Grauens wurde weiträumig abgesperrt. Danach langten auch Kriminaltechniker und Spezialisten der Forensik aus der Kantonshauptstadt ein. Und geraume Zeit später griffen Experten ins Geschehen ein, wie sie stets von der Bundesanwaltschaft geschickt werden, wenn Sprengstoff im Spiel ist. Das Feuer konnte rasch geortet und gelöscht werden, zum Glück gerade noch zeitig genug, bevor sich dieses das ganze Haus zum Frasse vornehmen konnte. In einem Zimmer fanden die Feuerwehrleute einen Toten und einen Schwerverletzten. Der Schwerverletzte war Albino, der Tote sein bester Kollege im gleichen Zimmer, der aus Eritrea stammte.
Selina weinte, war untröstlich, als man die verstümmelte Leiche in den Sarg legte und man den bewusstlosen, am Kopf stark blutenden Albino notmässig verarztete und anschliessend hektisch in den Krankenwagen schob. Das grosse Kind verstand die Welt nicht mehr. «Welche Menschen können so viel Bosheit in sich tragen, um eine solche Tat ausführen zu können!? Und weshalb? Dieser Geburtstag wird ewig in meiner Erinnerung bleiben!»
Selinas Mutter sprach: «Beten wir für die Unglücklichen. Beten wir für den Verstorbenen, der bei uns leider sein Glück nicht finden konnte. Er hat hiermit sein schwieriges Leben abgeschlossen und ist hinüber gegangen ins Reich der himmlischen Freuden! Beten wir aber vor allem auch für Albino, den die Mediziner im Spital hoffentlich wieder gesund machen können!»
Meinrad Meier verkopfte sich: «Kann es sein, dass Albino eine Vorahnung hatte vom Schrecklichen, das diese Nacht passieren würde? Weigerte er sich deshalb, in seinem Zimmer, in seinem Bett zu schlafen?»
Meier beschäftigten diese Gedanken. Sie bedrückten ihn. Sie wollten nicht mehr aus seinem Hirn weichen.