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6 Wunder

Herbst 2010

Aufgrund des bedauerlichen Vorfalls, wie es in der amtlichen Verlautbarung hiess, nämlich der Explosion im Bereich des Asylheims Sonnenhügel, wurde das Haus unverzüglich geschlossen und alle Insassen noch am selben Tag in andere Asylunterkünfte umgesiedelt. Dem Kanton als Besitzer des Hauses erschien ein unmittelbares Weiterbetreiben des Hauses unter den gegebenen Umständen nicht sinnvoll. Zuerst musste die Instandstellung der erheblich beschädigten Liegenschaft erfolgen. Ausserdem liefen die Untersuchungen weiter. Und diese liessen sich ohne die Anwesenheit der Asylanten zweckmässiger bewerkstelligen. Ziel war es, so schnell als möglich die Ursache der Explosion, die Umstände, beziehungsweise eine Täterschaft zu finden, sollte es eine solche geben. Der Verwalterfamilie Meier wurde ausnahmsweise erlaubt bis auf weiteres in der intakt gebliebenen Verwalterwohnung im Haus zu verbleiben. Ihr Vertrag lief weiter.

Meinrad Meier verpflichtete sich, die vorerst notwendigen Aufräumarbeiten zu organisieren, beziehungsweise zu überwachen. Und er signalisierte auch bei einer künftigen Sanierung den Support zu leisten. Das übrige Personal wurde vollständig freigestellt, sprich entlassen. Es war ein Fiasko. Denn nun realisierten die Bürger des Dorfes, dass in diesem Heim über zwanzig Arbeitsplätze bestanden hatten, die nun von heute auf morgen wegfielen, die Angestellten wegen der Kündigung auf der Strasse standen. Der Zeithorizont für eine Wiederaufnahme des Betriebes stand in den Sternen.

Die Kardinalfrage, die sich stellte, lautete: Handelte es sich bei dieser Explosion um ein Unglück, oder war es ein Anschlag, ein Attentat? Es wurde somit die Möglichkeit eines banalen Unfalls, wie auch alle anderen Optionen in die Untersuchung miteinbezogen. Denn vor dem Haus lief eine Gasleitung durch, die seinerzeit offensichtlich zu wenig tief im Boden verlegt worden war. Dies jedenfalls wurde sehr schnell offenkundig und von den Untersuchungsbehörden festgestellt und bemängelt. Bei der Explosion wurde diese Gasleitung beschädigt und das aufkommende Feuer wurde vor allem von ausströmendem Gas beschleunigt. Allerdings schien eine mangelhafte Gasleitung eher nicht als eigentliche Ursache der Explosion in Frage zu kommen. Denn die Kriminalbeamten fanden Metallsplitter weit verstreut, die nicht als Teile des Hauses gewertet wurden, sondern zu einer Bombe zu gehören schienen. Schliesslich waren diese Teile so vollständig, dass sie puzzleartig zusammengefügt werden konnten. Der Explosionskörper war ein Eisenrohr von 150 Millimeter Innendurchmesser und 400 Millimeter Länge. Das Rohr war vorne und hinten je mit einem Deckel verschweisst, in der Mitte des Körpers mit einem Loch versehen. Durch dieses Loch wurde das Behältnis mit einem explosiven Pulver – wie es schien Schwarzpulver - gefüllt und mit einer Zündschnur verbunden. Die Täterschaft entflammte die Zündschnur und kurze Zeit später ging die Bombe hoch, die offensichtlich aussen in unmittelbarer Nähe der Hausfassade deponiert worden war. Dieser Platz befand sich – zufällig oder nicht - exakt vor der Schlafkammer von Albino Sahel und seinem unglücklichen eritreischen Freund, der zu Tode gekommen war.

Nachdem dieser erste Untersuchungsbericht veröffentlicht worden war, schossen die Vermutungen und auch die Anschuldigungen sowohl im Dorf wie auch in der weiteren Umgebung martialisch ins Kraut. Sogar die ausländische Presse nahm den Fall ins Fadenkreuz. Aus dem grauen Hintergrund wurden Stimmen laut, die verlauten liessen, dass hiermit immerhin erreicht worden sei, dass dieses ungeliebte Asylheim geschlossen wurde.

Diese banale Feststellung löste einen Sturm der Entrüstung aus. Am Sonntag wetterte der katholische Pfarrer während der Messe von der Kanzel und die protestantische Pastorin schimpfte in selbem Masse in ihrem Gottesdienst wegen dieser unchristlichen Einstellung. «Es ist ein schrecklicher Preis: Ein Toter und ein Schwerverletzter. Die Täter müssen gefunden und zur Verantwortung gezogen werden! Nie mehr darf bei uns so etwas geschehen!»

Meinrad Meier und seine Frau machten sich auf den Weg in die Kantonshauptstadt. Man hatte sie zu einer Befragung aufgeboten. Meinrad und Pia planten bei dieser Gelegenheit auch den verletzten Albino im Kantonsspital zu besuchen.

Die Befragung lieferte nicht einen Schimmer, der zur Aufklärung hätte beitragen können. Was nicht anders zu erwarten war. Albino Sahel? Fantasiename? Wie bitte lautet der richtige Name des Jungen? Das amtliche Geburtsdatum? Seine Nationalität? Gibt es Angehörige hier im Land oder im Ausland?

Es waren Fragen, die zuvor schon wiederholt und immer wieder gestellt worden waren und nie beantwortet werden konnten. Nonsens-Fragen unter den gegebenen Umständen. Natürlich ging es jetzt auch um finanzielle Zuständigkeiten, um Versicherungsfragen. Wer bezahlt die kostspielige Betreuung im Spital mit allen medizinischen Leistungen, die Nachbetreuung? Herr und Frau Meier konnten diese nerventötenden Wiederholungen der Fragen grundsätzlich nachvollziehen, aber angenehm war die Prozedur nicht, insbesondere weil sie keinen Sinn machte.

Dafür überraschte der Chefarzt im Kantonsspital das Ehepaar Meier mit einer unglaublichen Neuigkeit: «Durch die Explosion hat der Patient seine Hörfähigkeit zurückerlangt! Wir können uns den Vorgang von der medizinischen Seite her noch nicht umfassend erklären. Für den Moment haben wir nur Vermutungen. Wie auch immer, Herr Sahel kann wieder hören!»

Herr Sahel kann wieder hören!

Meinrad und Pia Meier verschlug es vorerst beinahe den Atem. Irgendwann stammelte Pia Meier: «Wollen sie damit sagen, Herr Doktor, dass Albino früher einmal hörte, der Hörverlust somit einstmals irgendwann nach seiner Geburt erfolgte!»

«Ja, davon gehen wir aus!» Der Arzt nickte bestimmt.

«Eine verrückte Geschichte!»

Pia Meier hatte noch eine Frage: «Und wie kommt der Junge mit der plötzlichen Fähigkeit zu hören zurande? Man muss doch wohl annehmen, dass all die Geräusche ziemlich verwirrend sind und damit ein Problem für ihn sein dürften, nämlich ein Zuviel an Eindrücken! Und somit das Wohlbefinden störend!»

Der Doktor pflichtete dieser Ansicht bei: «Dies ist in der Tat ein Problem, welches nicht zu unterschätzen ist! Er muss damit fertig werden, von einem Leben in vollständiger Stille in ein Dasein voller akustischer Eindrücke katapultiert zu werden, was verwirrend und auch ermüdend ist. Er muss lernen nun mit unzähligen Lärm-, Geräusch- und Schallquellen fertig zu werden. Er muss versuchen diese auseinander zu halten, diese einzuordnen. Dies ist zumindest ungewohnt, eine enorme Umstellung, eine Belastung, insbesondere auch im mentalen Bereich. Vorerst wird ihm dies nur mässig gut gelingen. Dies umso eher, als sein Kopf nach der Operation noch immer vollständig bandagiert ist. Auch seine Augen sind noch verbunden. Er benötigt vorerst und wohl auch noch bis auf weiteres eine sorgfältige Individualbetreuung. Und zwar so lange, bis er sich an den jetzigen Zustand einigermassen gewöhnt hat und sich zurechtfinden kann! Es ist ein bedeutender Lernvorgang! Aus diesem Grund haben sie bitte Verständnis, dass wir einstweilen keine Besuche bei unserem Patienten zulassen können. Er befindet sich noch immer auf der Intensivstation!»

Als Herr und Frau Meier den Heimweg antraten, waren sie aufgewühlt.

Irgendwann im Auto während der Heimfahrt sagte Meinrad zu seiner Frau: «Weisst du, ich machte mir Selbstvorwürfe, dass ich nicht sensibel genug war, richtig zu reagieren, als Albino wünschte im Keller zu schlafen. Es wäre meine Pflicht gewesen, seinen Wunsch zu hinterfragen, zu respektieren, auch wenn dieser absurd erschien. – Doch nun scheint das Unglück vielleicht letztlich zu einem Glücksfall für ihn zu werden, sollte Albino tatsächlich von seiner Taubheit befreit sein. Ich kämpfe noch immer gegen meine Zweifel. Wunder geschehen so selten!»

Ein Migrant ohne Namen

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