Читать книгу Ein Migrant ohne Namen - Hermann Grabher - Страница 7

Оглавление

2 Das Haus Sonnenhügel

Sommer 2010

Noch am selben Tag, einige Stunden später, fuhr ein dunkelblauer Kastenwagen beim Asylantenheim Sonnenhügel vor. Dieses Auto war mit einer auffälligen gelben Beschriftung versehen: BORDER CONTROL. Jedermann im Haus Sonnenhügel kannte dieses Fahrzeug, weil es oft vorfuhr. Es wurden damit jeweils neue Heimbewohner hergeführt oder eben solche weggebracht. Die zwei uniformierten Beamten überbrachten in diesem Fall einen neuen Gast, der offensichtlich nichts hören konnte und auch nicht sprechen konnte, der überdies sichtlich grosse Mühe mit dem Sehen bekundete.

Die Heiminsassen standen zusammen, tuschelten, als sie die Ankunft dieses Neuen registrierten: Ein Afrikaner mit heller Haut und hellem Haaren. Eine höchst sonderbare Gestalt!

Eine derart grosse Mühe hatte Heimleiter Meinrad Meier noch nie je bekundet bei der Registrierung eines Neuankömmlings. Weil wortwörtlich Nullkommanull Kommunikation zustande kam. So war auch nach dem Interview - das eigentlich eben keines war - weder sein Name noch sein Alter und auch nicht seine Nationalität bekannt. Des Weiteren hatte man keine Ahnung, welches seine Muttersprache sei. Möglicherweise hatte der junge Mann gar keine, denn er war offensichtlich taubstumm. Weitere wichtige Umstände, die sonst stets abgefragt wurden und auf dem Registrationsblatt eingetragen wurden, blieben in diesem Fall ebenfalls im Dunkel. Zum Beispiel die Frage, weshalb er sein Heimatland verlassen habe und auf welcher Route er einlangte. Ob er Familie zuhause habe und es noch immer einen Kontakt zu ihr gebe. Und eine eminent wichtige Frage musste angekreuzt werden: Wollen sie in der Schweiz einen Asylantrag stellen? JA oder NEIN. Meinrad Meier kreuzte von sich aus ein JA an, was grundsätzlich kein korrektes Vorgehen war, eigentlich eine Missachtung von existierenden Vorschriften bedeutete. Meier nahm diese Übertretung bewusst in Kauf, um den jungen Asylanten vor zusätzlichen Problemen zu bewahren.

Bei jungen Flüchtlingen bedeutet ihr mobiles Telefon üblicherweise ihr ein und alles. Aus ihren Handys können die Behörden wichtige Informationen herausholen. Daraus lassen sich Rückschlüsse ziehen, kommen Lügen wie auch Wahrheiten ans Tageslicht. In diesem Fall war nichts zu holen, weil der junge Mann kein Handy besass.

Sowohl der zuständige Immigrationsbeamte des Kantons mit Namen Ilg wie auch der Amtsarzt Dr. König, die ebenfalls für diese Registration herbeigerufen wurden, schüttelten resigniert ihre Köpfe. Weil auch sie noch nie je ähnliches erlebt hatten. Kommunikationsprobleme sind zwar Alltag in diesem Geschäft, denn wer spricht schon fliessend Afar, Nara oder Tigrinya, ausser eben Eingeborene in Eritrea!? Wer versteht Bomu, Bozo oder Bambara, Sprachen, die man nur in Mali kennt!? Aber meistens sind auch einige Brocken Englisch oder Französisch hier wie dort dabei, vor allem aber auch Hände und Füsse, die sinnerklärend auf beiden Seiten eingesetzt werden können, wie auch Gesten mit den Augen, dem Gesicht, vor allem auch und nicht zuletzt mit dem Körper.

Der Immigrationsbeamte Anton Ilg bemerkte: «Wir können nicht erwarten, dass es in afrikanischen Staaten viele Spezialschulen oder Ausbildungsstätten für Taubstumme gibt, wo sie die Gebärdensprache und das Lippenlesen lernen können. Ohnehin nicht, wenn ein Mensch noch dazu mit einer Sehschwäche belastet ist, wie es bei ihm der Fall ist. Es ist wohl davon auszugehen, dass insbesondere auf dem Land Menschen mit Behinderungen dieser Art vielleicht kaum anders als Tiere aufwachsen. Man überlässt sie sozusagen sich selbst und damit dem Schicksal. Also ist es nur logisch, dass sie sich entsprechend verhalten! So wie es den Anschein macht, dürften wir hier mit einer grossen Aufgabe konfrontiert werden, wenn es darum geht, ihn zu sozialisieren, zu fördern und möglichst gut zu integrieren!»

Nachdem der Arzt Dr. König die Untersuchung des Neuen abgeschlossen hatte, verlautete er: «Der Mann trägt saubere Kleider, ist bei bester Gesundheit – mit Ausnahme seiner offensichtlich angeborenen multiplen Behinderung! Das von dir geschätzte Alter – etwa 15-jährig, könnte stimmen. Ich habe keinerlei Zeichen von Unterernährung, Erschöpfung oder körperlicher Misshandlung feststellen können! – Ganz zum Unterschied vieler seiner Leidgenossen, die ja nur zu oft in einem erbärmlichen Zustand hier bei uns stranden! Ich frage mich: Wie ist so etwas möglich!?»

Meinrad Meier, der Heimleiter, stellte nüchtern fest: «Was ich bis jetzt in diesen zwei Stunden, seit er hier ist, festgestellt habe: Es fehlt ihm offensichtlich massiv an Erziehung, auch an Anstand und Rücksicht. Er hat keine Kultur. Dabei hat ein solches Verhalten eigentlich nichts mit seiner afrikanischen Herkunft zu tun. Denn auch dort haben die Menschen Kultur, wenn auch eine andere als wir hier. Auch dort weiss man was Korrektheit, Anstand und Rücksicht ist. – Ich habe Bedenken, dass es für uns ein echtes Problem werden könnte, ihm beizubringen, wie man sich in unserer Gesellschaft, innerhalb unserer Gemeinschaft zu verhalten hat!»

Der Arzt hörte aufmerksam zu. «Meinrad, ich bin erstaunt! Wie kommst du dazu nach dieser kurzen Zeit ein solch vernichtendes Urteil über seine Sozialkompetenz abzugeben? – Wie sollen wir dies verstehen?»

«Folgendes hat sich zugetragen in der Zeit seit seiner Ankunft bis jetzt: Als meine Frau Pia ihn begrüsste, hat er ihre ausgestreckte Hand ignoriert und stattdessen ihr einen Klaps mit seiner flachen Hand auf ihren Hintern gegeben! He, der Bursche ist vielleicht fünfzehn! Wer tut das in diesem Alter, in seiner Situation? Und er hat an die Hauswand gepinkelt, obwohl wir ihm gerade Minuten zuvor die Toilettenräumlichkeiten gezeigt hatten. Zur Begrüssung erhielt er eine Dose Cola. Als er diese in drei Zügen leer getrunken hatte, warf er die leere Dose zum offenen Fenster hinaus in den Garten. Und er spuckt jede zweite Minute überall auf den Boden, egal wo er sich befindet, auch innerhalb des Gebäudes! Ein solches Verhalten ist nicht tolerierbar, das geht einfach nicht! Es ist furchtbar!»

Nachdenklich schob Meinrad Meier noch nach: «Doch wer weiss, vielleicht sind wir naiv und er clever. Vielleicht ist es sein Versuch uns zu testen. Vielleicht hat er mehr drauf, als wir aktuell vermuten und er provoziert uns, aus welchem Grund auch immer! Ähnliches habe ich auch schon erlebt. Aber natürlich stets nur von Männern, bei denen alle Sinne intakt waren.»

Der Amtsarzt König seufzte. «Ich habe einen schlimmen Verdacht! Könnte es vielleicht sein, dass der junge Mann gar nicht ein Migrant aus Afrika ist, sondern in Europa aufgewachsen ist, zum Beispiel in Frankreich? Und weil die Betreuung dort zu aufwendig wurde, weil sie ihn nicht mehr bändigen konnten oder wollten, haben ihn seine Eltern oder vielleicht sogar Behördenvertreter einfach über die Grenze zu uns rübergeschoben, sozusagen entsorgt! Nach dem Motto: Aus den Augen aus dem Sinn! Vielleicht auch weil allgemein bekannt ist, dass wir Behinderte gut unterstützen, gut schulen? Damit kann man das eigene öffentliche Sozialwesen finanziell wirksam entlasten!»

Der Heimleiter Meier und der Immigrationsbeamte Ilg schreckten auf, schienen konsterniert ob der These des Arztes.

Dr. König brummte: «Wie auch immer, er ist ein Mensch, der vielleicht Schlimmes hinter sich hat. Er benötigt unsere Hilfe, unsere Unterstützung. Also lasst uns vorurteillos an die Arbeit gehen! Als erstes braucht er eine Brille. Damit kann man ihm schon eine verbesserte Lebensqualität verschaffen!»

Weil auch der Heimleiter Meier für den Moment keine andere Alternative zu erkennen vermochte, blieb auch ihm nichts anderes übrig als vorerst seinen Hauptfokus auf die Nächstenliebe zu setzen. «Es ist unsere Pflicht, unsere Verpflichtung den uns anvertrauten Menschen zu helfen, so gut wir dazu in der Lage sind!»

In der Folge wechselte Meier nun die Tonart. «Wenden wir uns dem Praktischen zu: Wie sollen wir ihn nennen? Er sollte ja wohl einen Namen haben!»

«Geben wir ihm eine Nummer!»

«Eine Nummer, nein, furchtbar, wie im KZ bei den Nazis!»

«Sollte es tatsächlich so sein, dass die Franzosen oder die Italiener ihn uns untergejubelt haben, könnten wir ihn zum Beispiel Franco oder Italo nennen!»

«Spässe dieser Art sind in diesem Moment nicht angebracht, mein Freund!»

«Seine Familie stammt mit grosser Wahrscheinlichkeit aus der Sahelzone. Also nennen wir ihn Sahel!»

Alle Anwesenden lachten erneut, obwohl der Vorschlag absolut nicht als unterhaltender Witz gedacht war.

Nun mischte sich die Tochter des Heimleiters ein, die dreizehnjährige Selina. Sie hatte die eigenartige, ungewöhnliche Prozedur auf Distanz mit einigem Interesse mitverfolgt. Als der Arzt den völlig nackten Mann hinter dem Vorhang untersuchte, konnte es das Mädchen nicht lassen, das Tuch - unbemerkt von allen - etwas bei Seite zu schieben. Und sie hatte pragmatisch festgestellt, dass an diesem Jungen alles dran war, was zu einem Mann gehört, auch wenn er äusserlich zugegebenermassen schon etwas sonderbar aussah. Insbesondere wenn man in Betracht zog, dass es sich um einen Afrikaner handelte, die erfahrungsgemäss von Gott nicht nur mit einer braunen, sondern oft sogar mit einer fast rabenschwarzen Haut versehen werden. Selina sagte: «Jeder Mensch braucht vor allem auch einen Vornamen. - Ich hätte einen Vorschlag: Nennen wir ihn Albino! Das klingt doch zumindest einigermassen melodisch!»

Die Erwachsenen lachten erneut.

Der Migrant wurde nun langsam unruhig und er machte Anstalten nächstens vielleicht gar auszubüxen. Seine Geduld schien am Endpunkt angelangt zu sein.

Selina gab dem jungen Mann spontan die Hand und sagte: «Ab sofort heissest du Albino Sahel! Das ist doch gewiss ein netter Name!»

Albino lächelte das erste Mal, seit er hier war. Offensichtlich hatte er erkannte, dass zumindest dieses junge Mädchen ihm wohlgesinnt war.

Als auch die drei Männer ihm ihre Hände entgegenstreckten, schien dies für den Jungen eine sichtliche Erleichterung.

Der Arzt zeigte mit dem ausgestreckten Finger auf ihn: «Du, Albino!» Und er wiederholte es mehrere Male, sprach das Wort Albino mit deutlicher Lippenbewegung aus.

Schliesslich verstand der junge Migrant diese Geste, zeigte auf sich und versuchte ebenfalls mit seinen Lippen das Wort Albino zu formen, was nach mehreren Anläufen sogar einigermassen gelang.

Alle katschten.

«Er hat es verstanden! Er hat es echt verstanden. Er ist lernfähig! Er ist zumindest kein elender Idiot!» Selinas Begeisterung war echt.

Ein Migrant ohne Namen

Подняться наверх