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11 Mit dem Herz in der Hand

Sommer 2013

In dieser Nacht waren die Eheleute Meinrad und Pia Meier noch sehr lange nicht in der Lage die Augen zu schliessen. Sie waren zu aufgewühlt. Sie mussten jenes verarbeiten, was ihnen Albino erzählt hatte. Letztlich stritten sich Meinrad und Pia, was sonst selten vorkam. Denn grundsätzlich waren beiden, sie wie er, eher der Harmonie zugetan. Meinrad verspürte zunehmend immer noch mehr Zweifel, ob diese Geschichte überhaupt - und wenn - in allen Teilen der Wahrheit entspreche. Er fragte sich, ob die Story vielleicht geschminkt wurde, leicht oder doch wesentlich. Oder eben gar nicht. Pia fand es nicht in Ordnung, das von Albino Erzählte überhaupt in Frage zu stellen. Pia vertrat die Auffassung, dass es ihre Pflicht sei dem Jungen zu vertrauen, ihn weiter nach Kräften zu unterstützen.

Meinrad rang mit sich selbst, was in diesem Drama der nächste Schritt sein sollte. Müsste es ihre Pflicht sein, Meinrads und Pias, Albino zu drängen vor den Behörden die ganze Wahrheit auf den Tisch zu legen? Oder würde es ganz im Gegenteil notwendig sein, dem Jungen zu empfehlen das Maul zu halten. Denn da bestand ohne Zweifel die sehr realistische Gefahr, dass die Behörden das Asylrecht von Amtes wegen rückgängig machen würden. Dann wären alle grossen Anstrengungen umsonst gewesen und Albino hätte wohl seine positiven Zukunftschancen mehr oder weniger verwirkt. Vielleicht würde man aber auch Gnade vor Recht walten lassen in Anbetracht der Minderjährigkeit und der zuvor bestehenden Invalidität mit der damit verbundenen Abhängigkeit.

Pias Meinung war, dass Albino seine Geschichte keinesfalls öffentlich machen sollte, da sowohl die zuständigen wie auch die anderen Leute vielleicht kein Verständnis aufbringen würden, die entsprechend notwendige Toleranz an den Tag zu legen. Der Gerichtsfall Bombenanschlages auf das Asylheim Sonnenhügel würde irgendwann im Sand verlaufen. Es würde Gras darüber wachsen, so wie Gras über alles wachse, wenn die Zeit vorüber ist. Bis schliesslich alles verjährt sein würde. Dem unglücklichen Eritreer, der zu Tode kam, würde auch mit einer Klärung der Hintergründe des Anschlags weder Gerechtigkeit noch Sühne widerfahren. Letztlich würde der Fall als nicht aufgeklärt abgelegt werden und in den Kellergruften der Registration verschwinden, nicht anders als viele andere Fälle auch.

Am Morgen beim Frühstück sagte Ladina zu Albino in ihrer eigenen Art: «Das, was du uns gestern aufgetischt hast, war ja ganz interessant. Aber ich kann nicht glauben, dass es wahr ist! Du bist offensichtlich ein begabter Geschichtenerzähler aus Tausend und einer Nacht!»

Albino schien ob dieses Kommentars unberührt. Er zuckte die Achsel, sagte: «Kein Problem, Leute. Ich bin nicht so verrückt und werde diese meine Lebensgeschichte nochmals je jemandem erzählen. Weil sie sich – zugegebenermassen - nicht wahnsinnig glaubwürdig anhört. Vielleicht identisch glaubwürden wie jenes, was folgte: Ich war taub und stumm. Und heute höre und rede ich. Ich war nahezu blind. Und heute kann ich ganz passabel sehen!»

Nach einer kleinen Atempause fuhr Albino fort: «Ihr werdet somit die einzigen sein und bleiben, welche den wahren Hintergrund meines Lebens kennenlernten. Selbst unter Zwang wird mich nie mehr jemand dazu bringen können, diese meine Geschichte zu erzählen. Weil ich einsehe, dass es für jedermann besser ist, sie nicht zu kennen. Weil ich zwischenzeitlich weiss, dass wenn sie öffentlich würde, wir uns damit nur Ärger, nur Schwierigkeiten einhandeln würden! Ich im Besondern und die ganze Familie vielleicht ausserdem. Dies muss nicht sein! Dies können wir uns sparen! Es muss mein Ziel sein, mein früheres Leben zu vergessen, aus meinem Gedächtnis zu tilgen!»

Mit dieser Aussage war für Meinrad und Pia dieses belastende Thema fürs Erste abgehakt. Denn unter diesen Umständen mussten sie sich nicht mehr mit der moralischen Frage auseinandersetzen, welche Variante wohl die korrektere sei. Letztendlich konnte nur Albino derjenige sein, der diesbezüglich die Verantwortung zu übernehmen hatte.

Ladina beschäftigte die Sache offensichtlich weiter. «Albino, bist du wirklich der Ansicht, dass wenn man einer Bank Geld stiehlt, dies nicht verwerflich ist, wie du gesagt hast?»

«Du hast nicht richtig hingehört, was ich erzählte! - Nicht ich sage das, sondern mein Vater versuchte bei mir damit meine permanent existierenden Gewissensbisse zu dämpfen. Wahrscheinlich gleichzeitig auch die seinen. Denn ich wusste genau, dass jenes, was wir taten, nicht richtig war. Und der Vater wusste das ebenso. Ich hatte auch immerzu sehr grosse Angst, dass unser Treiben einmal im Fiasko enden würde. Schliesslich hat sich meine Ahnung auch bewahrheitet: Ich verlor meinen geliebten Vater, meinen Beschützer, mein Alles! Als Folge wurde ich von meinen Ängsten vollkommen in Beschlag genommen und ich reagierte in Panik. Ich wurde von meinen Emotionen überwältigt, weil ich mir nicht zutraute mit meinen Einschränkungen das Leben ohne fremde Hilfe meistern zu können. – Ihr könnt euch gar nicht vorstellen, wie befreit ich heute bin, da ich keine Angst mehr haben muss. Alles wendete sich zum Guten, nur weil ich euch kennenlernen durfte. Weil ich eure Liebe erfahren habe. Ich danke Gott für dieses grosse Geschenk! Er hat mich zu euch geführt. Es ist ein Wunder!»

Dies war zweifellos ein positives, wohltuendes Statement. Niemand am Tisch zweifelte daran, dass dies nicht Albinos aufrichtige Meinung sein würde. Dennoch erlaubte sich Meinrad noch eine kritische Frage zu stellen: «Und wie beurteilst du deine persönliche Rolle in dieser Geschichte deines Lebens. Betrachtest du dich vor allem als Opfer oder anerkennst du, dass du doch auch Teil der Täterseite warst?»

Albino kehrte die Frage um: «Habe ich - das damals behinderte Kind - meine Rolle, jenes Leben, in die ich gedrängt wurde, selbständig gewählt? Habe ich mich freiwillig entschieden, diesen Weg zusammen mit dem Vater zu gehen? Wie hättet ihr euch an meiner Stelle verhalten? Hättet ihr zum Vater gesagt: Ab sofort mache ich bei diesen verbrecherischen Aktivitäten nicht mehr mit. Ich hau jetzt ab und gehe meinen eigenen Weg, der ein korrekter sein wird? Wo wäre ich gelandet? Schon nach fünfzig Metern wäre ich auf die Nase gefallen, weil ich den Stein, der mir das Bein stellte, nicht gesehen hätte…!»

Totenstille.

Alle hatten sogar für einige Augenblicke das Kauen des Brotes mit Butter und Konfitüre eingestellt, die Kaffeetasse im Unterteller abgestellt.

Ladina sagte: «Ich habe noch eine ganz andere Frage an dich: Erkläre mir, wie liefen früher deine Gedanken im Hirn ab, als du weder sprechen noch lesen konntest? Ich kann mir dies ohne Sprache schlecht vorstellen. Denn oft, wenn ich denke, führe ich Selbstgespräche. Das bedeutet doch, dass die Gedanken in Worte gefasst werden!»

Albino: «…und halb blind war ich dazu…!»

«Schwierig!»

Albino widersprach: «Nicht so schwierig! Meine Gedanken waren Bilder, Fantasien von jenem, was ich in der Vergangenheit gesehen, erlebt hatte und von jenem, was ich noch nie je gesehen hatte, mir nur vorstellte. Und diese visuellen Ansichten in meinem Kopf waren transparent, farbig, klar erkennbar. Ganz gegensätzlich zu dem, was ich in der Realität zu sehen im Stande war! Deshalb liebte ich es in mir selbst zu leben, in meiner Fantasie!»

Später, als das Ehepaar allein war, sagte Pia zu Meinrad: «Er ist wirklich ein lieber und intelligenter Junge!»

Meinrad widersprach seiner Gattin nicht grundsätzlich. «Ja ist er!» Um dann doch noch ergänzend anzufügen: «Vielleicht, wer weiss, ist er insbesondere clever. Etwas gar clever!»

Ein Migrant ohne Namen

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