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3 Das Leben im Asylheim Sonnenhügel

Sommer 2010

Das Leben im Asylantenheim Sonnenhügel gestaltete sich auch in diesem Sommer nicht anders als in den Jahren zuvor. Kurz gesagt: Es war alles andere als einfach. Heimleiter Meinrad Meier, ein auf Gerechtigkeit bedachter, etwas knorriger Bergler und seine schöne, etwas zu Fülle neigende Gattin Pia, in Gemeinschaft mit dem Personal, hatten alle Hände voll zu tun, den Frieden im Haus zu bewahren. Immer wieder aufkeimende Händel zwischen einzelnen Heimbewohnern oder Gruppen waren eine Gefahr für die angestrebte Harmonie. Oft lagen die Nerven der Gäste blank. Die unterschiedlichen Nationalitäten, Ethnien, Individualitäten, Mentalitäten und nicht zuletzt auch Religionen bildeten eine ideale Voraussetzung den Kessel zum Kochen zu bringen, beziehungsweise am Kochen zu halten. Es ging der Heimleitung darum, alles zu unternehmen, dass der Kessel möglichst nicht überkochte. Vorteilhaft war, dass in diesem Heim nur Männer untergebracht waren. Nachteilig war, dass es vornehmlich junge Leute oder sogar Jugendliche waren, die naturgemäss schneller in Rage kommen können, die unvermittelter nicht mehr im Stande sind sich zu kontrollieren, die fallweise gewaltbereit sein können, insbesondere wenn sie nichts oder zumindest wenig zu verlieren haben.

Meinrad Meier wollte sich die Probleme lieber nicht ausmalen, wären auch Frauen im Haus.

Das Ehepaar Meier mit Personal stellte alle erdenklichen Anstrengungen an, damit es möglichst nicht zu tätlichen Handlungen kam. Denn wenn jeweils Blut floss, gab es nicht nur wegen der medizinisch notwendigen Versorgung die entsprechende Aufregung. Dann rückte – ausser der Ambulanz – eben auch immer wieder die Polizei an und Befragungen und oft auch Verhaftungen folgten. Dies kostete nicht nur Nerven, sondern vor allem auch Zeit und Energie. Und die Aktionen beschworen zusätzliche Emotionen herauf, auf die man lieber verzichtete.

Dann waren da ausserdem noch die typischen Nebenschauplätze, die ausnahmslos in jedem Fall zu Verhaftungen führten: Drogenhandel. Handel mit Alkohol. Handel mit Waffen. Diebstähle. Verfehlungen dieser Art waren eher selten, aber sie kamen vor und mussten erst aufgedeckt werden.

Inmitten dieses alltäglichen Trubels, der unsere reale Welt im Kleinformat abbildet, hatten sich auch die zwei Töchter des Leiterehepaars Meier zurecht zu finden: Die bald 14-jährige Selina und die bald 13-jährige Ladina. Denn die Familie hatte ihre Wohnung im Heim. Dabei floss Privates und Berufliches oft nahtlos ineinander, ohne dass dies angestrebt wurde. Der Erziehungsaufwand von Vater und Mutter Meier für ihre beiden Töchter war umständehalber auf das Nötigste beschränkt. Doch weil die Kinder vernünftig waren, konnten sich diese recht gut selbstverantwortlich managen. Die Empfehlung der Eltern Meier an ihre Töchter lautete: Freundlich zu den jungen Männern zu sein – aber stets auf Distanz zu bleiben. Weil die Mädels gute Schülerinnen waren, brauchte es auch diesbezüglich keine weiteren elterlichen Ermahnungen, dass die täglichen Schulaufgaben zuhause seriös zu erledigen seien. Selina und Ladina waren sich bewusst, dass sie sich mit gewissenhaftem Arbeiten und nachfolgenden positiven Leistungen vor allem selbst belohnten. Ihnen stand stets vor Augen, dass damit das Fundament für künftige berufliche Pläne gelegt würde. Und diese Pläne existierten durchaus schon in den Köpfen der beiden jungen Menschen.

Im Asylantenheim Sonnenhügel regulierten Vorschriften das tägliche Leben. Diese mussten von allen Bewohnern ausnahmslos befolgt werden. Zum Beispiel war im Haus weder der Genuss von Alkohol noch von Nikotin erlaubt, Drogen ohnehin nicht. Wer Rauchen wollte, musste dies im Freien tun. Der Besitz gefährlicher Gegenstände wie Messer war strikte verboten. Jegliche Art von Waffen tabu. Jeder Heimbewohner hatte zu den fixierten Essenszeiten pünktlich anwesend zu sein. Ab 22.30 Uhr herrschte Nachtruhe. Die Bewohner wurden zu Arbeitseinsätzen eingeteilt, womit man auch versuchte der Eintönigkeit und Langeweile zu begegnen. Zum Beispiel Reinigungsarbeiten im Haus. Mithilfe in der Wäscherei oder der Küche. Gartenarbeiten und ähnliches. Wer sich über diese Vorschriften hinwegsetzte, wurde sanktioniert. Die Strafen waren zum Beispiel der Entzug von Freigang, der Ausschluss bei sportlichen Aktivitäten oder die Verweigerung von Nachtisch, der am Ende jeder Hauptmahlzeit stets ein Highlight für die Leute darstellte. Denn Süsses mochten sie alle.

Nun denn, die Frage stand im Raum: Wie würde es möglich sein, dem kommunikationsresistenten Outsider Albino Sahel diese Vorschriften beizubringen? Die Sache schien vorerst kompliziert zu sein. Denn wenn immer der junge Mann keine Lust für etwas hatte, stellte er sich stur und mimte den Arglosen, der nichts kapieren wollte. Doch Meier und sein Personal erkannte sehr schnell, dass Albino wohl ein ziemlich intelligentes Schlitzohr war. Wenn der Kerl den Trottel, den Nixverstan zur Schau stellte, tat er dies, um für sich damit nach Möglichkeit einen Vorteil herauszuholen. Meier gab die harte Devise an das Personal durch, dass keiner der Migranten, auch Albino nicht, niemandem der Belegschaft auf der Nase herumtanzen dürfe. Andernfalls eine Strafe fällig sei.

Albino spielte narrisch gerne Fussball, obwohl er als Behinderter arg handicapiert war, weniger durch seine Gehörlosigkeit, mehr durch seine Sehschwäche. Denn beim Fussballspielen musste er seine neue Brille aus naheliegenden Gründen ablegen. Dennoch trocknete er auf dem Spielfeld dank seiner technischen Fertigkeit alle seine Kollegen mit hinten links ab, sobald er den Ball an den Füssen hatte. Weil er ein solch exzellenter Fussballer war, stieg sein Status bei den Kollegen merklich an.

Es war schon nach kurzer Zeit ersichtlich, dass Albino friedlich war. Wenn es Raufhändel gab und Albino die Notwendigkeit sah einzugreifen, war er trotz seiner Einschränkungen und seiner Jugendlichkeit meist der Grösste und Kräftigste. Und er zögerte nicht zuzupacken, wenn es darum ging Streit zu schlichten. Niemand wagte es, sich mit ihm anzulegen.

Die kommunikative Verständigung zwischen Albino und den anderen Asylanten war gar nicht so hoffnungslos. Mit Zeichen und Gesten wurde mehrheitlich jenes rübergebracht, was rüberzubringen war. Weil auch die anderen Migranten von unterschiedlichen Herkunftsländern stammten und somit unterschiedliche Muttersprachen hatten, mussten sich auch diese untereinander nicht selten mit Deuten, mit Zeichen und Gesten behelfen.

Aufgrund dieser Konstellation erlangte Albino erstaunlicherweise schon nach kurzen Wochen im Haus eine Art Leithammel-Position, obwohl er der jüngste Asylant im Haus war. Das Personal des Sonnenhügels erkannte: Albino hatte schon nach kürzester Zeit die Regeln des Hauses lückenlos intus. Und weil der Kerl die entsprechenden Strafen bei Übertretungen hasste und somit zu meiden versuchte, gebärdete er sich schon bald als Musterknabe und Vorbild. Albino lag viel daran das Dessert nach jeder Mahlzeit verdient zu haben. Und vom Fussballspiel ausgeschlossen zu werden, wäre für ihn einer Katastrophe gleichgekommen.

Selina hatte ein Hobby, das schon beinahe eine Art Leidenschaft war: Das Schachspielen. Sie setzte sich an den Tisch zum Brettspiel, wann immer sie freie Zeit hatte und sie einen Spielpartner fand. Meist spielte sie mit ihrer Schwester Ladina, die allerdings keine ernsthafte Gegnerin war. Sie spielte auch mit ihrem Vater, den sie in den meisten Fällen besiegte. Manchmal fanden sich auch Leute des Personals, die versuchten, sich mit ihr zu messen, eher selten Heiminsassen. Nur wenige der Asylanten kannten dieses Brettspiel überhaupt. Wer auch immer sich wagte gegen Selina anzutreten, war kaum je in der Lage sie ernsthaft in Verlegenheit zu bringen.

Einmal beobachtete Albino ein Spiel während einer Stunde mit grosser Aufmerksamkeit. Als Selina und ihr Gegner das Game beendet hatten, deutete Albino, er wolle Selina herausfordern. Selina war sehr überrascht. «Kannst du etwa Schachspielen?» Albino verstand Selinas Frage ohne Worte und antwortete mit einem Lächeln.

Albino stellte Selina innerhalb einer halben Stunde Schachmatt.

Selina war nicht mal besonders wütend über ihre Niederlage, sondern eher tief beeindruckt. Sie eilte unverzüglich zu ihrem Vater: «Albino hat mich im Schach geschlagen! Dabei ist er ein totaler Anfänger! Es scheint, als war es das erste Spiel seines Lebens!» Sie schüttelte den Kopf, seufzte: «Er muss ein einmaliges Genie sein!»

Für Meinrad Meier war dies nicht unbedingt eine gute Nachricht. Er griff unverzüglich zum Telefon und berichtete das Geschehen Anton Ilg vom Migrationsamt. «Nun bin ich ziemlich sicher, dass er kein Flüchtling aus Afrika sein kann. Denn dort haben die Leute andere Sorgen als Schach zu spielen. Und ich kann mir nicht vorstellen, dass der Kerl ein Anfänger ist. Kein Mensch kann ohne fundamentale Einführung und entsprechendes Üben Schachspielen. Niemand kann das einfach so. Und ein Anfänger ist ohnehin nicht in der Lage Selina zu schlagen. Was ich sagen möchte: Vieles deutet darauf hin, dass er wohl in Europa aufgewachsen sein dürfte! Unsere Kultur ist ihm kaum fremd. Der Kerl mag intelligent sein. Doch es scheint wahrscheinlich, dass er wohl eher ein Scharlatan ist, der mit uns ein Spiel treibt!»

Ilg: «Aber taubstumm ist er wohl schon!»

«Daran besteht kein Zweifel. Und halbblind ist er auch! Dafür sind alle seine anderen Sinne messerscharf!»

«Ist dir bekannt, Meinrad, dass sein Asylantrag eben akzeptiert wurde. Begründung: Wir schicken keine behinderten Flüchtlingskinder zurück! Der Junge hat ein Recht auf Förderung wie alle Behinderten in diesem Land!»

Meier seufzte. «Ich habe bei ihm ein schlechtes Gefühl. Wahrscheinlich, weil er so geheimnisvoll ist! - Immerhin heisst das auch, dass Albino uns bald verlassen wird und er in eine Behindertenschule kommt. Darüber bin ich echt erleichtert!»

Ein Migrant ohne Namen

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