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7 Es lebe die Hoffnung

Winter 2011

Nach langen Wochen des Leidens, des Hoffen und des Bangens ging es plötzlich rasant aufwärts mit Albinos Genesung. Nach Abschluss der Rehabilitation war Albino Sahel bereit, sein Leben von Grund auf neu aufzugleisen. Im Rahmen der medizinischen Rundumbetreuung hatten die Ärzte auch die Sehschwäche des Patienten eingehend untersucht. Die Ärzte erklärten, dass bei Albino-Menschen die natürliche Melanin-Synthese gestört sei, wodurch viele dieser Menschen eine natürliche Sehschwäche entwickeln würden. Durch eine Laseroperation wurde die Sehfähigkeit fundamental verbessert. Insbesondere wechselten die visuellen Darstellungen von Schwarz-Weiss-Bildern in solche mit Farben. Die Eindrücke unterschiedlichster Art, die nun auf Albino einwirkten, empfand der junge Mann als phänomenal. Für ihn startete das Leben im wahrsten Sinne des Wortes neu.

Andererseits hätten Meinrad Meier und seine Frau Pia nie erwartet, dass dieser Albino sie künftig in einem solchen Masse in Beschlag nehmen würde, wie das nun in der Folge geschah. Als das Migrationsamt die Anfrage stellte, ob sie – die Meiers - eventuell bereit wären, die persönliche Betreuung des Jungen einstweilen zu übernehmen, fragten Meinrad und Pia, wie dies gemeint sei. Die Antwort lautete: «Nun, sozusagen an Elternstatt! Er ist ein Jugendlicher, dem das Elternhaus fehlt!»

Meier und seine Frau überlegten nicht lange. Sie betrachteten es als eine Art moralische Pflicht in christlichem Sinn, diese Bürde auf sich zu nehmen. Wie hätten sie anders reagieren sollen!? Eine negative Antwort hätte ihrer Gesinnung widersprochen.

Doch die Ausgangslage war kompliziert: Ein Besuch der Gehörlosenschule, wie ursprünglich vorgesehen, war hiermit obsolet. Unausweichlich aber war, dass sich Albino jegliche Art von Verständigung nun zuerst von Grund auf aneignen musste, so ähnlich wie ein Kleinkind in den ersten Jahren seines Lebens. In einem ersten Schritt ging es vorerst darum, alle die unterschiedlichen Laute, Geräusche, Töne korrekt einzuordnen, die Phonetik zu begreifen. Albino musste lernen einerseits zu hören und andererseits von sich aus mit dem Mund korrekte Laute zu formen, sich mündlich verständlich auszudrücken. Im Weiteren ging es darum, die schriftliche Sprache mit den Buchstaben zu begreifen, somit in der Lage zu sein, den Sinn der Worte zu verstehen, lesen zu können und dann auch in der Lage zu sein, die Buchstaben selbst zu Worten zusammenzufügen, ganze Sätze zu bilden, zu schreiben. Albino musste sich mit Zahlen vertraut machen, sich der Mathematik annähern. Und es ging auch um allgemeine gesellschaftliche Fragen, um die Verinnerlichung von Sozialkompetenz, um Allgemein- und Individualbildung in den Bereichen Naturkunde, Geografie, Geschichte, Kultur, Religion, um nur einige zu nennen. In fernerer Zukunft lag das sich Einfinden in die digitale Welt, wie auch das Erlernen von Fremdsprachen mit Schwerpunkt Englisch.

Wie sollte man Albino auf diesen Lernpfad schicken? Es existierte keine Standard-Ausbildungsmöglichkeit, keine Schule für Menschen in dieser Situation. Noch nie je in der Vergangenheit hatte man sich einer solchen Situation stellen müssen. Die Fachleute waren überfordert und sich auch uneins, wie vorzugehen sei.

Ein von Experten durchgeführter Test zeitigte beim Probanden einen weit überdurchschnittlichen Intelligenzquotienten. Dieses hiermit wissenschaftlich ermittelte Resultat entsprach somit der seinerzeitigen Vermutung des alten Schachmeisters.

Pia Meier, von Beruf Mittelschullehrerin für naturwissenschaftliche wie auch für sprachliche Fächer, sagte spontan zu, diese Aufgabe zu übernehmen, nämlich Albino Sahel als Privatlehrerin exklusiv individuell zu betreuen. Pia erklärte, sich dies zuzutrauen, worüber vor allem die Behörden erleichtert waren.

Meinrad Meier andererseits erschrak ziemlich ob der schnellen, vielleicht zu spontanen Entscheidung seiner Gattin. Er murmelte: „Du hast wahrlich Mut! Könnte auch ins Auge gehen!“

Doch Pia Meier war sich sehr bewusst, was auf sie zukommen würde. Es war ihr Ziel all dieses notwendige Basiswissen auf schnellstem Weg in Albinos Hirn zu übertragen. Pia glaubte fest daran, dieses angepeilte Ziel schaffen zu können. Andererseits war ihr sehr bewusst, dass ein Misserfolg genauso im Bereich des Möglichen liegen würde. Man müsse vielleicht bereit sein, gegebenenfalls die Übung abzubrechen, eben hart und ohne Tränen zu entscheiden, meinte Pia, sollte dies notwendig sein.

Albino kam zurück ins Dorf. Er bezog ein Zimmer in der Wohnung der Familie Meier im Haus Sonnenhügel, jenem Ort, der für ihn als Synonym sowohl des Unglücks wie auch des Glückes stand.

Albino nannte nun Pia seine Mama und Meinrad seinen Papa. Selina und Ladina waren seine Schwestern.

Das Haus war nach wie vor für Asylanten geschlossen und stand unter Meinrads Leitung in der Renovationsphase, beziehungsweise im Umbau. Täglich gingen Handwerker ein und aus. Der Kanton hatte entschieden, die Gelegenheit zu nützen, eine weitergehende Sanierung der Liegenschaft vorzunehmen.

Ein Migrant ohne Namen

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