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4 Einst Hotel Sonnenhügel, dann Asylantenheim

Spätsommer 2010

Die Bevölkerung jenes Dorfes in der Ostschweiz, in dem das Asylantenheim Sonnenhügel liegt, war in Aufruhr.

Weshalb?

Was war geschehen?

Die Vorgeschichte ist die folgende: Zur Jahrtausendwende war das Berghotel Sonnenhügel aus den in dieser Branche üblichen Gründen in Konkurs geraten: Allgemeine Misswirtschaft, Überschuldung und der Niedergang der Infrastruktur waren damals die Treiber. Die Feriengäste meldeten immer höhere Ansprüche an, welche ein Hotel – unmittelbar in der Nachkriegszeit erbaut – nicht mehr befriedigen konnte. Geld für eine gründliche Sanierung war nicht da und niemand war bereit gewesen etwas einzuschiessen, weder Private noch Banken. Schliesslich kaufte der Kanton das Haus mit dem Ziel, dieses keinesfalls leer stehen zu lassen, sondern zu nützen und dies ohne grösseren baulichen Aufwand. Damit war das Asylantenheim Sonnenhügel geboren. Dies gegen massiven Widerstand des Dorfes.

Kein Dorf in der ganzen Schweiz beherbergt gerne ein Asylantenheim. Weil die Einwohner grundsätzlich Angst haben vor Menschen mit einem anderen kulturellen Hintergrund, mit einer anderen Religion, einer fremden Sprache, oft auch mit einer anderen Hautfarbe. Können sich unsere Kinder, unsere Frauen noch vor die Haustür wagen, ohne belästigt zu werden? Müssen wir fortan unsere Haustüren doppelt verriegeln? Stehlen sie Hühner oder Wäsche von der Leine?

In der damals einberufenen Gemeindeversammlung – einige Zeit zurück - waren Repräsentanten des Kantons mit ihren Argumenten nicht in der Lage, die Einstellung einer nicht unbedeutenden Minderheit der Bürger zu ändern. Der Heimleiter Meinrad Meier – kein Einheimischer, ein Bündner, wie seine Frau auch, beide zwischen vierzig und fünfzig, er näher bei fünfzig, sie nahe bei vierzig, hatte zwar einen gewissen Goodwill auch bei den Leuten, die dagegen waren. Man schätzte Meiers lautere Einstellung, seine Menschlichkeit, seine Ehrlichkeit. Dennoch zogen sowohl einzelne Vertreter der Gemeindebehörde wie auch keine kleinere Zahl von Bürger alle Register, um den Kanton zur Wende zu bewegen. Ohne Erfolg. Der Kanton machte höhere Interessen geltend. Ein Gericht entschied zu Gunsten des Kantons. Damit war ein legaler Weg, den laufenden Betrieb des Asylzentrum zu stoppen, verbaut, der Widerstand jedoch bis auf weiteres nicht gebrochen.

Nachdem das Haus mit Asylanten gefüllt war, zeigte sich in der Praxis, dass der Betrieb weniger störend war als ursprünglich von einem Teil der Bürgerschaft befürchtet. Zwar gab es immer wieder Dispute zwischen Bürgern des Dorfes und Heimbewohnern, oft wegen Kleinigkeiten, meist wegen Missverständnissen. Was von der Heimleitung als ein gewisser Vorteil betrachtet wurde, nämlich nur etwa Gleichaltrige, mehrheitlich jugendliche, männliche Insassen zu beherbergen, wurde von einem grossen Anteil der Dorfbewohner eher als mögliche Bedrohung angesehen: Junge Männer versuchen über die Zäune zu gucken! Junge Männer besitzen zu viel Testosteron! Junge Männer haben ein Handy in der Tasche aber kein Geld! Und auch junge Männer haben Heimweh, Sehnsucht nach Geborgenheit. Jungen Männern geht die Einsamkeit, die Ereignislosigkeit, die Perspektivlosigkeit, das Leben ohne Liebe und Zuwendung auf den Sack! Junge Männer sind deshalb schlecht berechenbar, können schon mal die Selbstkontrolle verlieren. Ist doch sonnenklar! Ist doch völlig nachvollziehbar. Alle diese Tatsachen aber bedeuten Gefahr!

Wenn es über die Jahre hinweg eher wenige gravierende Zwischenfälle gab, bei denen Bürger und Asylanten in Konfrontation gerieten, konnte man dies vor allem auch als ein Verdienst der Heimleiter-Familie Meier und ihrem Team zuschreiben. Die Leute waren Meister im Üben der Deeskalation, im Anziehen der Zügel und Loslassen derselben. Für die Asylanten war erkennbar, dass die Führungsleute im Haus versuchten gerecht zu handeln, vor allem auch, dass sie berechenbar waren. Wenn Strafen ausgesprochen wurden, empfand man diese meistens als angebracht, auf jeden Fall nicht als ungerecht.

In der Tat entwickelten sich die gröberen Probleme nicht zwischen Asylanten und Dorfbewohnern, sondern waren Konflikte von Heimbewohnern unter sich. Einmal geschah gar ein Mord, als ein Kollege seinen Kumpel mit einem Küchenmesser in der Küche erstach. Gemäss Gerichtsurteil war es nicht Mord, sondern – juristisch korrekt beurteilt - Totschlag. Denn der Täter hatte nicht mit Vorbedacht oder Absicht gehandelt, sondern im Affekt. Weil er in Wut geraten war, diese nicht mehr kontrollieren konnte und er gerade zufällig das Tatwerkzeug in der Hand hielt, um Gemüse zu rüsten. Und wohl auch, weil ihn der Gegner zuvor gemobbt hatte. Die tiefere Ursache für die Tat wurde nie aufgeklärt, blieb im Dunkeln.

Nun aber war ausgerechnet Albino Sahel für einen Eklat verantwortlich. Bei schwülheissem Wetter begab sich der junge Mann allein zum Fluss, um darin zu Schwimmen – ein Vorgang, wie er sich schon Dutzende Male in den Tagen zuvor während des ganzen Sommers hindurch regelmässig abgespielt hatte. Albino war ein guter Schwimmer. Meiers diesbezügliche Meinung war, dass dies ein Indiz mehr sei, dass Albino kein echter Afrikaner sein könne, denn die würden üblicherweise nicht schwimmen können. Albino zog wie immer sein Hemdchen und seine Hose aus, deponierte sein kleines Kleiderbündel unter einem Strauch – immer demselben, um die Habseligkeiten später wieder leichter finden zu können. Dann stürzte er sich nackt in die Fluten. Kein Problem, weil da nie jemand war. Einige Dutzend Meter Fluss abwärts und wenige Minuten später schwamm Albino an den Rand, stieg aus dem Wasser und schickte sich an, den Weg entlang des Flusses zurückzulaufen, dorthin, wo seine Hose und sein Hemdchen deponiert waren. Wenn sein Gehör intakt gewesen wäre und seine Augen genaues Sehen erlaubt hätten, wäre ihm Kindergekreische schon von weitem aufgefallen. Und er hätte sich leicht vorübergehend im Gebüsch verbergen können. So aber stolperte der nackte Mann mitten in die Kinderschar einer Schulklasse, welche Naturkunde im Freien abhalten wollte. Albino erschrak nicht weniger als die Lehrerin. Er machte sich so schnell aus dem Staub, als ihm dies möglich war. Während die Lehrerin in Schreck erstarrte, sahen es die Kinder eher von der humorvollen Seite: Sie lachten und spotteten, waren kaum beeindruckt.

Die Bombe platzte Stunden später: Weil die Kinder am Abend vom Vorfall an diesem Nachmittag zuhause erzählten, fanden einige Eltern dies eine gute Gelegenheit, um eine Anzeige zu erstatten wegen Exhibitionismus eines Heiminsassen.

Die Polizei erschien noch am selben Abend im Sonnenhügel. Dabei war es recht einfach den Täter zu identifizieren, denn er wurde von allen identisch beschrieben: Es war ein weisser Neger! Bei der Befragung von Albino im Beisein von Meinrad Meier gelangte man zu keinem Fazit, weil keine Kommunikation mit dem taubstummen Menschen möglich war. Albino spielte den kommunikationsresistenten Mann perfekt wie stets, wenn ihm dies vorteilhaft erschien.

Die Polizei legte die Sache ad acta. Dies vor allem auch deshalb, weil die Lehrerin darauf beharrte, dass sich dieser Mann nach ihrer Ansicht nicht als Exhibitionist betätigt hatte, sondern nur nackt im Fluss badete und dabei zufällig überrascht worden war. Doch Leute des Dorfes gaben keine Ruhe. Der Tenor lautete: In diesem Heim gibt es mindestens einen Exhibitionisten, der unsere Jugend verdirbt. Deshalb gehöre das Heim geschlossen. Einige Bürger deponierten eine Klage beim Bezirksgericht, welches wegen Arbeitsüberlastung bis auf weiteres nicht in der Lage war, den Fall zu behandeln.

Jugendliche Heisssporne warfen mit Steinen eine Scheibe des Sonnenhügels ein und säten damit Schreck. In der Dorfmitte hängten sie Transparente an die Dächer einiger Häuser mit Slogans wie Der Sonnenhügel muss geschlossen werden oder Asylanten in unserem Dorf sind unerwünscht. Refugees go home.

Besonnene Kreise stellten sich dagegen, riefen zu allgemeiner Zurückhaltung, zu Frieden und Versöhnung auf. Sie wiesen auf das harte Los der Flüchtlinge hin und insbesondere auf ihr ungewisses Schicksal in Bezug auf ihre Zukunft. Denn dieses Heim war ja nur eine Zwischenstation, ein Durchgang vor einer endgültigen Akzeptierung eines Asylantrags oder eben im negativen Fall einer Wegweisung. Und Wegweisungen würden weit mehr vorkommen als Akzeptierungen, wurde betont. Angeführt wurde die Gruppe der Besonnenen insbesondere von den kirchlichen Repräsentanten: Die protestantische Pastorin und der katholische Pfarrer spannten aktiv verbindend zusammen. Um die beiden Exponenten der Kirchen in Misskredit zu bringen, dichtete man den beiden ein Liebesverhältnis an. Der Pfarrer und die Pastorin widersprachen dieser Vermutung vehement, aus naheliegenden Gründen: Die Frau war verheiratet und hatte einen Mann und drei kleine Kinder zuhause. Der Pfarrer andererseits war als katholischer Priester dem Zölibat verpflichtet.

Ein Migrant ohne Namen

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