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1 Im äussersten Osten der Schweiz

Sommer 2010

Der Postenchef des Schweizer Grenzwachtkorps III, Hans Gerber, rief den Verwalter des Asylantenheims Sonnenhügel mit Namen Meinrad Meier an. Gerber, ein senkrechter Mann mit karger Wortwahl vertrat die Ansicht, dass dies zum Stil eines sich vorbildlich gebenden staatlich angestellten Kontrollbeamten gehöre. Kurz und korrekt, so lautete seine Devise.

„Hast du noch Platz für einen Neuen?“

„Nur einen oder sind es mehrere?»

„Es ist nur eine Person. Er ist allein. - Ja, du hast recht, dies ist sehr aussergewöhnlich! In der Regel klammern sich stets mehrere wie Kletten aneinander! Sie halten es mit den Wölfen. Die fühlen sich in der Meute auch am sichersten!»

«Woher kommt er? Hat der Mann Papiere vorzuweisen? Wie alt ist er?»

«Es ist ein UMA* ohne Papiere! Der Junge hat nicht mal einen Rucksack bei sich! Keine Tasche! Kein Handy! Ich schätze ihn etwa fünfzehnjährig, möglicherweise ein oder zwei Jahre älter! Vielleicht auch etwas jünger! Wir haben ihm die Fingerabdrücke genommen. Er ist in keinem System zu finden, ein unbeschriebenes Blatt!»

«Ein grosses Kind eben, auf jeden Fall minderjährig! - Wir werden ihn unter diesen Umständen sehr wahrscheinlich nicht zurückschicken können…!»

«Der Kerl ist in jeder Hinsicht sonderbar: Ein weisser Neger!»

«Neger…! Hans, bitte halte dich zurück in deiner Wortwahl! Wie dir bekannt ist, sind wir unter Dauerbeobachtung!» Er räusperte sich. «Wie soll ich deine Andeutung verstehen?»

«Er hat helle Haar mit einem Goldschimmer drin, sehr sonderbar anzusehen. Und er hat eine helle Haut, die heller ist als deine und meine. Und trotzdem entspricht sein Aussehen dem eines Negers! - Ich kann unter diesen Umständen wohl kaum von einem Schwarzen sprechen!»

Meier hüstelte. «Ist er ein Albino?»

«Ja, es scheint so. In Afrika gibt es mehr solche Menschen als anderswo. Dies habe ich einmal gelesen. Und sie werden in ihren Ländern entweder verfolgt oder vergöttert, mit entsprechenden Folgen für die Betroffenen.»

«Bis jetzt ist mir noch kein Mensch mit Albinismus unter die Augen gekommen!»

Hans Gerber pflichtete seinem Kollegen bei: «Das ist auch bei mir der Erste dieser Sorte. Doch dies ist noch nicht alles: Der junge Mann ist völlig taub, kann wohl nicht sprechen, welche Muttersprache auch immer er hätte. Und er scheint nur sehr reduziert sehen zu können. Scheint nahezu blind zu sein!»

Nun entstand eine längere Pause. Dieser Tobak schien etwas gar stark für den Asylheimleiter Meier. Schliesslich meinte er: «Ziemlich viele Hypotheken! Eine solche Person dürfte nicht lange bei uns im Heim bleiben. Wir sind nicht für Behinderte eingerichtet. Dürfte wieder einmal eine grössere Aufgabe für unsere Spezialisten werden, die sich hiermit verwirklichen können!»

Hans Gerber war nicht zu Spässen aufgelegt. Er führte zwar insbesondere während der Arbeit, wenn er im Dienst war, nach aussen eine raue Schale zur Schau, hatte aber grundsätzlich ein sanftes, menschenfreundliches Gemüt. «Dein Heim ist spezialisiert auf Jugendliche! Also bist du gewiss die richtige Adresse als erste Station. Da ist der Junge vorerst mal gut aufgehoben! – Ich bin dir sehr verbunden, Meinrad. Du hast ein Herz für Menschen in Not, so wie ich auch! Ich möchte mir gar nicht vorstellen, was der arme Junge wohl schon alles durchgemacht hat, bis er hier war! Wie kann man nur Kinder ohne Begleitung, schutzlos, in solche nur allzu oft tödliche Abenteuer schicken!? Und dann ausserdem noch behindert! Nun, es wird einmal mehr deine Aufgabe sein, den Burschen so zu betreuen, dass möglichst keine traumatischen Schäden bei ihm zurückbleiben werden!»

Wieder entstand eine kleine Pause, ehe Meier antwortete: «Ok, Hans, ich nehme ihn. Wir werden sehen, ob wir zumindest vorübergehend Freunde werden können!»

«Ich danke dir!»

*) UMA: In der Amtssprache unbegleiteter jugendlicher Asylant

Ein Migrant ohne Namen

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