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12 Wunder, Wunder

Frühling 2014

Der Sonnenhügel stand vor der Wiedereröffnung. Meinrad Meier hatte ganze Arbeit geleistet. Das Haus präsentierte sich schön wie nie zuvor. Ein Schreiben des Regierungsrates des Kantons bescheinigte dem Ehepaar Meier bedeutende Verdienste am guten Gelingen. Für Meinrad war es eine Genugtuung.

Und auch die Bewohner jener Gemeinde, zu welcher der Sonnenhügel gehörte, verhielten sich ruhig. Keine Protestaktionen mehr. Für sie war die Situation gut, so wie sie sich jetzt präsentierte. Hatten die eingesetzten Experten doch attestiert, dass der Anschlag von keinem ihrer Bewohner ausgeführt worden sei. Und damit konnte erwartet werden, dass an keiner Hand von Leuten des Dorfes Blut klebte!

Das neue Personal im Asylheim Sonnenhügel war eingestellt. In einer Woche würden die ersten Asylanten einziehen. Und weil es viele junge Männer gab, die in dieser Zeitperiode geflüchtet waren, gab es keine Zweifel, dass dieses Haus schon in Kürze wieder voll belegt sein würde.

Pia Meier war hochschwanger, was ihren Gatten Meinrad doch einigermassen verwirrte. Denn Meinrad Meier war grundsätzlich in der Lage eins und eins zu addieren. Er zählte die Monate auf pragmatische Art zurück und fragte sich: Waren sie in jener Zeit je zusammen? Er konnte sich nicht daran erinnern!

Pia sagte: «Es ist ein Wunder, wir kriegen trotz meines fortgeschrittenen Alters noch einen Sohn. Ein stets gehegter Wunsch geht in Erfüllung! Halleluja. Es hört sich beinahe schon biblisch an. Dies war in meinem Fall wohl die allerletzte Gelegenheit!»

Und auch Selina war hochschwanger, was andererseits niemand begreifen konnte. Denn sie war doch stets ein so vernünftiges, gescheites Kind gewesen. Jetzt gab sich Selina störrisch, wollte nicht herausrücken, wer der Vater ist. «Nein», sagte sie, «ich habe keinen Freund und ich brauch auch keinen! Dies sollte in der heutigen aufgeklärten Zeit wohl überhaupt kein Thema mehr sein! Es besteht kein Anlass für eine Diskussion!»

Die Eltern Meier hatten sofort signalisiert, Selinas Kind zu sich zu nehmen, sobald es auf der Welt sei. Damit die Tochter das Gymnasium mit der Matura abschliessen könne. So würde Pia dann eben gleichzeitig zwei Kinder zur Betreuung haben. Ihr eigenes und jenes von Selina. Meinrad schüttelte ob dieses unfassbar grossen Quantums an Sorglosigkeit seiner älteren Tochter den Kopf. Er meinte, dass es mit dieser Ignoranz einfach sei von der heutigen aufgeklärten Zeit zu faseln.

Ladina nannte ihre Schwester Selina eine unglaublich dumme Kuh, insbesondere aus dem Blickwinkel, dass sie bis dato stets die Leaderin der beiden sein wollte, ein Vorbild in jeder Hinsicht.

Pia enthielt sich jeglichen Kommentars.

Die Überraschung, die folgte, war schliesslich eine monumentale. Mit nur einer Woche Unterschied im Datum gebar sowohl Selina wie auch Pia je einen Sohn. Und beide Buben sahen sich zum Verwechseln ähnlich. Das eine Kind brachte 3.330 Kilo auf die Waage, das andere 3.340 Kilo.

Das Baby von Selina hatte eine wunderschöne ebenmässige Haut in zarter Maroni Farbe. Als Selinas Eltern Meinrad und Pia zusammen mit Ladina in der Klinik das neugeborene Kind zu sehen bekamen, wussten die drei augenblicklich Bescheid.

Selina schaute mit forderndem Blick in die Runde und sagte in provokativem Ton: «Gibt es Fragen?»

Die Antwort war einhellig: «Nein, gibt es nicht!»

Als wenige Tage später Pias Baby die Welt erblickte und auch dieses eine glatte Haut in zarter Maroni Farbe zeigte, geriet diese Welt für einen Moment aus den Fugen.

Jetzt schüttelten Meinrad, Ladina und Selina ihre Köpfe. Pia spürte in diesem Moment der Wahrheit kein Körnchen Geist mehr in ihrem Kopf. Geist, der hätte Verwendung finden können für eine Erklärung, eine Rechtfertigung oder weiss Gott vielleicht eine Entschuldigung. Geist, der aber eigentlich neun Monate zuvor hätte zum Einsatz kommen sollen. Selinas einstiger Satz gibt es Fragen? hätte auch hier ebenso passend angewendet werden können. Doch auch in diesem Fall wäre die Frage hypothetisch gewesen, weil die Sachlage eindeutig war. Irreversibel. Aus diesem Grund liess man es familienübergreifend bleiben auch nur eine einzige Frage zu stellen.

Meinrad machte innert Minuten alle Zustände durch, die ein Geist oder vielleicht noch eher ein Körper in der Lage ist durchzustehen. Von heiss zu kalt und zurück. Von schwachem Herzschlag zu Herzrasen. Von garstigster Übelkeit bis hin zum Absturz der Gedanken in die Fatalität einerseits und der Infragestellung von Gottes Güte andererseits: Ist es notwendig, dass wir den Talboden unseres Lebens auf diese Weise durchleiden müssen!?

Schliesslich schaute Meinrad kurz zur Decke und sagte nur einen Satz: «Jetzt steht es zweifelsfrei fest! Er ist ein Scharlatan!»

Sowohl Pia als auch Selina hatten ihre vehemente Widerrede zuvorderst auf ihren Lippen: «Nein, ist er nicht!» Doch in der Realität blieben sie stumm.

Der Familiensalat war angerichtet, alle Ingredienzen vorhanden für eine Megaexplosion. Mehrere Familienmitglieder hätten jeglichen Grund gehabt Nächste der eigenen Familie zumindest mit Vorwürfen einzudecken. Aber nichts dergleichen passierte. Absolut nichts.

Nun zeigte sich der wahre Charakter von Meinrad Meier. Aus seinem Mund kam weder eine Frage noch ein Kommentar. Und eben auch kein Vorwurf. Nicht vor versammelter Familie, nicht in Einzelgesprächen. Das Einzige, was aus seinem Munde kam, klang alles andere als ein Abgesang auf ihre familiäre Gemeinschaft. Im Gegenteil, es hörte sich wie eine allgemeine trotzige Aufmunterung an: «Wir schaffen auch das! Zusammen!» Meinrad zeigte damit, dass er sich wieder gefangen hatte.

Ein Migrant ohne Namen

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