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10 Blick zurück in die Vergangenheit

Sommer 2013

Familie Meier reiste gemeinsam in die Sommerferien. Mit dabei waren ausser den Eltern Meinrad und Pia Meier auch die Töchter Selina und Ladina, sowie der Ziehsohn Albino. Weil Albino infolge seiner Albinismus-Veranlagung eine intensive Sonnenbestrahlung schlecht ertragen konnte, nahm die Familie auf diesen Umstand Rücksicht. Sie entschied sich dieses Mal nicht an die Adria zu reisen, sondern an die Ostsee. Dort hatte die Familie ein Ferienhaus gemietet.

Diese Ferien standen im Zeichen der Veränderung oder noch eher des Abschieds. Im Wissen darum hielt ein gewisses Quantum an Melancholie in der allgemeinen Stimmung Einzug. Nach den Ferien würde auch Ladina das elterliche Nest verlassen und in ein Internat in der Innerschweiz für ihre gymnasiale Ausbildung wechseln, so wie dies ihre ältere Schwester Selina schon zuvor gemacht hatte. Die Eltern Meier entschieden sich für diese Lösung, weil sie die hübschen Mädchen nicht den Begehrlichkeiten der jungen Asylanten im Haus aussetzen wollten. Und auch Albino war so weit, den schützenden Schirm von Pia und Meinrad Meier zu verlassen. Die individuelle Basisausbildung durch die Lehrerin Pia war erfolgreich abgeschlossen worden. Albino hatte die Aufnahmeprüfung fürs öffentliche Gymnasium in der Stadt bestanden. Es wurde ihm erlaubt direkt in eine höhere Klasse einzusteigen. Das Resultat eines weiteren Intelligenztests, den Albino aus berechnender Überlegung selbst angeregt hatte, war so überzeugend ausgefallen, dass die Experten geneigt waren den Jungen nahe der Kategorie Genie einzuordnen. Diese Premium-Klassifizierung bewirkte, dass Albino ein Stipendium zugesprochen wurde, gespendet von der Gilde der Freimaurer. Mit diesem regelmässigen Geld konnte sich Albino eine Kleinwohnung in der Stadt leisten und ausserdem seinen allgemeinen Lebensunterhalt bestreiten, unabhängig einer Unterstützung durch Familie Meier.

Offensichtlich hatte eine Glückssträhne Albinos Leben erfasst.

Geld von den Freimaurern!? Meinrad und Pia waren auf eine ehrliche Art entsetzt. Meinrad fragte: «Ist dir bewusst, wer die Freimaurer sind?»

Albino antwortete, ohne eine Sekunde zu zögern: «Die Losungen dieser Vereinigung betrachte ich als positiv: Freiheit. Gleichheit. Brüderlichkeit. Toleranz. Humanität! Was soll mir das Recht geben, eine negative Meinung über diese Organisation zu haben?»

Nun drang die konservative Ausrichtung des Ehepaars Meier durch: «Jede wichtige Religionsgemeinschaft der Erde ist auf Distanz zu dieser Vereinigung. Weil die Mitglieder eigenartigen, wohl heidnischen Ritualen huldigen. Weil sich ihre Mitglieder nicht offen äussern dürfen, sich zur Verschwiegenheit verpflichten müssen!»

«Ich bin ja kein Mitglied dieser Vereinigung, nur weil diese mein Sponsor ist!»

Meinrad blieb hartnäckig: «Lass dich nicht einwickeln! Weder von den Freimaurern noch von anderen Gruppierungen, die dir grosse Versprechungen machen! Grosse Versprechungen meinen in der Regel auch etwas von der Gegenseite, von dir eben, zu erwarten!»

Albino nickte zustimmend. Dies war bestimmt kein unvernünftiger Rat. Albino verstand das durchaus.

Überhaupt befand sich Albino in einem Prozess, den man Emanzipierung bezeichnen konnte. Er war auf dem Weg richtig erwachsen zu werden. Er dachte über alles nach, was neu an ihn herankam. So wie Pia und Meinrad es ihm wiederholt nahelegten, stets mitzudenken. Nicht anders als Pia und Meinrad auch ihren Töchtern versuchten den Weg zu weisen. Albino erkannte immer wieder und täglich neu, dass er eigentlich noch gar nichts wusste. Er realisierte, wie wichtig für die persönliche Entwicklung die stete Bereitschaft ist, Neues auf- und anzunehmen.

Weil dieser Tag regnerisch war, hatte die Familie Meier viel Zeit Schach zu spielen, aber auch zusammen zu sitzen und miteinander zu diskutieren.

Albino hatte in den zurückliegenden Wochen zusehends mehr Zutrauen zur Familie gewonnen, die er nun endgültig als die seine betrachtete. So war es nur die logische Konsequenz, dass Albino just an diesem Tag bereit war, von sich aus über seine Vergangenheit, sein früheres Leben zu sprechen. Er bezeichnete diese Zeit als seine graue Vergangenheit, ein Begriff, der ziemlich vielsagend erschien.

Irgendwann, eher unvermittelt, begann der junge Mann zu berichten, erst eher zögerlich, später immer engagierter.

Meine Familie stammt aus einem Land in Westafrika. Um welchen Staat es sich handelte, ist mir nicht bekannt. Wegen der allgemeinen Armut sahen sich meine Eltern genötigt als Emigranten den Weg nach Europa in Angriff zu nehmen. Ich war ihr einziges Kind und zur Zeit der Flucht ein Säugling. Wir schafften es allerdings nicht bis nach Europa, sondern strandeten in Algerien, wo die Eltern Arbeit in einer landwirtschaftlichen Genossenschaftsplantage fanden. Weil das Einkommen unmittelbar zum Überleben reichte, entschlossen sie sich einstweilen in diesem algerischen Dorf fernab urbaner Regionen, nahe der Berge, zu bleiben, nicht nach Norden

weiterzuziehen. Es war eine Entscheidung, die Vater und Mutter offensichtlich mit Rücksicht auf mich fällten, um mein junges Leben nicht weiteren Gefahren auszusetzen.

Doch das Schicksal meinte es schlecht mit uns: Im zweiten Winter setzten sintflutartige Regenfälle ein. Wasser aus den Bergen stürzte in gewaltigen Fluten in unser Dorf und richtete enorme Schäden an. Das Wasser drang in unser Lehmhaus, zerstörte dieses und riss uns – Vater, Mutter und mich - mit. Die Mutter überlebte das Unglück nicht, wurde nie mehr gefunden. Der Vater war leicht verletzt und suchte mich verzweifelt. Als man mich fand, sagte man ihm, dass ich tot sei. Aber ich hatte offensichtlich einen sehr starken Lebenswillen, sodass ich irgendwie und auf wundersame Weise ins Leben zurückfand. Ich habe keine klare Erinnerung mehr daran. Allerdings verlor ich bei dieser Naturkatastrophe mein Gehör.

Für meinen Vater wurde das Leben nun in der Folge noch schwieriger als zuvor. Er musste fortan allein für den Lebensunterhalt von uns zwei sorgen, für sich und für mich, den Gehörlosen, den Behinderten. Ich wurde im Dorf ignoriert, links liegen gelassen. Man behandelte mich als wertlosen Idioten. Ich wurde von jeglicher Schulbildung ausgeschlossen. Dabei spürte ich, dass ich den anderen Kindern intellektuell mindestens ebenbürtig war. Ich bekam aber nie eine Chance, mich irgendwo und in irgendeiner Weise einzubringen. Nicht mal mein Vater glaubte ernsthaft, dass ich mit einer normalen Intelligenz gesegnet sei. Zwar gab es im Dorf noch andere Kinder, die weder lesen noch schreiben konnten, weil die Eltern sie nicht in die Schule schickten. Aber die konnten sprechen und waren damit gegenüber mir im Vorteil.

Die Verzweiflung des Vaters wurde immer grösser, weil er trotz aller seiner Bemühungen nicht auf einen grünen Zweig kam und wir bettelarm blieben, eigentlich immer noch mehr verarmten. Der Vater

wurde depressiv, fing mit vielen Leuten Streit an. Manchmal nahm er zu viel Alkohol zu sich, schädigte sich auf diese Weise selbst. Die Leute verachteten ihn, entzogen ihm den Respekt. Mich aber behandelte er stets sehr gut. Seine ganze Sorge galt mir. Er hätte mich gerne gefördert, hatte aber keinerlei Möglichkeit dazu. Die Kommunikation zwischen dem Vater und mir erfolge mit Deuten, Handzeichen, Blicken. Alles war problemlos, wir verstanden stets was der andere meinte. Aber mit fremden Leuten war eine Kommunikation für mich fast aussichtslos. Vor allem auch deshalb, weil die Mitmenschen mit mir nichts zu tun haben wollten. Viele schienen vor mir Angst zu haben und gingen auf Distanz.

Als ich etwa zwölfjährig war, entschied der Vater das Leben radikal zu ändern, nach dem Motto: Wir müssen etwas unternehmen, bevor wir untergehen. Der Vater schloss sich einer Räuberbande an. Ich war an seiner Seite, hatte keine andere Wahl. Die Truppe bestand aus kriminellen Nordafrikanern, die nichts zu verlieren hatten und aus Franzosen, Ganoven, die alle etwas auf dem Kerbholz hatten und in ihrem Heimatland steckbrieflich gesucht wurden. Immerhin hatte ich das nicht zu verachtende Privileg stets an Vaters Seite sein und bleiben zu dürfen. Dieses Kind, das ich war, wurde zwar von der Bande nicht gern gesehen, aber immerhin geduldet, nach dem Motto: Er ist der Vater, trägt somit die Verantwortung für seinen behinderten Sohn. Das Klima, die Umgangsform innerhalb der Truppe war rau, oft gewalttätig. Dabei wurde keinerlei Rücksicht auf mich genommen. Als Gehörloser konnte ich ihre Sprache nicht hören und somit nicht verstehen, was wohl ein Glück für mich war. Denn diese war zweifellos rüde. Dafür begriff ich umso eher die meisten der Handlungen.

Die erste kriminelle Aktion, bei der sich mein Vater und ich beteiligten, war ein Überfall auf einen Geldtransport in einer Vorstadt von Algier. Weil die zwei Fahrer des Panzerautos nicht bereit waren

sich zu ergeben, wurden sie von Vaters Kollegen kaltblütig erschossen. Unsere Leute hatten die Nerven verloren. Weil ich alles hautnah miterlebte, war ich geschockt, der Vater deprimiert und entsetzt. Dies hatten wir so nicht erwartet. Der Vater teilte seinen Kollegen mit, wenn es so laufe, sei er ab sofort nicht mehr dabei. Denn er achte das Leben. Die Antwort der Gangster war eiskalt: Mitgegangen mitgefangen! Entweder bist du weiter dabei, andernfalls müssen wir auch dich und deinen Sohn erledigen, weil du jetzt zu viel weisst.

Immerhin zogen die Kriminellen aus dieser grundsätzlich missglückten Aktion eine Lehre. Sie meinten, dass der Überfall auf Geldtransporte vielleicht lukrativ sei, aber auch sehr risikovoll. Weil man dann sofort die Polizei und die Staatsanwaltschaft, ja sogar das allgemeine Volk gegen sich habe. Die Gruppe beschloss einen Strategiewechsel: Man wollte sich künftig auf die Sprengung von Bancomaten spezialisieren.

Unser Refugium, in das sich die Bandenmitglieder zurückzogen, lag geschützt und weit ab von der Zivilisation in den Bergen Algeriens, wo uns niemand störte. Wir wohnten in primitiven Hütten. Unser Luxus war gutes Wasser eines Baches in der Nähe. Ein Mitglied der Bande war einst Sprengmeister bei Tunnelsprengungen. Er führte die Leute systematisch in das Handwerk ein. Die Bomben, die eingesetzt wurden, waren von sehr einfacher Konstruktion: Von einem dicken Eisenrohr wurde ein Abschnitt abgesägt, hinten und vorne ein Deckel drauf geschweisst. In der Mitte des Körpers wurde ein Loch gebohrt. Dort konnte man den Sprengstoff – Schwarzpulver – einfüllen. Die Bombe wurde mit einer Zündschnur versehen. Bis das Feuer die Zündschnur abgelaufen hatte, war genügend Zeit sich in Sicherheit zu bringen. Eigentlich schien dieses Verfahren nicht sehr gefährlich.

Unser erstes Ziel war eine Bank in Tunesien. Der Ort im Westen des Landes lag strategisch günstig, weniger als eine Fahrstunde von der Grenze zu Algerien entfernt. Wir fuhren also mit unserem stabilen Geländefahrzeug durch die Wüstenlandschaft über die Grenze nach Tunesien, machten dort des Nachts den Job wie geplant und fuhren anschliessend mit ziemlich viel Geld in unserer Tasche völlig unbehelligt zurück nach Algerien. Wir benützten niemals Strassen, fuhren über Land durch die öde, unbewohnte Landschaft, liefen so nie Gefahr in einer Strassen- oder Zollkontrolle hängen zu bleiben.

Regelmässig folgten nun weitere Raubzüge immer nach demselben Muster. Nie kamen wir in Gefahr, dass man uns fassen konnte.

Wir führten die Bancomat-Sprengungen niemals in Algerien durch, sondern stets in den umliegenden Ländern: In Tunesien, in Marokko und Libyen. Dort nahmen die Behörden an, dass die Bancomat-Bande wohl von Algerien aus operieren würde und sie baten die Regierung von Algerien um Hilfe, die aber nie erfolgte. Wir blieben bis auf weiteres völlig unbehelligt. Die Sicherheitssysteme in diesen Ländern in Nordafrika sind schwach und unstabil, die Korruption gross. Länderübergreifende Kooperation ist in Afrika wenig verbreitet. Unsere Leute machten nie den Fehler, sich in diese grauen Bereiche des politischen Filzes einzuschleichen. Andererseits dachte die Politik in Algerien wahrscheinlich: Solange die nur Ziele im Ausland angreifen, berührt uns dies nicht!

In der Gruppe herrschte ein hartes Regime. Nach erfolgreichen Raubzügen wurde jedes Mitglied mit einem fairen Anteil ausbezahlt, auch mein Vater. Ich wurde diesbezüglich ignoriert, weil man mich nicht als Mitglied betrachtete, sondern im Gegenteil als eine Belastung.

Die Räuberkarriere zu beenden und sich zurückzuziehen, war nicht möglich. Wer aus Alters- oder Krankheitsgründen nicht mehr aktiv bei den Raubzügen mitmachen konnte, wurde nicht mehr bezahlt, durfte aber in der Gemeinschaft bleiben. Einmal türmte einer, der von Heimweh geplagt war. Er wurde gefangen und vor allen Kollegen erschossen. Dies war ein Signal, das jeder verstand.

Unsere Bande hatte irgendwann sehr viel Geld beisammen, sodass strategisch in grösseren Dimensionen gedacht werden konnte. Die Organisation kaufte ein grosses, ozeantaugliches Schnellboot, das ausgelegt war, weite Strecken zu überbrücken. Unser geländegängiges Auto hatten wir auf dem Boot stets dabei. Damit war der Grundstein gelegt unsere Tätigkeit in Richtung Europa auszuweiten. Mit der Folge, dass nun Bancomat-Installationen auf Sizilien, Sardinien, sowie auf der italienischen Halbinsel gesprengt wurden. Diese Verbrechen wurden nicht uns, sondern der italienischen Mafia angelastet. Die Europäer kamen nie auf die Idee, dass hinter diesen Aktionen Afrikaner stecken könnten. Wir waren mit gut gefälschten Papieren unterwegs, die selbst modernen Scansystemen standgehalten hätten. Dies war jedenfalls die Ansicht meines Vaters. Wir mussten allerdings nie irgendwo Papiere vorweisen, kamen nie in eine entsprechende Kontrolle. Ich habe diese Papiere auch nie persönlich gesehen. Unser Auto war im Ausland stets mit einem einheimischen Kontrollschild versehen, um nicht aufzufallen. Selbstverständlich gefälscht.

Mein Vater versuchte mir stets mit viel Geduld und Einfühlungsvermögen die Vorgänge zu explizieren. Er schien offensichtlich zunehmend mehr zu ahnen, dass ich vielleicht gar nicht dumm sei, sondern nur infolge meiner Behinderungen eingeschränkt. Vaters Kollegen andererseits waren stets der Ansicht, dass ich nichts mitbekommen würde. Sie betrachteten mich, das taubstumme, fast blinde Kind, als Idioten, der weitgehend ignoriert und in der Gruppe

gemieden wurde. Dass sie so dachten, war mein Glück. Denn sonst wären meine Tage wohl gezählt gewesen.

Ich war stets bei allen Raubzügen dabei, weil mein Vater irgendwann zum Hauptmann aufgestiegen war und er mich weiterhin an seiner Seite haben wollte. Ich hatte nie in keiner Phase irgendeine Funktion, stand auch nie an vorderster Front. Dies schon nur aus der einfachen Überlegung heraus, weil mein Aussehen auffällig ist. Durch mich hätte man uns vielleicht identifizieren können. Und natürlich traute man mir ohnehin nichts zu wegen meinen Behinderungen.

Im Übrigen erklärte mir mein Vater, dass an dieser unserer Tätigkeit nichts Verwerfliches sei. Denn wem würden wir das Geld wegnehmen? Einer Bank! Einer anonymen Gesellschaft, die vielleicht ebenfalls durch Gaunerei so viel Kohle angehäuft habe. Und zudem seien Banken in den meisten Fällen versichert. Wir würden niemals Menschen schädigen.

Etwas später wurden sie grössenwahnsinnig, unsere Leute. Die Organisation kaufte ein Privatflugzeug. Wir flogen nach Deutschland, Frankreich, Schweiz, Österreich, landeten auf kleinen Privatflugplätzen, gaben uns als Geschäftsleute aus, kleideten uns entsprechend vornehm. Wir trugen Markenklamotten, weisse Hemden und Krawatten. Mein Vater legte Wert darauf, dass sich die Männer stets wuschen, rasierten und die Haare geschnitten waren. Nach jeder Bancomat-Sprengung waren wir eine Stunde später schon wieder in der Luft auf dem Weg zurück zu unserer Basis, oder an einen anderen Ort, der ausersehen war für unseren nächsten Coup. Um von den offiziellen Luftüberwachungssystemen nicht erfasst zu werden, flog unser Pilot möglichst niedrig über Boden, beziehungsweise über Wasser. Das schien gefährlich, war es aber

vielleicht nicht so sehr, denn der Mann war ein Könner, der sich stets gut vorbereitete.

Bei einer Aktion war es uns – meinem Vater und mir – nicht möglich uns aktiv zu beteiligen, weil ich Fieber hatte und ich mich krank fühlte. Es war unser Glück. Denn dieses Mal kehrte das Flugzeug nicht mehr zurück. Wahrscheinlich fiel die Maschine mit unseren Leuten an Bord ins Meer, wurde abgeschossen oder hatte ein technisches Problem. Das Unglück wurde nirgends vermeldet oder vermerkt. Dies berichtete mein Vater, nachdem er tagelang am Radio gehangen hatte, um vielleicht etwas zu erfahren.

Von unserer Räuberbande in Algerien waren genau vier Mann übriggeblieben: Mein Vater und ich, sowie zwei Seniorgangster, die bei uns das Gnadenbrot fristeten. Die beiden waren Franzosen mit gleichem Namen: Jean.

Die richtige Entscheidung wäre nun gewesen unserem Treiben sofort ein Ende zu setzen. Geld wäre genug vorhanden gewesen. Aber mein Vater hatte einen gewissen Berufsstolz entwickelt. Immer vorausgesetzt, dass man Gangstertum als Beruf bezeichnen kann. Der Vater war dagegen auf diese unrühmliche Weise von heute auf morgen die Segel zu streichen. Er blies zu einem letzten Halali. Wir übrig gebliebenen drei Männer und ich, dem Kind, begaben uns nach Europa, kauften ein Wohnmobil, fuhren damit über Land. Wir glaubten auf diese Weise autonom und beweglich zu sein. Und unauffällig. Damit liessen wir keine Spuren durch Hotelübernachtungen zurück. Niemals bezahlten wir mit einer Kreditkarte, alles bar. Wir fuhren nie auf Hauptstrassen, sondern nur auf unbedeutenden Nebenstrassen, weil es dort keine Überwachungskameras gibt. In der Nacht verbargen wir uns in abgelegenen Wäldern. Das Knacken der Bancomat-Systeme war für uns zur unaufgeregten Routine verkommen. Dennoch wurde in jedem Fall die Aktion minutiös

vorbereitet. Es gab nie ein Problem. Mein Vater war ein Genie im Organisieren, er achtete auf jede Kleinigkeit.

Einmal im Westen Österreichs testete der Vater einen neuen Sprengstoff. Er war auf der Suche nach einem Produkt, das weniger Explosionslärm entfachen sollte. Leider entwickelte sich dieser Vorgang zum Desaster, im Besonderen war er mein persönliches Verhängnis. In einem stillgelegten Steinbruch explodierte die Testbombe in den Händen des Vaters. Er war auf der Stelle tot. Die zwei Altgangster legten den toten Körper in ein halbiert aufgeschnittenes Ölfass, das dort herum gelegen war. Sie schütteten Benzin über die Leiche und verbrannten diese. Es war ein Höllenfeuer. Zurück blieben einige verkohlte Fragmente, die sie in einen Plastiksack schaufelten. Der Sack wurde mit einem schweren Stein beschwert, zugebunden und in einem grossen Fluss versenkt. Es war wohl der Rhein.

Übrig blieb auch ich: Der stumme, dumme Mohammed, der nun ohne Vater und Beschützer war. Die zwei Altganoven bedeuteten mir gestenreich, dass ich nun die Chance bekomme aus zwei Optionen eine zu wählen. Ernste Möglichkeit: Sie würden mich nun auf der Stelle töten, weil ich als weniger als ein Nichts nur störend sei für sie. Zweite Möglichkeit: Alternativ könne ich nun über die nahe Grenze von Österreich in die Schweiz spazieren, um dort als Asylant vielleicht Aufnahme zu finden.

Ich wählte Option zwei.

Also nahm ich eine letzte Mahlzeit ein und machte mich anschliessend auf den Weg ins Ungewisse. Ohne Papiere. Ohne Geld. Ohne Gepäck. Ich war plötzlich auf mich gestellt. Dies bereitete mir sehr grosse Angst und Sorge. Eigentlich konnte ich es mir nicht vorstellen, diese Situation überleben zu können.

Ich tastete mich vorsichtig vor, setzte meine Schritte behutsam, um nicht zu straucheln. Bis ich den Schweizer Grenzwächtern in die Hände fiel, was mich bis ins Mark erschreckte, fast zu Tode ängstigte, aber letztlich mein Glück war.

Den Rest kennt ihr!

Nun herrschte völlige Stille in der Stube des Ferienhäuschens. Es war dunkel geworden und niemand hatte ein auch nur entferntes Bedürfnis das Licht anzuknipsen.

Endlich sagte Pia Meier tonlos: «Eigentlich hast du uns somit die ganze Zeit hintergangen!»

Albino antwortete zögerlich: «Ja und Nein!»

Meinrad Meier war nun richtig wütend: «Erkläre uns das Nein, bitte!»

«Ihr habt zu begreifen, wie meine damalige Situation war! Ich war ein behindertes Kind im Niemandsland, das auf sich allein gestellt war, dem bewusst war, ohne Hilfe nicht überleben zu können. Ich konnte nicht sprechen und schlecht sehen. Ich konnte weder lesen, noch konnte ich schreiben. Ich hatte keine mathematischen Kenntnisse. Ich hatte kein Wissen, keine Allgemeinbildung. Ich konnte nicht mal Fahrradfahren. Generell hatte ich vom richtigen Leben keine Ahnung. Ich war umständehalber in höchste Not gelangt, fürchtete um mein Leben. Ich musste gerettet werden! Ich hatte eure Hilfe, eure Zuwendung bitter nötig! Ich lernte von euch nicht nur, wie das echte Leben funktioniert, sondern ihr habt mir beigebracht, wie wichtig Sozialkompetenz ist, was Rücksicht, Nächstenliebe, Verzicht, Hingabe und Familie bedeutet. Ich habe gelernt, dass es einen Gott gibt, der immer auf uns schaut, der einen jeden von uns liebt. Ich habe auch begriffen, dass Geld wenig bedeutet, eigentlich gar nichts! Ich weiss heute, dass es viel wichtigere Dinge gibt im Leben!»

Stille.

Schliesslich drang die Stimme von Pia Meier durch die Dunkelheit: «Dann erkläre uns nun bitte auch das Ja!»

«Obwohl ich nichts hören konnte und wenig sehen, war ich gewiss nicht so arglos wie ich mich meistens und aus Prinzip Fremden gegenüber gab. Diese Rolle zu spielen war aber notwendig, um glaubwürdig zu wirken. Es war notwendig meine Bedürftigkeit mit all meinen Einschränkungen darzustellen. Ich musste verhindern von den Schweizer Behörden gleich wieder abgeschoben zu werden. – Bitte überlegt: Wohin hätte ich bei einer Abschiebung gehen sollen? Es fiel mir auch nicht schwer die Rolle des Nixverstan zu spielen, habe ich ihn doch alle meine Lebensjahre zuvor schon erfolgreich dargestellt!»

Nun meldete sich Ladina zu Wort. «Erklär uns den Hintergrund mit dem Sprengstoffanschlag auf den Sonnenhügel!»

Albino, dessen Name eigentlich Mohammed war, wie die Geschichte lehrte, zögerte lange mit einer Antwort. «Ich weiss nichts darüber. Doch es ist anzunehmen, dass der Anschlag von meinen früheren französischen Räuberkollegen Jean und Jean durchgeführt wurde und nur mir gelten konnte. Sie bereuten offensichtlich im Nachhinein, dass sie mich laufen gelassen hatten. Sie wollten mich beseitigen! Sie hatten wohl Angst, dass ich plaudern würde und dass man sie in der Folge suchen würde! - Und wie man unschwer sieht, sind oder waren diese Bedenken nicht unberechtigt!»

«Hast du Angst, noch immer im Visier dieser deiner ehemaligen Kollegen zu sein?»

«Nein, überhaupt nicht! Die sind wohl über alle Berge! Vielleicht aber sitzen sie zwischenzeitlich schon in einem Gefängnis. Denn eigentlich waren sie zu dumm, um ohne straffe Führung das Richtige zu tun! Als Beispiel: Dieser Anschlag auf den Sonnenhügel war falsch, falsch, falsch!»

Wieder entstand eine lange Pause, während der Selina nun endlich das elektrische Licht anknipste. «Komm, gehen wir zusammen Pizza essen!»

Albino fragte: «Fürchtet ihr euch jetzt vor mir wegen meiner Vergangenheit?»

Pia antwortete: «Im Gegenteil. Ich denke, dass du grosses Vertrauen zu uns zeigst, sonst hättest du uns deine Lebensgeschichte nicht erzählt. Du warst ja in keiner Weise unter Druck dein sonderbares, vor allem schreckliches Leben vor uns auszubreiten!»

«Doch das war ich!»

«Inwiefern?»

«Ich konnte die Unehrlichkeit euch gegenüber nicht mehr länger ertragen. Ich musste die Wahrheit loswerden! Ihr seid doch meine Familie! Ihr habt mir Vertrauen geschenkt. Also war ich doch in der Verpflichtung auch Vertrauen zurückzugeben!»

Meinrads unmittelbarer Ärger hatte sich zwischenzeitlich etwas abgekühlt. «Die grosse Prüfung steht noch bevor!»

«Und die wäre?»

«Wir müssen entscheiden, wie es weitergehen soll. Vor allem du, Albino, musst diese Entscheidung treffen. Denn es ist dein Leben! Die Frage lautet: Bist du auch bereit, diese deine Geschichte den Behörden zu erzählen? – Halten wir uns vor Augen, was passierte! Man wollte dich mit einer Bombe beseitigen. Das Leben hat aber ein anderer, ein Unschuldiger verloren. Du wurdest schwer verletzt. Das Haus Sonnenhügel wurde arg beschädigt, es entstand grosser Sachschaden. Gegen zwei Dutzend Menschen verloren ihren Job, weil das Asylantenbetreuungsheim schliessen musste. Die Kriminalpolizei sucht noch immer nach den Urhebern des Anschlags. Es ist ihre Pflicht dies zu tun! – Du wärst vielleicht in der Lage der Polizei mit entsprechenden Hinweisen unter die Arme zu greifen! Wenn du schweigst, wird der Fall vielleicht nie aufgedeckt werden! Wenn du redest, besteht grosse Gefahr, dass du in die Mühlen der Justiz gerätst und du nicht unbeschädigt daraus hervorgehen wirst. Was sehr schädlich für dich sein könnte!»

«Kein Pappenstiel!»

«Alles andere als ein Pappenstiel!»

Nach einer weiteren langen Pause sagte Meinrad: «Erklär mir den Grund deines unmöglichen Verhaltens in den ersten Stunden in unserem Haus Sonnenhügel. - Passt eigentlich gar nicht zu dir!»

«Ich bin ehrlich: Ich schäme mich heute noch deswegen!»

«Du hast wohl allen Grund dazu!»

«Erklärbar ist das wie folgt: Ich war vierzehn, ein kleiner, unreifer, nicht ausgebackener Trottel. Ich hatte ein Leben voller Ausgrenzung, Erniedrigung, Geringschätzung hinter mir. Ich wurde in jeglicher Phase meines Lebens zurückgesetzt, ignoriert, nicht wahrgenommen. Nie war es mir möglich zu beweisen, eigentlich in der Lage zu sein, auch etwas zu leisten. Ich war ohne jegliches Selbstvertrauen. Beim Start in dieses neue Leben, das im Sonnenhügel seinen Anfang nahm, hatte ich einen Plan, nämlich künftig nicht mehr hintenan stehen zu wollen, mich nicht mehr zurückdrängen zu lassen, sondern fürs erste einmal aufzufallen, selbst wenn dies negativ sein sollte! - Es war mein linkischer Versuch mit allen Mitteln auf mich aufmerksam zu machen! – Ich bitte dich um Entschuldigung, Pia!»

Pia und die Mädchen lachten.

Meinrad sprach: «Was Albino sagte, ist in keiner Weise zum Lachen. Es ist eine ernste Sache, wenn ein Mensch gezwungen ist, sich auf diese Weise Aufmerksamkeit zu verschaffen! Es ist ein gutes Beispiel, das uns zeigt, dass es unsere Pflicht ist, bei jedem Menschen, der bei uns eintritt, sehr hellhörig, sehr sensibel zu sein! Wir sollten in unserem Gegenüber niemals den Migranten, den Bittsteller sehen, sondern uns stets den Menschen in seiner Not vor Augen halten!»

Selina erhob sich. «Jetzt habe ich Hunger, Lust eine Pizza zu essen! Gehen wir!»

Ein Migrant ohne Namen

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