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b) Die Rolle der Affekte für das menschliche Handeln

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Menschliches Handeln ist, wie in den vorausgegangenen Abschnitten erwähnt, durch ‘Vernunftbestimmtheit und Willentlichkeit’ ausgezeichnet; mittels seiner höchsten Seelenvermögen, Vernunft und Wille, verwirklicht der Mensch sein ‘Gut’ (»bonum hominis«).122 Bislang ist auf die Bedeutung, die dem ‘niederen-sinnlichen Strebevermögen’ (»appetitus inferior; appetitus sensitivus«) bei dem Aufbau der menschlichen Handlung zukommt, nur am Rande eingegangen worden.123 Weit ausführlicher als noch im Frühwerk124 wendet sich Thomas der Frage nach der Bedeutung des sinnlichen Strebevermögens in der insgesamt 26 Quästionen umfassenden Lehre von den menschlichen Affekten bzw. Leidenschaften zu (qu. 22-48).125 In dieser sich durch einen ‘Reichtum an phänomenologischer Beobachtung’126 auszeichnenden Analyse des psychischen Affektpotentials macht Thomas deutlich: Auch und gerade menschliches Handeln gründet in den autonomen bzw. irrationalen psychischen Antrieben der Liebe (»amor«) und des Hasses (»odium«), der Sehnsucht (»desiderium«) und der Flucht (»fuga«), der Freude (»delectatio«) und der Traurigkeit (»tristitia«), der Hoffnung (»spes«) und der Verzweiflung (»desperatio«), der Furcht (»timor«) und der Kühnheit (»audacia«) und des Zornes (»ira«). Diese elf den Menschen mit den Tieren gemeinsamen127, in sich sittlich neutralen128 Affekte nennt Thomas »passiones«. Der Begriff »passio« legt vom Wortsinn her die durch ein ‘Erleiden’ (»pati«) von etwas ‘Schlechtem’ hervorgerufene körperlich-seelische Veränderung (»transmutatio corporalis«) nahe.129 Doch bezeichnet der Begriff »passio« nach Thomas jedwede Gemütsbewegung, also auch diejenigen Affekte, die mit vornehmlich positiven Konnotationen belegt sind, wie etwa die Freude oder die Liebe. Da die »passiones« gewissermaßen innerpsychische Reaktionen auf die (‘äußere’) Gegenstandswelt (wozu natürlich auch ‘ideale’ Gegenstände bzw. Güter gehören) sind, unterscheidet Thomas zwei Vermögen der »sensualitas«: den »appetitus concupiscibilis« und den »appetitus irascibilis«. Dem »appetitus concupiscibilis« gehören diejenigen Affekte an, die sich direkt auf den sie evozierenden Gegenstand beziehen, wie die Liebe (»amor«), die Sehnsucht (»desiderium«), die Freude (»delectatio«) einerseits und der Hass (»odium«), die Flucht (»fuga«) und die Traurigkeit (»tristitia«) andererseits. Demgegenüber sind dem »appetitus irascibilis« diejenigen »passiones« zugehörig, die sich auf ein schwer erreichbares ‘Gut’ bzw. auf ein nicht leicht vermeidbares ‘Übel’ beziehen, wie die Hoffnung (»spes«), die Verzweiflung (»desperatio«), die Furcht (»timor«), die Kühnheit (»audacia«) und der Zorn (»ira«).130 Die letztgenannten komplexeren, auf die Überwindung von Widerständen abzielenden Affekte des ‘irasziblen’ Strebevermögens haben hinsichtlich der ‘konkupisziblen’ »passiones« eine Schutz- bzw. Abwehrfunktion.131 Von diesen nehmen die irasziblen Affekte ihren Ausgang, und in sie münden sie zurück132

Wenn man die Entstehung der einen »passio« aus der anderen nachzeichnen will bzw. - in scholastischer Terminologie gesprochen - den »ordo consecutionis« oder die »via generationis« der einzelnen Affekte nach-denkt, muß von der Liebe (»amor«) ausgegangen werden.133 Denn alle Affekte haben ihren Ursprung in der Liebe, die darum die erste »passio« des konkupisziblen Strebevermögens genannt wird. Aus der Liebe, die Thomas als affektive Einigung134, als das Gefühl einer Entsprechung (»proportio«) bzw. der Hingeordnetheit (»aptitudo«) auf ein diese Liebe provozierendes ‘Gut’ oder gar als ‘Wohlgefallen’ (»complacentia«) an diesem beschreiben kann, entspringt die Sehnsucht (»desiderium«), die ihrerseits, sobald das geliebte ‘Gut’ erreicht ist, in die Freude (»delectatio«) mündet.135 Erweist sich aber ein ‘geliebtes Gut’ als schwer erreichbar oder zukünftig, wird es zum Objekt der Hoffnung (bzw., falls unerreichbar, zum Objekt der Verzweiflung; »desperatio«). Da in der Hoffnung (»spes«) die Erlangung eines (schwer erreichbaren) ‘hohen Gutes’ (»bonum arduum«) für möglich gehalten wird, ist sie ihrerseits die erste »passio« des ‘irasziblen’ Strebevermögens.136 Wie die Hoffnung münden auch die anderen ‘irasziblen’ Affekte in die Freude bzw. in die Traurigkeit.137

Wie aber verhält sich das psychische Affektpotential zu der zuvor138 betonten Vernunftbestimmtheit menschlichen Handelns? Thomas ist zwar der Auffassung, daß Affekte sich verselbständigen, die Vernunft und Willen beeinträchtigen, ja sogar gänzlich ausschalten können, so daß eine Handlung ganz oder teilweise ‘unwillentlich’ werden kann139, doch sieht er die »passiones« grundsätzlich auf die Vernunft hingeordnet.140 “Sie sind naturale Güter, die als dynamisierende Potenzen dem Menschen mitgegeben sind und durch seine freie Verfügung der Entfaltung äußersten menschlichen Seinkönnens dienstbar gemacht werden können und sollen.”141 Obgleich sie ‘an sich’ sittlich neutral sind, haben sie dennoch dadurch sittliche Relevanz, daß sie der Vernunft unterstehen bzw. von ihr gelenkt werden können.142 So heißen Affekte ‘gut’, wenn sie vernunftgemäß sind (»secundum rationem«), und ‘schlecht’, wenn sie der Vernunft entgegenstehen (»praeter rationem«).143 Es zeigt sich, daß auch in der Affekte-Lehre die Vorrangstellung der Vernunft betont wird, indem auf die nur dem Menschen gegebene Möglichkeit der Durchdringung der Affekte durch die Vernunft hingewiesen wird. Doch bedeutet das umgekehrt nicht, daß die thomanische Lehre von den menschlichen Leidenschaften einseitig rationalistisch oder leibfeindlich zu interpretieren wäre. Thomas ist zwar der Auffassung, daß der Mensch um so vollkommener ist, je mehr sich sein höchstes, ihn auszeichnendes ‘Gut’, die Vernunft, in den Antriebskräften menschlichen Handelns auswirkt.144 Ebenso sehr wird jedoch betont, daß in einer starken Leidenschaftlichkeit ein Zeichen für die Stärke des menschlichen Willens zu sehen ist145 bzw. daß der Mangel an Leidenschaftlichkeit (»vitium insensibilitatis«146) sogar eine Sünde sein kann. So wird die Bedeutung der psychischen Antriebskräfte nicht nivelliert, wenn Thomas die Vollendung der menschlichen Seelenkräfte in einem harmonischen Ineinandergreifen von niederem und höherem Seelenvermögen verwirklicht sieht.147

Das Ineinandergreifen von niederem und höherem Seelenvermögen bedarf jedoch nach Thomas noch einer weiteren ‘anthropologischen Vermittlung’: Da die Affekte der Vernunft gehorchen bzw. von ihr geleitet werden können, sind sie prinzipiell auch für eine bestimmte Disponierung offen.148 Auf die Art und Weise, wie die am Aufbau des menschlichen Handelns beteiligten Seelenpotenzen (die Affekte, Vernunft und Wille) disponiert bzw. vollendet werden können, greift Thomas vor, indem er neben Vernunft und Wille auch die Affekte als Ansatzpunkte für ‘Tugenden’ bzw. als deren ‘Sitz’ oder ‘Träger’ (»subiectum«) bezeichnet.149 Mit dem somit schon in der Affekte-Lehre eingeführten ‘Tugend-Begriff’ und dem diesem vorausliegenden »habitus«-Begriff gelangt die Analyse der thomanischen Ethik zu ihren Schlüsselbegriffen, die im Blick- und Mittelpunkt der Untersuchung der I-IIae (qu. 49-71) stehen und von da an die Argumentation der gesamten Secunda Pars bestimmen.

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