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b) Tugenden als ‘natürliche’ Vervollkommnungen der Seelenvermögen und als Verwirklichung der ‘natürlichen’ Glückseligkeit

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Was zu den »habitus« gesagt wurde, gilt gleichemaßen auch für die Tugenden.169 Auch eine Tugend (»virtus«) ist eine nur den Menschen170 aufgrund seines Verstandes- und Willensvermögens auszeichnende und durch vielfältige, gleichförmige Einzelakte171 angewöhnte Disposition172 eines Vermögens173, wodurch dieses Vermögen gegenüber einem bestimmten Objektfeld zu konstanten, gleichförmigen Tätigkeiten befähigt wird.174

Im Unterschied aber zu anderen »habitus« handelt es sich bei einer »virtus« immer um einen aufgrund eines guten Vernunfts- und Willensgebrauchs175 entstandenen ‘guten’ »habitus« (»habitus bonus«)176 und somit um eine Vervollkommnung eines Seelenvermögens (»perfectio potentiae«).177 Doch ist eine Tugend auch noch mehr als einfach nur ein Wechselbegriff für einen ‘guten’ »habitus« im Gegensatz etwa zu ‘schlechten’ »habitus« (Laster, schlechte Angewohnheiten, etc.). Sie ist nach Thomas gerade dadurch ausgezeichnet, daß sie nicht nur die ‘Befähigung zu einem guten Handeln’ (»facultas bene agendi«) verleiht, sondern sogar den tatsächlichen Gebrauch (»bonus usus«), die tatsächliche Verwirklichung der habituellen Disposition eines Vermögens garantiert178 und durch die Verwirklichung von guten Taten auch den Menschen als ganzen ‘gut’ macht.179 Zu diesem (in Anlehnung an Aristoteles180 gewonnenen) Verständnis des Tugendbegriffs gelangt Thomas vor dem Hintergrund folgender Überlegung: In erster Linie kennzeichnen die Tugenden das den Menschen auszeichnende rationale Strebevermögen, den Willen (»voluntas«). Weil der Wille, wie oben erwähnt181, alle Vermögen, die der Vernunft unterstehen, in ihren jeweiligen Tätigkeiten bedingt, ist die Verwirklichung eines guten Handelns in erster Linie auf einen ‘guten’ Willen zurückzuführen. Eine Tugend kann deshalb nur den Willen oder aber ein von diesem ‘abhängiges’ (also der Vernunft und dem vernunftgemäßen Willen unterstehendes) Vermögen vervollkommnen.182 Da nun aber an dem Aufbau der menschlichen Handlung neben dem Willen und dem (seinerseits in einen konkupisziblen und einen irasziblen Bereich unterteilten) sensitiven Strebevermögen auch der auf das Handeln bezogene Verstand (»intellectus practicus«) beteiligt ist, werden alle diese genannten Vermögen durch Tugenden vervollkommnet, die dadurch die ‘Rechtheit’ menschlichen Strebens und Handelns garantieren und verwirklichen. Die die Rechtheit menschlichen Handelns nicht nur grundsätzlich ermöglichenden, sondern tatsächlich verwirklichenden Tugenden bezeichnet Thomas als moralische Tugenden (»virtutes morales«).183

Unter den moralischen Tugenden werden - sowohl nach formalen Gesichtspunkten als auch im Blick auf die zu vervollkommnenden Vermögen184 - vier sogenannte Kardinaltugenden hervorgehoben, da sie in besonderer Weise zur Verwirklichung eines ‘guten’ Strebens bzw. Handelns beitragen. An erster Stelle nennt Thomas die ‘Klugheit185 (»prudentia«), die den auf das Handeln bezogenen Verstand (»intellectus practicus«) vervollkommnet. Sie ist gewissermaßen ein ‘rechtes Handlungswissen’ (»recta ratio agibilium«), durch das ein Mensch sich zu seinen Handlungszielen in rechter Weise verhalten kann186, auf die er durch den ‘rechten’ Willen bzw. durch die Tugenden ausgerichtet ist. Die Klugheit wird als die ‘notwendigste’ Tugend bezeichnet, da sie die rechte ‘Wahl der dem Handlungsziel proportionierten Mittel’ (»electio eorum quae sunt ad finem«) gewährleistet und menschliches Handeln von unkontrollierter Leidenschaft oder triebhafter Impulsivität freihält.187 In der Tatsache, daß die Klugheit für die ‘Wahl der einem Handlungsziel proportionierten Mittel’ verantwortlich ist, liegt die Vorrangstellung der Klugheit unter den anderen Tugenden begründet. Denn da eine Tugend, um eine Tugend zu sein, auch ‘auswählen’ (»eligere«) muß und somit ein »habitus electivus« ist, kann es ohne die Klugheit überhaupt keine andere Tugend geben.188 Umgekehrt ist ebenso richtig, daß sich die Klugheit und die moralischen Tugenden wechselseitig voraussetzen. So ist die Klugheit von den anderen Tugenden abhängig, weil diese der Klugheit die Handlungsziele vorstellen, durch welche die ‘Wahl der Mittel’ ermöglicht wird.189 Genau diese Einsicht in die beschriebene wechselseitige Abhängigkeit zwischen der Klugheit und den anderen moralischen Tugenden ist es, die Thomas dazu veranlaßt, eine grundsätzliche Verbindung der moralischen Tugenden untereinander anzunehmen.190 Denn wenn einerseits eine einzelne Tugend nur dann eine Tugend ist, wenn sie mit der Klugheit einhergeht, und wenn auf der anderen Seite die Klugheit ihrerseits nur dann vollkommen ist, wenn ihr durch die moralischen Tugenden die Handlungsziele gewärtig werden, dann kann es im strengen Sinne gar keine isolierte Tugend, sondern vielmehr alle moralischen Tugenden nur gemeinsam geben, die zusammen den Menschen ‘gut’ machen und als isolierte Einzeltugenden des Tugendcharakters ermangeln.191 So ist z.B. auch der keuscheste Mensch nur dann keusch im Sinne der Tugend, wenn diese Keuschheit nicht eine isolierte und somit äußerliche Haltungsvorprägung ist, sondern wo sie Ausdruck und integrativer Bestandteil einer allgemein den Menschen durchwirkenden Sittlichkeit, Tugendhaftigkeit und Menschlichkeit ist. Tugend, darin stimmen Thomas und Aristoteles überein, kann es nur in einem ‘tugendhaften’ Menschen geben, in dem sich Klugheit und die anderen moralischen Tugenden wechselseitig bedingen.

Wegen der beschriebenen Vorrangstellung kommt vor allem der Klugheit die Bezeichnung Kardinaltugend zu. Ebenso werden auch die Haupttugenden der anderen beiden - neben dem »intellectus practicus« - am Aufbau der menschlichen Handlung beteiligten Vermögen (das ‘rationale’ Strebevermögen bzw. der Wille und das ‘sensitive’ Strebevermögen) zu den Kardinaltugenden gezählt. Weil sich die Rechtheit menschlichen Handelns in einem vernunftgemäßen Streben bzw. In willentlichen Tätigkeiten zeigt, ist nach der Klugheit zuerst die den Willen vervollkommnende Tugend der ‘Gerechtigkeit192 zu nennen, die nach Thomas ihrerseits alle anderen moralischen Tugenden insofern übertrifft, als sie mehr als die anderen vernunftgeleitet ist.193 Die Gerechtigkeit leitet menschliches Handeln allgemein unter dem Gesichtspunkt des ‘Gerechten’ und ‘Geschuldeten’. So ist sie vor allem die Tugend des menschlichen Miteinanders und der zwischenmenschlichen Beziehungen, die durch einen ‘gerechten’ Ausgleich und ‘gerechten’ Austausch entstehen und erhalten werden.194 Weil aber alle Handlungen nicht eben nur einen Bezug zum Handelnden selbst, sondern zugleich auch einen ‘Außenbezug’ zu etwas anderem haben, zu dem sie nun entweder in einem ‘rechten’ Verhältnis oder in einem Mißverhältnis stehen, hängen sie (mitsamt den diesen zugrundeliegenden moralischen Tugenden) von der Tugend der Gerechtigkeit ab.195 Je nachdem, in welchen Beziehungen sich das ‘Gerechte’ verwirklichen soll, werden bestimmte, der Leittugend der Gerechtigkeit zugehörige Tugenden unterschieden: etwa die Tugend der Religion, in der das Gerechte Gott gegenüber sich verwirklicht, oder die Tugend der ‘Ehrfurcht’ gegenüber Eltern und dem Vaterland, etc.196

Die Vernunftgemäßheit und Rechtheit menschlichen Strebens verwirklicht sich in ‘nach außen’ bzw. ‘auf andere’ gerichteten Handlungen (»in operationibus ad alterum«), bedarf aber auch notwendig der ‘Richtigkeit’ des sensitiven Strebevermögens (Affekte; »passiones«). Aus diesem Grund zählen auch die die menschlichen Affekte in einer vernunftgemäßen Mitte haltenden und sie auf das »bonum rationis« ausrichtenden Tugenden der ‘Tapferkeit’ (»fortitudo«) und der ‘Maßhaftigkeit’ (»temperantia«) zu den Kardinaltugenden. Die Maßhaftigkeit hält die konkupisziblen Affekte (»amor, desiderium, delectatio, odium, ira, tristitia«) in gewissen Schranken und in einer vernunftgemäßen Mitte, um so ein ‘rechtes’ Handeln - gewissermaßen von innen her - zu ermöglichen. Ebenso ermöglicht auch die Tugend der Tapferkeit hinsichtlich der irasziblen Affekte der Furcht (»timor«) und der Kühnheit (»audacia«) eine ‘Rechtheit menschlichen Handelns’, indem sie ebenfalls eine regulative Funktion ausübt und eine ‘rechte’ Mitte zwischen diesen sich auf ein ‘widerstrebendes’ Gut beziehenden Affekte garantiert. Da es zur Verwirklichung der Tapferkeit mehr der Vernunft bedarf als bei der Maßhaftigkeit und die Tapferkeit so in höherer Weise auf das »bonum rationis« durchsichtig ist, darum geht in der thomanischen ‘Tugend-Hierarchie’ die Tapferkeit der Maßhaftigkeit voran.

Mittels aller moralischen Tugenden und im besonderen durch die Leittugenden der praktischen Vernunft (Klugheit) und des sensitiven und intellektiven Strebevermögens (Maßhaftigkeit, Tapferkeit und Gerechtigkeit) verwirklicht der Mensch die spezifisch menschlichen Handlungsziele. Als feste Handlungsvorprägungen zum ‘Guten’ garantieren die Tugenden konstante und prompte197, der Vernunft gemäße Tätigkeiten, so daß der Mensch insgesamt zu einem ‘guten’ Menschen wird. Spontaneität und nicht ein ‘Pathos mühevoller Angestrengtheit’ kennzeichnet die Aktuierung der Tugenden. Dies wird noch deutlicher, wenn man sich vergegenwärtigt198, daß die für das thomanische Tugendverständnis charakteristische Spontaneität mit einem gefühlsmäßigen Erleben gekoppelt ist; denn die Tugenden werden in sich als freude- und glückbringend erlebt.199 Mit Aristoteles ist auch Thomas der Auffassung, daß der Mensch in seiner Tugendhaftigkeit zugleich auch die spezifisch praktische Glückseligkeit verwirklicht200. Zusammen mit der Glückseligkeit, die dem Menschen in den intellektiven ‘Tugenden’ zuteil wird, ist somit das Gesamt der Glückseligkeit angesprochen, die der Mensch ‘aus sich’, ‘mit eigenen Kräften’ erreichen kann. Doch - wie nun bereits mehrfach angedeutet - steht diese Form der unvollkommenen Glückseligkeit (»beatitudo imperfecta«) ganz im Schatten derjenigen (vollkommenen) Glückseligkeit, die den menschlichen Handlungskräften unerreichbar201 und dennoch durch göttliche Hilfe (menschen-) möglich ist202.

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