Читать книгу Sammelband 4 Horst Bieber Krimis: Zeus an alle / Was bleibt ist das Verbrechen / Moosgrundmorde / Nachts sind alle Männer grau - Horst Bieber - Страница 24

9.

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Der Knopfdruck hatte nicht nur eine Aktion ausgelöst, sondern anscheinend auch eine Schleuse geöffnet. Als Holm in sein Zimmer zurückschlich, überflutete ihn die Müdigkeit in riesigen Wellen. Mit drei, vier Stunden Schlaf pro Nacht kam er einfach nicht mehr aus. Auf dem Gang begegnete ihm Cordula Matthies. Ihr bedrücktes Gesicht hellte sich auf: «Herr Holm, haben Sie mal fünf Minuten für mich?»

«Muss das sein?» Er meinte es nicht böse, er war einfach erschlagen, und offenbar verstand sie das. «Nein, es muss nicht. Aber es wäre ... ich brauche Ihre Hilfe.»

«Dann kommen Sie mal mit.» Noch eine Premiere.

In seinem Zimmer betrachtete sie ihn mitfühlend: «Sie sehen schlecht aus.»

«Mir fehlen ein paar Stunden Schlaf.»

«So, wie Sie gähnen, eher ein paar Tage.»

«Was haben Sie auf dem Herzen?»

«Ich komme nicht weiter. Stolle übrigens auch nicht. Waldeck hat mich heute sehr unfreundlich angetönt ...»

«Sie kennen ihn doch!»

«Sicher. Aber können Sie sich vorstellen, vor wem ich mittlerweile richtig Angst habe? - Vor dieser Wendel!»

«Wieso denn das?» Er goss Kaffee ein und rechnete müßig nach, die wie vielte Tasse es heute sein mochte.

«Sie steht jeden Tag bei mir auf der Matte, schimpft, droht, flucht, beleidigt mich, führt sich auf wie ... wie ... Herr Rat, ich verliere bald die Beherrschung und scheuere ihr ein paar Ohrfeigen, aber welche von der besseren Sorte.»

Um sie zu beruhigen, lachte er, obwohl ihm nicht danach zumute war. Ingeborg Wendel war ihm noch in schlechter Erinnerung, und er schätzte die Oberkommissarin Matthies richtig ein. Es war nur eine Frage der Zeit, wann die beiden Frauen aufeinander losgingen, und Kollegin Cordula würde den Kürzeren ziehen. Nur - wie er ihr Temperament erlebt hatte, würde sie auch diese Einsicht nicht an Handgreiflichkeiten hindern.

«Und noch was, Herr Holm: Stolle dreht durch.»

Die Müdigkeit lähmte ihn regelrecht, er musste sich zu einer Entscheidung zwingen: «Ich hab jetzt noch was zu erledigen. Aber ich brauche alle Berichte vom Waldsaum und Ebertdamm - nein, Stolle soll davon nichts erfahren.» Ihre Augenbrauen wuchsen in die Höhe. «Und ein paar Exemplare von dieser Zeichnung, Sie wissen schon.»

«Geht in Ordnung.» Erleichtert wirbelte sie zur Tür, blieb dort einen Moment stehen und sagte ernsthaft: «Vielen Dank.»

Das war nun die dritte Premiere des Abends.

*


ZWISCHEN ACHTZEHN UND zwanzig Uhr trieb sich Wello in einem Billard-Salon herum, wo er Anfänger leimte, die sich nicht vorstellen konnten, dass dieser Winzling mit den zitternden Händen überhaupt je eine Kugel treffen würde. Bei den ersten Spielen stellte sich Wello unnachahmlich tölpelhaft an, jeder fürchtete für das grüne Tuch, aber sobald es um Geld ging, verbesserte er sich merkwürdigerweise, selbst erstaunt, völlig verblüfft von seinem Glück, lachend, kichernd, vor Begeisterung über seine eigenen Füße stolpernd. Dabei stellte er sich so geschickt an, dass gut die Hälfte der Hereingelegten fest davon überzeugt war, Wello habe eben unverschämtes Glück gehabt. Die andere Hälfte schwankte, ob sie einen so kleinen Mann verprügeln sollte, der ständig hüstelte und sich räusperte. Chronisch heiser war er nach einer Schlägerei im Gefängnis, die nie aufgeklärt worden war. Auch Wello blieb nach seiner Kehlkopf-Operation stur bei seiner ersten Aussage, es sei dunkel gewesen, er habe seine Angreifer nicht erkannt.

Holm wartete, bis Wello ihn gesehen hatte, setzte sich dann in sein Auto und war eingeschlafen, als Wello endlich auf den Beifahrersitz hüpfte. Es kostete Überwindung, den Motor anzulassen und loszufahren.

«Lange nicht mehr gesehen, Herr Rat.»

«Nee, Wello. Aber jetzt gibt’s Arbeit. Waldsaum und Ebertdamm.»

«Nein, nein, nein!» Der Kleine hob entsetzt die Hände. «Nicht die geringste Ahnung, ehrlich, großes Ehrenwort.»

«Wello, wir haben eine Kollegin verloren.»

«Weiß ich, weiß ich doch, Herr Rat.»

«Ein Tausender für jeden vernünftigen Tipp!»

«Waa...ss?» Wello verschluckte sich. Normalerweise feilschte er mit der Polizei um Hunderter, und in zwei von drei Fällen musste er sich mit einem Fünfziger begnügen. «Das ist ja ...»

«Es wird Ernst, Wello.»

«Das merke ich.» Er räusperte eine ganze Arie und starrte aus dem Fenster. Zwei Seelen kämpften in seiner Brust, Geldgier und Vorsicht, die in seinem Nebengewerbe verdammt angebracht war. Holm war sofort von der belebten Hauptstraße abgebogen, Wello durfte nicht mit ihm zusammen gesehen werden. In den Seitenstraßen staute sich die Wärme, alle Fenster und Balkontüren standen offen, Sonnenstrahlen schienen durch dünne Sommerkleidchen, Männer zeigten stolz die Bräune, die sie im Urlaub für viel Geld erworben hatten. Holm erinnerte sich: Heute hatte die Schule wieder angefangen.

«Sie wissen, dass ich Ihnen immer gern helfe, Herr Rat. Aber in diesem Fall ...»

«Was wird denn so geredet?»

«Gar nichts. Überhaupt nichts. Keiner weiß was. Die waren nicht von hier.»

Absichtlich ließ Holm eine Minute verstreichen. Er wusste, dass Wello auf zwei Schultern trug, anders hätte der Kleine auch nicht überleben können. Notgedrungen verkaufte er Informationen an beide Seiten. «Pass auf, Wello, da sind wir nicht so sicher. Die Täter stammen wohl nicht aus der Stadt, okay, das denken wir auch. Aber die haben mit Leuten zusammengearbeitet, die sich hier gut auskennen. Und von denen vermuten wir, dass sie hier immer noch sitzen. Kopf eingezogen, ganz still, völlig auf Tauchstation.»

«Soll das heißen ...?»

«Soll es, Wello. Wer ist abgetaucht?»

«Das kann man doch gar nicht sagen. Die Schulferien ...»

«Weiß ich. Aber die Ferien sind vorbei. Wer ist nicht wieder da? Wer markiert den toten Mann?»

Wello musste sich erst wieder heftig räuspern, was Holm mächtig auf die Nerven ging. «Ich hör mich um. Aber ich brauche ein paar Tage.»

«Geht in Ordnung. Und noch eins, Wello: Wir mögen es gar nicht, wenn Polizistinnen erschossen werden.»

«Mann Gottes», krächzte Wello. «Meinen Sie, das wüsste ich nicht? Die ganze Kripo zieht durch die Stadt, als wollen sie jeden Moment eine Schlägerei anfangen.»

«Oder eine Schießerei, Wello. Die Vorschriften über den Gebrauch der Schusswaffe sind dehnbar, vergiss das nicht. Also, bis dann mal!» Der Kleine raste aus dem Auto, als sei der Leibhaftige hinter ihm her. Holm hatte ihm genug erzählt, um damit ein paar Scheinchen zu verdienen, und Wello würde schon dafür sorgen, dass die Neuigkeit die Runde machte: Eine zu allem entschlossene Kripo ließ nicht locker und tauchte nach U-Booten. Holm glaubte zwar nicht, dass viel dabei herauskommen würde. Aber sie mussten Staub aufwirbeln, damit keiner ihrer gewiefteren Kunden misstrauisch zu fragen begann, wieso die Kripo so ruhig blieb.

Zu Hause stellte er den Wecker und war eingeschlafen, sobald er sich hingelegt hatte. Als das widerliche Pfeifen ihn hochriss, konnte er nicht glauben, dass zwei Stunden vergangen waren. Voller Ekel betrachtete er die Akten und beschloss, sie morgen zum Frühstück zu lesen, holte sich das «Tageblatt» und suchte im Impressum die Telefonnummer der Redaktion.

Zum Chefredakteur vorzudringen war gar nicht so einfach, und Duhmen stellte sich auch ziemlich unwillig ein: «Duhmen.»

«Guten Abend, Herr Duhmen. Hier spricht Arno Holm.» Und weil der Riese nicht sofort antwortete, setzte er griesgrämig hinzu: «Der altmodische Bulle.»

«Dann schüttele ich ihm die Hufe. Guten Abend, Herr Holm. Das ist ja ’ne Überraschung.»

«Hoffentlich eine erfreuliche, Herr Duhmen. Ich brauche nämlich Ihre Hilfe.»

«So? Und wofür?»

«Irgendein vernünftiger Mensch muss Ingeborg Wendel stoppen, bevor sie im Präsidium ein Blutbad auslöst.»

Eine halbe Minute schnaufte, kollerte und blubberte es im Hörer, dann fragte Duhmen unerwartet sachlich: «Geht es um die Oberkommissarin Matthies?»

«In erster Linie, ja.»

«Und in zweiter Linie, verehrter Herr Kriminalrat?»

«Um die sehr naheliegende Reaktion beschimpfter Kollegen, doch noch einen bestimmten Namen an die Öffentlichkeit zu bringen.»

Duhmen kicherte anerkennend: «Den Lokalteil redigiere ich nicht, das stimmt.»

«Sie behindert inzwischen die Ermittlungen.»

«Haben Sie denn überhaupt eine Spur?»

«Nein. Wir können nur noch hoffen, dass uns die Wissenschaftler aus den wenigen Spuren etwas Hilfreiches herauslesen.»

«Ihre Pressestelle äußert sich sehr viel optimistischer.»

«Ich bin nicht für Public Relations zuständig, sondern für meine Leute.»

Wieder ertönten die seltsamen Geräusche, die wohl ein Lachen darstellen sollten: «Gut, ich weiß Ehrlichkeit zu schätzen. Das bleibt aber unter uns, weil es meinen schlechten Ruf ruinieren würde, und ich verspreche Ihnen, dass die liebe Ingeborg Ihre Leute nicht mehr belästigen wird. Allerdings kann ich Ihnen nicht zusichern, dass bei diesem Bremsmanöver Ihr Name außen vor bleibt.»

«Das verstehe ich, Herr Duhmen. Vielen Dank.»

«Keine Ursache, Herr Holm.»

*


HANS-WERNER BOCKEL entfaltete am Telefon seinen sprichwörtlichen Charme: «Weißt du Arsch eigentlich, wie spät es ist? Kannst du dir überhaupt noch vorstellen, dass ein armer Beamter seinen Lebensunterhalt mühsam verdienen muss, während couponschneidende Kretins so lange Karriere machen, bis sie keine Berichte mehr schreiben müssen und der Gefahr entrinnen, dass jemand ihre Legasthenie diagnostiziert? He, du?»

Holm lauschte freudig, hielt den Hörer weit weg und sagte mit schmachtender Stimme nach einer Minute: «Hans-Werner! Wie habe ich dich vermisst!»

Danach mussten, dem Ritual gemäß, noch einige Beleidigungen ausgetauscht werden, was glatt über die Bühne ging, und danach begannen sie eifrig zu klatschen, über Kollegen, Kunden und Kurse, die sie gemeinsam absolviert hatten. Endlich kam Holm zur Sache: «Ich möchte dir eine Zeichnung schicken, an deine Privatadresse. Wir haben nicht den geringsten Hinweis darauf, wer der Kerl ist.»

«Was liegt denn vor?»

«Bandeneinbruch. Eine Kollegin hat’s erwischt.»

«Der Fall! Ich hab’s gelesen.»

«Du hast doch sicher noch deine privaten Informanten. Bewege deinen faulen Arsch und höre dich etwas um!»

Bockel pfiff leise: «Wie soll ich das verstehen? Machst du eine Ermittlung auf eigene Faust?»

«Mehr oder minder. Es braucht niemand zu wissen, dass ich dich um diesen Gefallen gebeten habe.»

«Also unter der Hand sozusagen?»

«Sozusagen ja. Ich bitte dich sozusagen privat um einen Gefallen, Ha-We.»

«Wenn ich Erfolg habe, erfahre ich die ganze Geschichte?»

«Sofern ein Verkalkter deines Intelligenzquotienten noch in der Lage ist, zwei zusammenhängende Sätze zu begreifen – sicher.»

«Na, dann mal los, du Schandfleck unseres Berufsstandes. Ich werde die Frankfurter Unterwelt in Angst und Schrecken versetzen.»

«Bevor die dich gleich dabehält, grüße lieber deine Frau von mir.» Er telefonierte noch lange mit alten Bekannten und früheren Kollegen in München, Hamburg, Stuttgart, Köln. Alle arbeiteten sie in einer Behörde, hielten sich an die offiziellen Dienstwege und wussten gerade deswegen den Wert der kleinen Dienstwege, der privaten Beziehungen und Bekanntschaften zu würdigen. Und weil sie alle aus den Zeitungen, aus dem Radio oder Fernsehen vom Tod der Zivilfahnderin Christa Oldenberg erfahren hatten, begnügten sie sich ohne Protest mit seinem Versprechen, «später einmal» seine private Bitte zu erklären.

Elf Uhr. Er richtete die Briefe und überlegte, was er tun sollte, so faul, wie er sich fühlte, und gleichzeitig zu aufgekratzt, jetzt schon ins Bett zu gehen.

Warum war Stolle nicht auf die Idee gekommen, die Zeichnung in andere Städte zu schicken? War er so einfallslos? Gut, er stand unter dem Druck der Kollegen, die den Mörder der Christa Oldenberg fassen wollten, und solcher Druck konnte lähmen. Aber so blockiert konnte der erfahrene Hauptkommissar Stolle doch nicht sein. Oder hatte er schon versucht, mit der Zeichnung eine öffentliche Plakatfahndung zu beantragen? Normalerweise hätte sich Stolle den Antrag von ihm abzeichnen lassen müssen, aber wegen der SoKo war jetzt Waldeck für Holms Abteilung zuständig ... Er setzte sich gerade hin und starrte durch das Fenster in den dunklen Hof. Zum ersten Mal fiel ihm auf, wie wenig Licht um diese Zeit noch in den anderen Häusern brannte.

Beim Frühstück nahm er sich die Akten vor. Sie waren, das musste man Stolle und Cordula Matthies lassen, vorbildlich in Ordnung. Im Fall Ebertdamm - zum Nachteil Oldenberg - hatte sich keine heiße Spur ergeben. In den vier Häusern Nummer 127/133 waren fünf Wohnungen geöffnet worden, alle mit Nachschlüsseln oder Dietrichen, in keinem Fall mit Gewalt. In allen fünf Wohnungen hatten sich die Täter für zwei Gruppen von Wertgegenständen interessiert: Teppiche (insgesamt sieben wertvolle Stücke) und Gold, meistens Schmuck, außerdem Bargeld. Die einzige Ausnahme bildete das Löwenpärchen aus Murano-Glas.

Der Schluss lag nahe, dass die Täter vorher wussten, was sie wo finden würden. Logischerweise hatte Stolle deshalb die Bestohlenen veranlasst, Listen der Personen aufzustellen, die sich in den vergangenen sechs Monaten in den Wohnungen aufgehalten hatten. Aber nur in zwei Fällen gab es überhaupt Übereinstimmungen: ein Klempner, seit mehr als zehn Jahren für die Hausverwaltung tätig, hatte in zwei Wohnungen Reparaturen ausgeführt. Und in zwei anderen Wohnungen, deren Mieter befreundet waren, verkehrte ein drittes Ehepaar; die sechs Personen kannten sich seit Jahren. Sonst Fehlanzeige.

Holm seufzte. Nach dem Umfang der Akte zu schließen, waren Stolle und seine Leute unmenschlich fleißig gewesen.

Die Versicherungen hatten sich vor Eifer und Kooperationswilligkeit überschlagen. Viele Bilder und Beschreibungen der entwendeten Gegenstände lagen schon vor, andere wurden noch beschafft. Teppichklau war vergleichsweise selten, erforderte vor allem eine weitmaschige Organisation, um die Beute wieder abzusetzen, und aus diesem Grund hatte Stolle das Landeskriminalamt eingeschaltet.

Spielende Kinder hatten den zur Tat verwendeten Lieferwagen am vergangenen Samstag in einer leeren, halb zerfallenen Fabrikhalle in der Nähe des Güterbahnhofs Nord entdeckt. Er war zwei Tage vor der Einbruchsserie in Augsburg gestohlen und mit falschen Kennzeichen versehen worden. Die von den Zeugen beschriebenen Firmenschilder hatten wohl aus handelsüblichen selbstklebenden Folienbuchstaben bestanden; warum waren die entfernt worden? Feuchtigkeit in den Sitzen und Seifenreste wiesen daraufhin, dass die Täter den Wagen gründlich gereinigt hatten, und zwar mit Erfolg: Nicht ein Fingerabdruck, kein Haar, nicht einmal eine Teppichfaser im Laderaum. Sogar der Hallenboden war abgespritzt worden.

Die Tatwaffe war eine Neun-Millimeter-Pistole. Sie hatten drei ausgeworfene Hülsen, aber nur zwei völlig deformierte Kugeln gefunden. Die Bolzenabdrücke auf den Patronenböden reichten für eine zweifelsfreie Identifizierung nicht aus.

Zu den Tätern: Nach Abschluss aller Befragungen stand fest, dass es sich um vier Männer handelte. Nummer eins, Hans Jukisch, Juke genannt, einschlägig vorbestraft, wurde mit Haftbefehl gesucht. Von Nummer zwei besaßen sie eine ungewöhnlich gute Zeichnung. Außerdem gingen sie jetzt davon aus, dass Nummer zwei bei der Schießerei verletzt worden war. Aber trotz sofortiger Alarmierung der Ärzte und Krankenhäuser in der näheren Umgebung hatte es keine Rückmeldung gegeben, und die Zeugenaussagen ließen offen, ob Nummer zwei wirklich so schwer verwundet worden war, dass er ärztliche Hilfe benötigte. Möglich, dass er sich irgendwo verkroch, bis eine harmlose Fleischwunde von selbst verheilt war. Nummer drei, der Schütze, konnte Mitte vierzig sein, mittelgroß und sehr kräftig, helle Haare. Der Zivilfahnder wollte schwören, dass Nummer drei ein geübter Schütze war, aber dieser Behauptung war nur mit Einschränkungen zu trauen. Festzustehen schien, dass Nummer zwei versucht hatte, Nummer drei am Schießen zu hindern.

Nummer vier war fünfzig bis fünfundfünfzig Jahre alt, groß und nicht dick, aber massig. Pfeifenraucher. Dunkle Haare, dunkler Teint, als stamme ein Elternteil aus Südeuropa. Aber diese vereinzelte Beschreibung wurde von keiner anderen Aussage gestützt.

Der inzwischen kalte Kaffee schmeckte scheußlich.

Stolle hatte getan, was er konnte. Aber wenn die Kerle noch vor Auslösen der Ringfahndung abgehauen waren - und dafür sprach alles -, bestand wenig Aussicht, sie bald zu schnappen. Später vielleicht einmal, auf frischer Tat oder durch Glück und Zufall.

Auch Cordula Matthies war nicht weitergekommen. Über das Reisebüro, bei dem die Reineckes ihre Weltreise gebucht hatten, ließ sich feststellen, wo sich das Ehepaar aufhielt: in einer Lodge am Rande des Serengeti Naturparks. Auf das lange Fernschreiben hatten die Reineckes vier Tage später, nach der Rückkehr von einer Safari-Tour, reagiert: Nach reiflichem Überlegen hätten sie beschlossen, ihre Reise nicht abzubrechen. Rechtsanwalt Dr. Peter Bergius habe alle Vollmachten, in ihrem Namen zu handeln. Und weil Cordula aus verständlichen Gründen nur verklausuliert angedeutet hatte, bei dem Einbruch seien zwei «Unschuldige verletzt worden», bat das Ehepaar die «sehr verehrte Oberkommissarin Matthies», den Verletzten die besten Genesungswünsche zu übermitteln: «Wir haben Peter Bergius gebeten, sich um diese beiden zu kümmern und, falls erwünscht, mit Geld zu unterstützen.»

Bergius war mit seinem Fernschreiben noch am selben Tag im Präsidium erschienen, höflich, zuvorkommend und hilfsbereit. Über ihn hatten sie die Versicherung benachrichtigen können, die sofort zwei Männer in Marsch setzte. Fünf Stunden lang hatten sie das Haus Waldsaum 44 um und um gewühlt, jedes Teil mit der Versicherungsinventarliste verglichen und zähneknirschend akzeptieren müssen, dass nichts gestohlen worden war.

Binnen eines Tages hatte Bergius die aufgeschweißte Kellertür durch eine noch stärkere Stahltür mit zwei Innenriegeln ersetzen lassen. Cordula löcherte die Versicherungsleute hartnäckig mit der Frage, warum sie nicht auf dem Einbau einer Alarmanlage bestanden hätten. Daraufhin präsentierte die Bezirksdirektion einen Briefwechsel mit dem Ehepaar Reinecke, das diesen Vorschlag ablehnte und stattdessen anbot, alle erforderlichen Bau- und Sicherungsmaßnahmen vornehmen zu lassen und notfalls für die Zeit ihrer Weltreise eine erhöhte Prämie zu entrichten. So war es dann geschehen.

Bergius schickte noch einmal einen Brief an Cordula Matthies. Er habe am Vorabend endlich mit dem Ehepaar sprechen können, per Telefon von Nairobi aus. Bei dieser Gelegenheit erfuhren die Reineckes zum ersten Mal, dass es sich bei einer der Verletzten um Sara Wendel, die Tochter einer guten Freundin, handele. Marianne Reinecke hatte aufgelegt und nach einer Stunde noch einmal angerufen. Sie hatte mit ihrem Mann gesprochen und trotz dieser Neuigkeit darauf bestanden, an ihrem Entschluss zur Weiterreise festzuhalten.

Von den Tätern fehlte jede Spur. Es waren drei Männer gewesen, das stand nach der serologischen Blut und Sperma-Untersuchung zweifelsfrei fest. Sara Wendel hatte zweien der drei Männer Haare ausgerissen; sie konnten später helfen, Beschuldigte zu überfuhren, die Feinuntersuchungen dauerten noch an. In einer Haargruppe war extrem viel Kupfer festgestellt worden, was die Sachverständigen nicht erklären konnten. Schmutzpartikel und Nesselfäden, Schuhabdrücke außerhalb des Hauses, auffällige Schnittkanten am Drahtzaun - Holm verstand, dass die Matthies-Mannschaft jetzt nur noch darauf hoffte, von den Labortechnikern und Wissenschaftlern einen Hinweis zu erhalten. Mit ihrer normalen Suchmethode waren sie am Ende.

Die Modus-Operandi-Datei hatte einige Namen ausgespuckt, von denen sich die Kriminalbeamten nichts mehr versprachen. Die meisten Alibis waren überprüft. Über Interpol waren die belgischen Kollegen gebeten worden, bei der Suche nach Käufern des Schweißgerätes P 5 der Firma Suradoux zu helfen; aber seit gestern lag ein Hinweis der Bremer Kollegen von der Wasserschutzpolizei vor, dass sich ein bestimmtes, frei gehandeltes Unterwasser-Schweißgerät mit wenigen Handgriffen in ein lautloses Modell umwandeln ließ. Mit Zeugenaussagen konnten sie vorerst nicht rechnen. Bernd Klopfer lag noch immer im Koma, schwere innere Verletzungen, Schädelbruch, Hirnverletzungen. Sara Wendel hatte den Schock noch nicht überwunden; die leitende Ärztin der Psychiatrie schloss kategorisch jede Befragung für Monate aus: «Eine schwere psychotische Störung auf Lebenszeit darf nicht außer Betracht gelassen werden.» Holm ahnte, was sich hinter diesem gedrechselten Satz verbarg.

Ingeborg Wendel hatte einen ungeheuren Zirkus veranstaltet, bis sie sich zu einer Aussage bequemte. Danach stand nun fest, dass Sara der Mutter vorgeflunkert hatte, sie wolle eine Freundin besuchen, mit ihr lernen und abends im Hause der Freundin feiern. Die Mutter hatte der Tochter erlaubt, bei der Freundin zu übernachten.

Die Freundin hatte unter Tränen ausgesagt, Sara habe sie um dieses Alibi gebeten, weil sie zum ersten Mal eine Nacht mit ihrem Freund verbringen wollte. Bernd Klopfer war ihr bekannt; wo sich die beiden treffen wollten, wusste sie aber nicht. Vom leer stehenden Haus der Reineckes hatte sie nie etwas gehört.

Bernd Klopfer wohnte noch bei seinen Eltern und hatte ihnen eine ähnliche Geschichte aufgetischt. Die Eltern hatten sich nichts dabei gedacht. Sara Wendel war ihnen bekannt, das Mädchen verkehrte häufig in der Wohnung, wo sie sich offenbar wohl zu fühlen schien; die Eltern hatten ihren Sohn nur einmal beiläufig gewarnt, er solle daran denken, dass Sara noch minderjährig sei, also sie und sich nicht in Teufels Küche bringen.

Ein wichtiger, mühseliger Datei-Abgleich stand noch aus: Gab es drei Männer mit den festgestellten Blutgruppen, die irgendwann einmal zusammen aufgefallen waren - entweder bei Einbruch oder bei Sexualdelikten?

Und das war’s dann auch. Er packte zusammen. Nur ein Punkt schien ihm unklar, und deshalb rief er in der Kanzlei Bergius & Schulenburg an, hatte aber kein Glück: «Dr. Bergius ist auf dem Gericht. Kann ich etwas ausrichten?»

«Ja, es wäre sehr freundlich, wenn Dr. Bergius mich im Präsidium anrufen könnte.»

«Ihr Name war Holm?»

«Ja, Kriminalrat Arno Holm.»

Als Holm ins Präsidium kam, lief die SoKo schon auf Hochtouren. In der Nacht war es ruhig geblieben, nur vier Einbrüche waren bis jetzt gemeldet. Noch waren die Kollegen von den Revieren und Kommissariaten unterwegs, um die Schäden und Einzelheiten aufzunehmen. Doppel dieser Berichte wurden hier in der Zentrale in das System eingegeben. Parallel dazu wurden die Angaben der Beobachtungsposten gespeichert, sodass abends alles miteinander verglichen werden konnte. Dann lagen auch, wenn alles klappte, Bilder oder Videofilme vor, dann würden erfahrene, orts- und milieukundige Beamte aus den Wachen, Revieren und Dezernaten mitsehen und mithören.

Die vier Beobachtungsposten hatten eine fast langweilige Nacht verbracht, bei Alpha, Beta und Gamma herrschte ab 22 Uhr Ruhe. Nur Delta löste zwei Aktionen aus, weil der Posten die Kennzeichen zweier Autos durchgegeben hatte, deren Fahrer Delta besuchten. In einem Fall handelte es sich um einen Leihwagen, den die Streifen bis zu einem kleinen Hotel am Stadtrand verfolgten. Der Meldezettel verriet nun, wie über das landesweite Personen-Auskunftssystem leicht festzustellen war, so viel schriftstellerische Fantasie, dass die Streifen zugriffen. Der am frühen Morgen aus dem Schlaf gerissene Mann wehrte sich heftig; er wusste eben eher als die beiden Polizisten, dass er mit Haftbefehl gesucht wurde.

Der Fahrer des zweiten Autos - ebenfalls ein Leihwagen - wurde in diesen Minuten am Frankfurter Flughafen zur Überprüfung festgehalten; bei solchen Kontrollen sollte darauf geachtet werden, keinen Zusammenhang mit Delta deutlich werden zu lassen.

Die vier Posten hatten ab Beginn der Aktion Olymp etwa fünfzehn Personen fotografiert, die mit den vier Objekten Kontakt aufgenommen hatten. Die Bilder und Beschreibungen würden bis zum Abschluss der Aktion im System gespeichert bleiben, was datenschutzrechtlich bedenklich war. Holm wusste es, Schultheiß wusste es, der Staatsanwalt wusste es, und deshalb sprachen sie lieber nicht darüber.

«Muss ich irgendetwas tun oder wissen oder veranlassen?», fragte Holm leichthin und beobachtete die Schichtführerin. Sie schüttelte so spontan den Kopf, dass er sich entspannte: «Nein, Herr Kriminalrat, bis jetzt nichts.»

«Gut, dann verziehe ich mich in mein Zimmer.»

«Ich melde mich, sobald es etwas Ungewöhnliches gibt.»

Die Unterredung mit Stolle verlief unglücklich. Der kam nämlich gerade von Oberrat Waldeck und hatte dort eine gewaltige Zigarre kassiert, war wie am Boden zerstört und für keinerlei Argumente zugänglich.

«Lassen Sie den Fall liegen!», riet Holm.

«Was? Dann steigen mir die Kollegen aufs Dach.»

«Das tun die auch, wenn Sie sich wie ein Brummkreisel um die eigene Achse drehen und keinen Millimeter weiterkommen.»

«Ich müsste nur eine Idee haben», jammerte Stolle, der schon nicht mehr zugehört hatte. Mit großer Mühe beherrschte sich Holm und verschluckte die Bemerkung, die ihm auf der Zunge lag: Der Leiter einer Abteilung müsse souverän genug sein, einen Fehlschlag einzugestehen und zu ertragen.

«Passen Sie auf, wenn man rechts herum gegen eine Wand läuft, versucht man’s links herum. In allen vier Häusern wussten die Täter, was sie finden würden. Also konzentrieren Sie sich auf den Tippgeber. Wer konnte alle Wohnungen betreten?»

«Vielleicht der Briefträger?», höhnte Stolle kraftlos.

«Nein, unten gibt’s Hausbriefkästen», widersprach Holm sachlich. «Halten Sie sich an die Mieter, reden Sie noch einmal mit den Versicherungen. Und hören Sie auf, wie das Elend auf zwei Beinen her umzuschleichen, damit entmutigen Sie Ihre besten Leute.»

Der letzte Satz war zu viel. Denn Stolle klagte: «Ach, Herr Holm, manchmal furchte ich, ich tauge nicht zum Chef.»

Heimlich zählte Holm bis zehn: «Wir haben doch die Zeichnung. Warum versuchen Sie nicht eine Plakatfahndung? Oder schicken das Bild herum?»

«Waldeck hat abgelehnt, dazu sei’s noch zu früh. Ich soll erst die Ergebnisse Ihrer SoKo abwarten.»

«Aha!», machte Holm ausdruckslos. «Und wie steht’s mit den Kollegen in anderen Städten?»

«Davon hält Waldeck nichts. Nach seiner Meinung haben die Täter so viel Ortskenntnis bewiesen, dass sie nicht von außen gekommen sein können. Ich soll meine Kräfte nicht verzetteln.»

«Aha!», wiederholte Holm trocken. «Na dann! Ein Oberrat hat immer recht.» Während Stolle davonstolperte, kniff Holm die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen.

Bei Siebold war Großkampftag. Sie hatten zusätzliche Stühle auf die Gänge gestellt; Polizisten bewachten empörte oder bedrückte Männer und Frauen. Rechtsanwälte drängten sich schimpfend durch die Menge. Es herrschte ein ständiges Kommen und Gehen, und nur, wenn sich eine Tür zum Kommissariat öffnete, trat wie auf Kommando für Sekunden eine seltsame Stille ein. Gleich danach setzte jedoch das Schimpfen, Klagen und Jammern mit unverminderter Lautstärke wieder ein. Es roch nach Schweiß und Angst, trotz des Zuges aus weit geöffneten Fenstern. Auf dem Boden häuften sich die ausgetretenen Kippen.

Für diese Aktion hatte Holm von seinen Vollmachten Gebrauch machen müssen, nicht direkt - er konnte der Staatsanwaltschaft keine Anordnungen erteilen -, aber mit einer Mischung aus scheinbarer Höflichkeit und kaum kaschierter Kriegserklärung. Bleich vor Wut hatte der leitende Staatsanwalt zum Telefon gegriffen und angeordnet, in sieben Fällen wegen des Verdachts der gewerbsmäßigen Hehlerei Haus- und Geschäftsdurchsuchungen zu beantragen. In fünf Fällen hatte der Untersuchungsrichter mitgespielt; die Aktionen waren gestern Abend mit Start der Aktion Olymp angelaufen. Die beiden letzten Fälle hatte Siebold heute Morgen auf seine Art erledigt und die Hehler massiv eingeschüchtert.

Im Zimmer des Felsens war von der Hektik nichts zu sehen und nichts zu ahnen. Der Eisengraue las Protokolle, der Schreibtisch glänzte vor Ordnung, und Holm zog fragend die Augenbrauen hoch.

«Nicht so gut wie erhofft», gestand der Fels. «Zwei haben wir, zwei werde ich noch weichkochen, einen müssen wir gehen lassen.»

«Das heißt, wir müssen drei Hehler laufend belästigen.»

«So ist es. Kostet Zeit und Personal, sicher, aber verstärkt vielleicht den Eindruck, dass wir mit mehr Wut als Überlegung handeln.» Siebold strich über seinen Bart, was wohl soviel wie ein «Auf Wiedersehen» bedeutete.

Den Vormittag kurvte Holm durch die Stadt und suchte die Posten auf. Absichtlich hatte er seinen privaten Wagen genommen, die Techniker hatten das Funksprechgerät als Autotelefon getarnt, und mit seinem maßgeschneiderten dünnen Sommeranzug, Seidenkrawatte und Aktenköfferchen sah er tatsächlich nicht wie ein «Bulle» aus. Seine alten Kunden würden ihn natürlich erkennen, das Risiko ließ sich nicht vermeiden, aber er rechnete nicht damit, ihnen in der Nähe gewerbsmäßiger Hehler zu begegnen.

Die zwei Männer und zwei Frauen im Posten Alpha schienen über sein Kommen wenig erfreut, verbargen es aber hinter dienstlicher Korrektheit. Verglichen mit dem Eingang und dem Treppenhaus, erstrahlten die beiden Zimmerchen geradezu im Glanz ihrer Schnellrenovierung. Noch immer roch es nach Farbe, trotz der weit geöffneten Fenster.

Weil Holm die Reserve spürte, trat er wohl höflich, aber kurz angebunden auf und interessierte sich hauptsächlich für das technische Gerät. Schultheiß hatte an nichts gespart. Eine Fernsehkamera war auf den Hof gerichtet, das Bild erschien auf zwei Monitoren, einer verfügte über einen Bewegungsmelder, der automatisch Alarm schlug, wenn sich auf den Schirmen etwas veränderte. Mit einem Knopfdruck konnten ein oder zwei Videoaufnahmegeräte zugeschaltet werden.

«Wir sind im Moment noch dabei, die Mieter der Garagen zu identifizieren», erklärte der schlaksige Blondschopf, der offensichtlich das Kommando führte, sich aber nicht mit seinem Dienstgrad vorgestellt hatte. «Später wird die Kamera nur die Hintertür überwachen.»

Holm nickte. Ein Parabolmikrofon, ein Richtmikrofon mit angebautem Sucher, eine Filmkamera mit einem Zoom, das sich automatisch scharf stellte, Fotoapparate mit extremen Teleobjektiven, die sich zum Teil selbsttätig auslösten. Tonbandgeräte, drei Funkgeräte - zur Zentrale, zu den anderen Posten, zu den Streifen, die Alpha zugeordnet waren.

«Bei diesen Lichtverhältnissen sind Restlichtverstärker nicht nötig, Herr Rat.» Das klang so beflissen, dass Holm den versteckten Hohn heraushörte und sich umdrehte: «Wie haben Sie sichergestellt, dass eine defekte Leuchte da unten sofort ausgewechselt wird?»

Der Blondschopf errötete: «Ich werde es sofort veranlassen.»

Holm konnte sich nicht verkneifen, ein «Ich bitte darum!» anzufügen. Das Funksystem, so erläuterte anschließend ein sehr viel normalerer Blondschopf, erlaubte es ihnen, den gesamten Funksprechverkehr mit allen Posten und Streifen mitzuhören. Außerdem übermittelte es die hier mit den Mikrofonen aufgefangenen Gespräche direkt an die Zentrale, einmal, um sie dort zusätzlich zu speichern, und zum anderen, um durch einen Stimmenspektrumsanalysator die Sprecher auf dem Hof zweifelsfrei auseinanderzuhalten: «Da hilft kein Flüstern und keine verstellte Stimme.»

Das kam so gedehnt heraus, dass Holm den Blondschopf scharf musterte: «Sie haben rechtliche Bedenken?»

Der Mann kämpfte mit sich, das war seinem Gesicht deutlich anzusehen, und antwortete nach langem Zögern: «Ja, Herr Rat.»

«Ich auch. Der einzige Weg aus diesem Dilemma ist, sorgfältig zu arbeiten, damit Unschuldige möglichst rasch im System gelöscht werden.» Er registrierte vier scharfe Blicke, skeptische, ungläubige, spöttische; die beiden Frauen taten noch am meisten so, als ließen sie sich von ihrer Arbeit nicht ablenken. «Das Verhältnis von Treffern zu Nieten bei dieser Aktion wird auch darüber entscheiden, wie oft in Zukunft solche Unternehmen befohlen werden.» Der Blondschopf schien sichtlich nicht überzeugt, aber Holm dachte nicht daran, sich mit ihm auf eine Diskussion einzulassen. «Brauchen Sie noch etwas?»

«Nein, danke, bis jetzt sind wir mit allem versorgt.»

«Dann noch viel Erfolg.»

Im Treppenhaus stank es nach Abfall und feuchtem Holz. Wer hier seine Büros hatte, wurde wohl nicht reich.

Über die Beta-Wohnung in der Kanalstraße amüsierte er sich. Das Mobiliar erinnerte ihn an Barackensiedlungen, wackelig, spärlich, billig. Dafür waren die Gardinen, Vorhänge und Jalousien vor den Fenstern zur Straße das Feinste vom Teuren. So breit war die Kanalstraße nämlich nicht, und sie mussten auf jeden Fall verhindern, dass die Bewohner des gegenüberliegenden Hauses, in dem Beta seinen Trödelladen betrieb, Verdacht schöpften. Zum Glück hatte die Siedlungsgesellschaft vor einem Jahr Küche und Bad modernisiert; als Holm die Tür öffnete, wehte ihm der Duft fachmännisch gebräunter Bratkartoffeln entgegen.

«Hoffentlich haben Sie keinen Hunger», empfing ihn die resolute Hauptmeisterin. «Vier Kollegen haben sich nämlich schon zum Essen angesagt. Haben Sie eine Ahnung, wie viel Arbeit gute Bratkartoffeln machen?»

«Habe ich», versetzte Holm heiter. «Sie sollen aber keine Nebenkantine einrichten.»

«Nein!», knurrte sie und schwang den Pfannenwender.

Der Posten Beta hatte Probleme mit der Funkverbindung. Weil der Dachboden zum Wäschetrocknen benutzt wurde, hatten sie dort keine Antennen aufbauen können. Die innen vor den Fenstern montierten Antennen brachten aber keine ausreichende Reichweite, sodass sie in einer Parallelstraße eine Relaisstation einrichten mussten. Zwei Techniker plagten sich noch immer mit der Einstellung herum.

Holm blieb eine halbe Stunde und beobachtete schweigend die Aktion. In der Zeit betraten und verließen drei Personen Betas Geschäft, darunter eine alte Frau, die einen Stock benötigte und eine Einkaufstasche auf einem Rädergestell hinter sich herzog. Die Kameras liefen an, Holm schaute unwillkürlich auf den breiten Mann mit dem Ringerbrustkorb, und der reagierte auf die unausgesprochene Kritik dienstlich höflich, aber sachlich grob: «Es wäre nicht das erste Mal, dass Oma dem missratenen Enkel hilft, Diebesgut zu verscheuern.»

«Sie scheinen Erfahrung damit zu haben.»

«Sehr schlechte sogar, Herr Kriminalrat.»

Holm schwieg, machte sich in Gedanken aber eine Notiz. Ob er einen Nassforschen oder einen Fachmann vor sich hatte, musste sich erst noch herausstellen. Vorher war es sinnlos, Befehle zu erteilen. Deshalb blieb er auch stumm, als der Preisringer beim Anblick eines vielleicht vierzigjährigen Mannes sofort zum Mikrofon griff: «Beta 1 an Beta 2. Unbekannter Mann, etwa 40, etwa 1,70 Meter, etwa 65 Kilo, hellbraune schüttere Haare, helle Tuchhose, weißer dünner Anorak, hat Objekt kontaktiert. Bitte Namen und Anschrift feststellen.»

«Beta 2 an Beta 1 - verstanden.»

Obwohl Holm sich nicht rührte, fühlte sich der Mann zu einer Rechtfertigung bemüßigt: «Das ist ein Kellner aus einer Kneipe in der Bahnstraße. Ziemliche Spelunke und ziemlich mieses Publikum, das uns interessiert.»

«Woher wissen Sie das?»

«Wir haben uns natürlich die Umgebung angesehen.»

«Und wie heißt die Kneipe?»

«Zum vollen Kanal. Das Bier ist gut, aber der Schlampe von Wirtin sollte man die Konzession entziehen. So viel Schmutz an einem Bierglas!» Es schüttelte ihn regelrecht, und Holm schmunzelte in sich hinein. Sieh mal an, unser Kleiderschrank ekelte sich vor Dreck. Das war menschlich, stärkte aber auch Vorurteile; Holm machte sich in Gedanken eine weitere Notiz.

Nach außen hin würden sie, sollte die Aktion Olymp bekannt werden, selbstverständlich darauf beharren, dass sie nur die Hehler überwachten. Wie sie es mit den Kunden der Hehlergeschäfte hielten, wurde besser nicht erwähnt.

Als er sich verabschiedete, lief ihm das Wasser im Mund zusammen. Aber jetzt war Haltung gefordert: Wenn sie ihm keine Gabel voll zum Probieren anbot, durfte er sie nicht darum bitten.

Die Gamma-Leute stöhnten. Das Zimmer war tatsächlich eng und mit dem technischen Gerät überfüllt; sie mussten die Fenster offen lassen und waren dem pausenlosen Lärm des Altmarkts ausgesetzt. Dazu kam, dass sie, anders als die Posten Alpha und Beta, die Kunden des Gamma-Geschäftes nicht mit bloßen Augen erkennen konnten, zumindest nicht mit Sicherheit. Einer war also gezwungen, dauernd ein Fernglas an die Augen zu heben.

«Wenn’s nicht anders geht, Herr Rat ...» Der Schichtführer machte einen guten Eindruck, ruhig, gelassen und souverän.

«Nein, so geht das auf Dauer nicht!», entschied Holm und telefonierte hinter Schultheiß her, der das Problem sofort begriff und Abhilfe binnen einer Stunde versprach.

«Kommen Sie mit dem Platz aus?»

«Nein.» Der Hauptmeister zögerte keinen Augenblick. «Wir müssen uns einmal die Beine vertreten können. Acht Stunden in dieser Enge zu sitzen heißt, dass wir unvermeidlich unaufmerksam werden.»

«Gut. Ich werde sehen, was sich machen lässt.»

Er lief langsam durch das alte, verwinkelte Gebäude, das wie ein Kaninchenbau dicht besetzt war, mit teils obskuren, teils erstaunlichen Geschäften und Unternehmen. Wahrsagerinnen auf wissenschaftlicher Basis. Stammbaumforscher mit Heraldik-Studio - er rieb sich heftig das Kinn, kam aber nicht dahinter, was damit gemeint war. Ein Privatdetektiv, an dessen Tür ein Schild baumelte: «Bin in einer Stunde zurück», was ein Anonymus in Krakelschrift ergänzt hatte: «oder auch nicht». Ein Hostessen-Vermittlungsdienst. Diätberater, Briefmarkenhandel. Der «Zustelldienst-Blitz — wir entrümpeln und entsorgen sofort». Ein Übersetzungsbüro, das in seiner Anpreisung so viele «0» verwendete, dass Holm auf einen Türken tippte. Fahnen und Dekorationsservice. Ein Fotostudio - «Diskret, weltoffen und zuverlässig». Holm staunte nicht schlecht. Den Hausmeister fand er nach langer Suche.

«Im ersten Stock?» Das Männlein krähte vor Verzweiflung. «Wie soll ich im ersten Stock ...»

Holm holte ganz langsam seine Brieftasche heraus. Polizei hin, Beamter her, man konnte die Korrektheit auch übertreiben. Der Hunderter lag unschuldig zwischen ihnen auf dem Tisch, bis der Kleine tief Luft holte: «Wo genau im ersten Stock?»

«Neben der Firma ComRech. Oder nahe dabei.»

Unter diesem Fantasienamen hatten sie gemietet; wie lange die Tarnung halten würde, wollte keiner abschätzen, aber Holm und Lincke waren derselben Meinung gewesen: In diesem Bau kümmerte sich kein Mensch viel um seinen Nachbarn. Und wenn sie aus dem Zimmer, das zum Altmarkt heraus lag, Kabel über den Flur ziehen mussten, würde es die Tarnung nur bestärken.

«Die Geschäfte scheinen ja gut zu gehen», bohrte der Kleine neugierig und ließ den Geldschein in seiner Hemdentasche verschwinden. Holm grummelte düster: «Das auch. Aber die Geräte entwickeln mehr Lärm und Wärme, als wir gedacht haben. Meine Leute werden wild.»

«Gegenüber? Dieser Maler ist mit seiner Miete im Rückstand ...»

«Warum nicht?»

Der Maler, ein großer, breitschultriger Mann, hatte zu viele Bücher über Paris und die Boheme gelesen. Trotz der Hitze trug er eine Baskenmütze und einen farbenstarrenden Kittel über dicken Cordhosen und einem Rollkragenpullover. Als er misstrauisch die Tür öffnete, hielt er in einer Hand eine Palette, auf der die Farben längst eingetrocknet waren. Die Haare der Pinsel brachen vor Alter, und der Künstler brach in Wehgeschrei aus: «Ich weiß ja, dass ich im Rückstand ...»

Holm achtete nicht weiter auf die schrille Jeremiade. Der Raum war erstaunlich groß, schätzungsweise neunzig Quadratmeter, für ein Atelier viel zu düster. Die Einrichtung bestand aus zwei Stühlen, einem Tisch, einer sehr breiten Liege, einer altersschwachen Staffelei und zwei Scheinwerfern, die auf ein kleines Podest gerichtet waren.

Am Fenster, das tatsächlich nach Norden lag, stand eine junge Frau in einem Minikleidchen. Sie kehrte ihnen den Rücken zu und schien mit ihren Händen eifrig beschäftigt; Holm vermutete, dass sie gerade ihr Kleid zuknöpfte.

Ein umgedrehter Pappkarton diente als Tisch, die Flasche war fast leer, und eine durchdringende Absinth-Anis-Parfüm-Wolke erfüllte den ganzen Raum, überdeckte jenen schwachen Rauchgeruch, der Holm sofort die Nasenflügel blähte. Im letzten Moment fiel ihm ein, dass er Geschäftsmann war und kein Haschschnüffler. In einem anderen Pappkarton entdeckte er Zeichenbretter, Papier und Kohlestifte. Die junge Frau wagte sich noch immer nicht umzudrehen, vielleicht hatte ihr Kleid keine Tasche für den BH, Holm schmunzelte, der Maler stutzte und beschwor mit wachsender Lautstärke den Untergang der abendländischen Kunst und Kultur, die wie immer, so auch hier dem Kommerz weichen müsse - sein wütender Blick streifte Holms Anzug, schwenkte den Kopf zwischen der Frau und den Eindringlingen hin und her. Dabei fuchtelte er mit Pinsel und Palette so bedrohlich herum, dass Holm ihn schließlich unterbrach: «Ich zahle Ihre rückständige Miete und darüber einen Tausender, wenn Sie sofort ausziehen.»

«Sofort? Sofort? Und wo soll ich malen? Glauben Sie, die Kunst ...»

«Doch, das glaube ich, dass Kunst nach Brot geht», schnitt Holm das Wort ab. «Wenn Sie noch länger lamentieren, senke ich meinen Bonus auf neunhundert.»

«Erpressung, die reine Erpressung», stöhnte der Maler. «Das Geld regiert die Welt, ich resigniere, Sie haben mich besiegt, aber nicht unterworfen. Was stellen Sie her?»

«Gar nichts. Meine Firma berechnet für Kreditunternehmen, wie viel Sie Ihrer Bank in fünf Jahren schulden werden.»

«Na, dann mal los!»

Eine Viertelstunde später war der Vertrag perfekt, der Maler schien sogar ganz friedfertig zu sein und drückte Holm eine zerknitterte Geschäftskarte in die Hand: «Wenn Sie mal Unterricht nehmen möchten ... Geld und Geschäft ist nicht alles im Leben.»

«Kaum. Aber vielen Dank.» Achtlos steckte er die Karte ein. Zum Schluss legte der Künstler noch einen dramatisch starken Abgang hin, den Holm ihm gönnte. Die junge Frau war verschwunden, der Hausmeister seufzte erleichtert, Holm telefonierte mit der Beschaffungsabteilung, die ohne Verzögerung einen Renovierungstrupp in Marsch setzte. Als er Lincke das Schreiben des Präsidenten zeigte, hatte er keine Hintergedanken verfolgt, er wollte nur einen Kollegen, auf den er sich verlassen musste, vollständig informieren. Doch Lincke hatte andeutungsweise verbreitet, welche Vollmachten Holm besaß, und eine angenehme Folge war eben, dass manche Dinge im Handumdrehen erledigt wurden. Die Gamma-Mannschaft hörte ihm mit respektvollem Staunen zu, und der Hauptmeister sprach aus, was alle dachten: «Die Aktion scheint wirklich wichtig zu sein.»

«Ja, sehr sogar», stimmte Holm bedächtig zu. «Ihre Erfolge zählen ebenso viel wie ihre Misserfolge.»

Bei Gamma herrschte viel Betrieb, insoweit hatte Siebold nicht übertrieben. Das Publikum schien sehr gemischt zu sein, darunter sehr viele Mädchen, und Holm rief über Funk die bereitstehenden Kontrolltrupps: «Zeus an alle Gammas. Eine möglichst junge Kollegin soll im Objekt herausfinden, warum es von so vielen jungen Frauen besucht wird. Keine Aktion.»

Eine melodische Altstimme meldete zurück: «Gamma 2 an Zeus, verstanden.»

Wie versprochen kreuzte Schultheiß keine Stunde später mit zwei Männern auf, die zwei Kisten hereinschleppten. Die Enge wurde beängstigend, nachdem sie aufgebaut hatten: eine Art Fernrohr mit einem dicken Knubbel an einem Ende, von dem ein dünnes Kabel zu einem schmalen, hochkant stehenden Kasten führte; eine Seite bestand aus mattem Glas, das plötzlich hell wurde: Der Eingang zu Gammas Laden («An- und Verkauf, alt und neu»). Das Bild fiel gestochen scharf aus, ohne das geringste Flimmern, und war so groß, dass der Beobachter seinen Stuhl zurückschieben konnte. «Glasfaser-Lichtleiter», bemerkte Schultheiß kurz, und Holm begriff, dass der Kollege keine weiteren Fragen wünschte. «Den Restlichtverstärker montiere ich heute Nachmittag, wenn’s hier etwas mehr Platz hat.»

«Geht es auch drüben?», warf der Hauptmeister schüchtern ein, und Holm wunderte sich über Schultheiß’ kurz angebundene Erwiderung: «Alles geht.»

Im Atelier auf der anderen Seite des Flures legte schon die Putzkolonne los. Mehr aus Jux fischte Holm, als er ging, aus dem einen Pappkarton, der auf dem Gang stand, einen Stapel Kohlezeichnungen heraus. Alles Frauen, die meisten als Halbakte, und von einem teuflischen Realismus. Mit dem Geld schien der Maler auf Kriegsfuß zu stehen, vielleicht lebte er von Luft und Liebe, und seine Wertschätzung des weiblichen Geschlechts drückte sich in der Signatur aus: Das mathematische Zeichen für unendlich, die liegende Acht, verband die griechischen Buchstaben Alpha und Omega.

Der Posten Delta war etwas unbequemer zu erreichen. Er musste sich dem Haus von hinten, über den Garten, nähern, und der pensionierte Polizist hatte den Einbau eines Tores in den Zaun nur nach der Zusage geduldet, es werde nachher wieder entfernt. Holm suchte lange nach der versteckten Klingel, und dann dauerte es mehrere Minuten, bis einer der Beamten gelassen durch den Garten schleuderte und ihm das Törchen aufsperrte.

«Guten Tag, Herr Rat. Meine Tram und ich essen gerade mit dem <Onkel> und der <Tante>.» Er schmunzelte breit.

«Hoffentlich schmeckt’s.»

«Also - besser als die Kantine ist es allemal.»

«Lassen Sie sich nicht stören.» Er nickte nur grüßend in die winzige Essnische und stieg die Treppe hinauf. In der kurzen Zeit hatten sie den Dachboden nicht ausbauen können, alles war nur flüchtig mit Holz und Faserplatten abgedeckt, aber durch den lose ausliegenden Teppichboden konnte man es ertragen.

Das Gerät funktioniere einwandfrei, versicherte eine ältere Frau, die strickend am Fenster saß und mit der Regelmäßigkeit eines Uhrwerks alle dreißig Sekunden nach draußen, auf das Delta-Haus, sah. Delta 2 und Delta 3 waren abgezogen und Delta nachgefahren, der heute, wie offensichtlich jeden Tag, sein Privathaus pünktlich verlassen hatte.

«Brauchen Sie etwas?»

«Nein, vielen Dank.»

«Das nächste Mal bringe ich Ihnen Wolle mit», versprach er, und sie lachte. Holm verschwand wieder über den Garten und überlegte sorgenvoll, ob sich Siebold mit der Auswahl von Delta nicht geirrt hatte. Immerhin halfen sie dem Kollegen im Ruhestand, der sich mit der Hypotheken-Belastung verrechnet hatte, ein wenig aus.

Die Zentrale summte und vibrierte vor Geschäftigkeit, alle Terminals waren jetzt besetzt, und an einer Längswand war etwas entstanden, was Holm an ein Fernsehstudio erinnerte. Männer, die er noch nie gesehen hatte, bauten Leinwände, riesige Fernsehapparate und Projektoren auf; er lächelte, als sei alles in bester Ordnung, und überschlug zum wer weiß wievielten Mal den Aufwand, der hier getrieben wurde. Mit Schultheiß war es ein angenehmes Arbeiten, kein Zweifel, und er hatte sich selbst eine Woche Frist verordnet, in der er den Harmlosen spielen würde. Auf seinem Schreibtisch stapelte sich das Papier, und weil er genau wusste, dass er heimlich beobachtet wurde, vertiefte er sich in die Protokolle und Berichte. Möglicherweise blieb ihnen ein Erfolg verwehrt, aber bedrucktes Papier würden sie zum Schluss mehr als genug produziert haben. Als das Telefon bimmelte und eine energische Stimme mit «Hier Bergius» grüßte, musste er einen Moment nachdenken: «Vielen Dank, dass Sie zurückrufen, Herr Rechtsanwalt. Ich hätte doch noch einige Fragen an Sie.»

«Wegen des Einbruchs bei den Reineckes?»

«Ja.»

Bergius zögerte: «Leiten Sie jetzt die Ermittlungen?»

«Oberkommissarin Matthies hat mich um Hilfe gebeten.»

«Ach so.» Wieder schwieg der Anwalt, bis er ziemlich scharf fortfuhr: «Ich rede nicht gern am Telefon über Mandanten. Können Sie nicht zu mir in die Kanzlei kommen?»

«Schlecht, hier herrscht noch Hochbetrieb.»

«Dann mache ich Ihnen einen ganz unkonventionellen Vorschlag. Kennen Sie die Bar <James & Jim>? Was halten Sie von einem Schlummertrunk?»

«Wenn Sie bis 22 Uhr warten können ...»

«Aber immer! Bis dann, Herr Holm.»

Eine Minute tippte er mit dem Kugelschreiber auf die Tischplatte, zuckte dann die Achseln und telefonierte hinter Cordula Matthies her: «Wir treffen uns mit Bergius um 22 Uhr bei <James &Jim>.»

«Ja, gut», stotterte sie.

Als er das nächste Mal hochblickte, saß Schultheiß vor einem Terminal, und Lincke brütete über einem tischgroßen Formular, das Holm selbst auf die Entfernung als Dienstplan erkannte.

Bis 19 Uhr füllte sich der Saal mit fast fünfzig Männern und Frauen. Die Revierschichtführer kamen vor dem Nachtdienst, die Stellvertreter der Tagesschicht traten vor Ende ihres Dienstes an. Aus den zentralen, im Präsidium untergebrachten Kommissariaten war wenigstens ein Mitarbeiter erschienen. Einsatzleitung der Verkehrspolizei, Zivilfahnder aus den großen Revierwachen, kriminaltechnische Untersuchung, zentraler Meldedienst - Holm verspürte fast Beklemmung, wenn er sich vergegenwärtigte, mit welchem Einsatz an Personal seine SoKo pokerte.

Aber von seinen Sorgen ließ er sich nichts anmerken, als er um 19 Uhr das Mikrofon nahm: «Guten Abend, liebe Kolleginnen und Kollegen. Ich danke Ihnen, dass Sie gekommen sind, trotz der Mehrarbeit und der Überstunden, die das für Sie bedeutet. Sie wissen so gut wie ich, dass ich Ihnen ein Entgelt in Freizeit nicht versprechen kann.» Aus dem totenstillen Saal kam kein Widerspruch. «Wir werden wenigstens vier Wochen lang versuchen, die Hehlerei aufzurollen. Nach unseren Kenntnissen haben wir elf gewerbsmäßige Hehler in der Stadt, die Diebesgut noch selbst in die Hand nehmen. Vier überwachen wir rund um die Uhr, sieben schüchtern wir permanent so weit ein, dass sie ihre Aktivitäten einstellen oder doch stark reduzieren müssen. Natürlich hoffen wir, dass sich dadurch der - hm - Geschäftsverkehr der Überwachten verstärkt, uns zu Nutzen und Frommen.» Absichtlich legte er eine Pause ein, aber das Auditorium blieb stumm. «Dann fangen wir mit den Einbrüchen an. Wer immer etwas zu sagen hat - bitte laut und sofort. Die Vorstellung übernimmt Klaus Schultheiß vom Landeskriminalamt, das uns mit einer Gruppe von Datenverarbeitungsfachleuten und technischem Gerät unterstützt. So, bitte, Herr Schultheiß.»

«Vielen Dank, Herr Holm.»

Auch Schultheiß war nicht die geringste Nervosität anzumerken; Motoren summten und zogen lichtdichte Vorhänge vor die Fenster, die drei Leinwände wurden hell, und auf der mittleren erschien eine schnelle Sequenz von Bildern. Der Großmarkt, eine Spielhalle. Die Täter waren durch eine Kellerluke eingedrungen und hatten alle Automaten aufgebrochen, aber nach Aussage des Inhabers allenfalls aus den Zigaretten und Präservativ-Automaten Hartgeld entwendet. Die Spielgeräte waren geleert, und die Kasse hatte er mit nach Hause genommen. «Amateure. Oder Rauschgiftsüchtige», urteilte Schultheiß geringschätzig. Der Sachschaden war beträchtlich; rohe Kraft hatte fehlende Geschicklichkeit ersetzen müssen. Einbruch Nummer zwei war schon interessanter, bei einem Kreditvermittler im Senatorenhaus, schräg gegenüber dem Hauptbahnhof. Der Täter hatte wohl das Schloss in der Eingangstür des Zweizimmerbüros gewaltsam geknackt. Aber den altmodischen Geldschrank hatte ein Profi mit Dietrichen geöffnet. Die Sache stank. Der Geschädigte behauptete, er habe fast zehntausend Mark im Schrank aufbewahrt; das mochte stimmen oder auch nicht. Aber wenn, schien das Geld nur eine Zusatzbeute zu sein. Denn der Einbrecher hatte auch alle Unterlagen mitgehen lassen, und wenn das schwitzende, nach Schweiß riechende Dickerchen auch eine zweite Buchführung in einem zerfledderten Notizbuch angelegt hatte - Beweiskraft besaß dieses Papier nicht. Vielleicht konnte einer seiner Kunden die astronomischen Zinsen nicht länger zahlen. Oder wollte nicht mehr, wie auch immer; das würde sich herausstellen.

Im Saal erhob sich eine laute Stimme: «Der Knabe ist vorbestraft. Betrug, Unterschlagung, Urkundenfälschung, unerlaubtes Kreditgeschäft. In Düsseldorf, glaube ich, hat er so viel Prügel von geleimten Kunden bezogen, dass er dort seine Zelte abgebrochen hat.»

«Wunderbar», freute sich Schultheiß. «Ach so, alle hier gewonnenen Informationen werden gespeichert.»

Einbruch Nummer drei interessierte sie sehr viel mehr. Ein zurzeit leer stehendes Einfamilienhaus; die Eigentümer hatten sie noch nicht erreicht. Vor der Abreise hatten sie alle Wertsachen - Schmuck, Papiere, Geld und eine Briefmarkensammlung - in einem Banksafe deponiert. Die Nachbarn waren am späten Abend noch einmal rund um das Haus gelaufen und hatten nichts Auffälliges bemerkt. Das Erdgeschoss war auch vorbildlich gesichert: Gitter vor allen Fenstern, Stahlrolladen, verschließbare Fensterriegel. Daran hatten sich die Einbrecher auch gar nicht erst versucht, sondern gleich im Garten eine Leiter angelegt und im ersten Stock rund um einen Fensterriegel das Doppelglas herausgeschnitten.

Was genau gestohlen worden war, stand leider noch nicht fest. Die Nachbarn konnten zwar einiges Gerät benennen - Videorecorder, CD-Spieler, ein großes Tonbandgerät mit Mischpult, Dia- und Filmprojektor, aber was sonst fehlte? Sie hatten hilflos die Schultern gezuckt.

«Und hier die Visitenkarte!» Schultheiß brummte verächtlich, und auch Holm musste lachen. Einer der beiden Täter war ein durstiger Mensch. Die Kollegen hatten zwei leere Getränkedosen am Tatort sichergestellt, natürlich ohne Fingerabdrücke, und der Durstige hatte eine Toilette benutzt, ohne hinterher die Spülung zu benutzen. Wahrscheinlich ahnte er nicht, was sich alles aus Urin herausanalysieren ließ. «Aus der Modus-Operandi-Datei wissen wir, dass unser Freund mit der schwachen Blase mindestens zwölfmal in diesem Jahr zugeschlagen hat.» Schultheiß dozierte flott und lässig. «Ich zeige Ihnen jetzt eine Aufnahme vom Objekt Alpha.»

Auf der rechten Leinwand lief ein Film an. Ein Auto fuhr auf den Hof hinter Alphas Geschäft; das Motorengeräusch verstummte, Autotüren wurden geöffnet und zugeknallt - es war wie ein perfekter Spielfilm. Selbst das Quietschen von Alphas Tür war deutlich zu hören. Alpha trat heraus und wartete auf die beiden Männer. «Stopp!», befahl Schultheiß, und das Bild erstarrte: Die beiden Männer waren so scharf und deutlich abgebildet, dass selbst Holm verblüfft nach Luft schnappte.

«Sind die Männer bekannt?»

«Der linke heißt Albert Steckelhörn, wegen schweren Diebstahls vorbestraft», platzte ein Mann heraus, der sein Erstaunen nicht verbergen konnte. Auch die anderen begannen erregt zu tuscheln, als ahnten sie zum ersten Mal, was alles möglich werden könnte. «Danke. Und der rechte?» Schultheiß wusste genau, warum er so tat, als liefe hier das Alltäglichste ab.

«Das könnte sein Schwager sein. Alberts Schwester hat vor Kurzem geheiratet.» Der Rufer hatte seine Überraschung noch immer nicht überwunden.

«Danke. Achten Sie bitte auf die Stimmen.»

Der Film lief weiter. «Ihr seid spät dran», knurrte Alpha, und Steckelhörn verteidigte sich: «Die Leute nebenan wollten einfach nicht ins Bett gehen.»

Erst jetzt registrierte Holm in der rechten oberen Ecke die Schrift: Alpha, 23. 8., 3.20 Uhr.

«Beeilt euch, ich will auch mal ins Bett.» Im Saal brandete befreiendes Gelächter auf, einige klatschten Beifall, aber Schultheiß’ unbewegte Stimme übertönte alles: «Beachten Sie bitte das Diebesgut.» Es war beinahe unheimlich, wie zum Greifen nahe die Geräte auf der Leinwand erschienen, wenn der mit einem Großprojektor gekoppelte Recorder anhielt: Tonband, Mischpult, CD-Spieler. Schultheiß moderierte unbewegt weiter, aber Holms Gedanken schweiften einen Moment ab. Die Chronologie war sozusagen auf den Kopf gestellt: Sie würden zuerst die Übergabe der Beute filmen und dann durch die Einbruchmeldungen feststellen, wo solche Geräte gestohlen worden waren. Morgen musste er einmal die Hausjuristen konsultieren, was die Strafrichter davon halten würden. Rechtzeitig vor dem Clou konzentrierte er sich wieder. Alpha und Steckelhörn standen noch auf dem Hof, der dritte Mann war voran ins Haus gegangen, und Alpha brummte: «Ist der auch zuverlässig?»

«Hör mal, für meinen Schwager lege ich die Hand ins Feuer», entrüstete sich Steckelhörn.

Vor dem wiehernden Gelächter musste auch Schultheiß kapitulieren. Zwar verzog er keine Miene, aber Holm konnte sich gut ausmalen, wie erleichtert der Techniker war, dass schon die erste Demonstration so gut verlief. Das Eis schien gebrochen.

Der letzte Einbruch der Nacht hatte in einer Eigentumswohnung am Ulanendenkmal stattgefunden, und daran war nun einiges oberfaul. Die Bewohnerin, Mitte dreißig, geschieden, arbeitslos, behauptete, sie sei gegen 19 Uhr mit ihrem Wagen in den Stadtwald gefahren, um ihren Cockerspaniel auszuführen, und gegen 21 Uhr zurückgekommen. Als sie losfuhr, habe sie alle Fenster und die Wohnungstür verschlossen; bei ihrer Rückkehr sei wohl die Wohnungstür versperrt gewesen, aber alle Fenster standen weit offen. Der Dieb hatte allen Schmuck, ungefähr tausend Mark Bargeld und ein Nerzcape mitgenommen. «An der Wohnungstür war nicht die geringste Spur zu finden», erklärte Schultheiß kühl, und mehr musste er nicht ausführen. Die geöffneten Fenster waren ein plumpes Ablenkungsmanöver; um diese Jahreszeit war es um 21 Uhr noch viel zu hell, als dass ein Fassadenkletterer in den vierten Stock hätte hinaufturnen können.

Das Bild einer sehr attraktiven Frau erschien. Sie hatte nicht bemerkt, dass sie fotografiert wurde, und schaute mit nervöser Miene an der Kamera vorbei.

«Die schöne Helena. Helga Zischke. Hat ein Strafverfahren wegen Serienbetrugs am Hals», rief ein Mann aufgeregt.

«Na großartig», kommentierte Schultheiß trocken. Keine intelligente Methode, Sachwerte beiseite zu schaffen, und eine eidesstattliche Erklärung abgeben zu können.

«So, das waren die bis heute 19 Uhr protokollierten Einbrüche. Darf ich noch um Ihre Aufmerksamkeit bitten? Für die Besucher oder Kunden unserer Objekte während des heutigen Tages. Das geht jetzt ziemlich schnell, rufen Sie sofort <Halt>!»

Auf der linken Leinwand leuchtete in großer Schrift «Alpha, 23. 8., 9.00 Uhr» auf. Und dann alle drei Sekunden eine neue Person; die Uhrzeit-Anzeige raste in fünf Schritten durch den Tag; mehr Besucher hatten sich nicht an der Haustür eingefunden.

Für Beta brauchten sie mehr Zeit, obwohl sein Geschäft nicht gut lief. Nur zweiunddreißig Kunden, aber diesmal wurde häufiger «Halt!» gerufen. Zwei Trickdiebinnen, einschlägig bekannt, ein Taschendieb, ein BTM-Fall, ein Rauschgiftsüchtiger. Die gebückt laufende alte Frau passierte ohne Zwischenruf, ebenso der Kellner. Holm sagte nichts und beschloss, dem Forschen Bewährungszeit einzuräumen. Gamma wurde mit zweihundertzwanzig Kundinnen und Kunden anstrengend, aber auch lohnend. Vier Taschendiebe, zwei Prostituierte hatten das Geschäft während der regulären Geschäftszeit betreten. Eine junge Frau erschien, das Bild stoppte: «Gamma bietet Markenkosmetika zu stark herabgesetzten Preisen an. Gamma 4 hat einen Testkauf gemacht.»

«Vor drei Wochen ist im Güterbahnhof ein ganzer Container mit solchen Sachen geklaut worden», dröhnte eine Männerstimme. «Gut. Setzen Sie sich bitte mit meiner Kollegin Urban in Verbindung.» Die Saalmikrofone zeichneten jede Äußerung auf.

Die Motoren summten wieder, die Vorhänge glitten zur Seite.

«Mit dem vierten Objekt Delta hatten wir Pech. Kein Tageskontakt. Vielen Dank.»

Holm studierte unauffällig die Gesichter der Männer und Frauen, die laut und aufgekratzt miteinander redend aus dem Saal drängten. Ob alle ihre anfängliche Skepsis über Bord geworfen hatten, wagte er nicht zu hoffen, aber nach diesem Auftakt würden sie zumindest mitziehen. Eine kleinere Mannschaft setzte sich an die Geräte; Holm seufzte, als Schultheiß und Lincke auf ihn zusteuerten. Heute hatten sie noch darauf verzichtet, die Ergebnisse jener Recherchen vorzuführen, die von den Beobachtungsposten direkt angeordnet worden waren. Denn diese Anschlussuntersuchungen würden die einzelnen Ressorts massiv belasten und deren Begeisterung - wenn es sie überhaupt gab - gewaltig abkühlen.

Lincke lobte ernsthaft: «Das haben Sie sehr gut gemacht.»

Holm nickte zustimmend und gab sich heiterer, als ihm zumute war.

«Danke», gab Schultheiß zurück. «Wir haben noch Probleme mit der Nachtausrüstung der Verfolgergruppen ...»

Um 21 Uhr verließ Holm das Präsidium. Die Papierkriegschlacht war geschlagen, eine hitzige Debatte mit dem Personalrat gewonnen, der Zeter und Mordio schrie, weil die Nebenküche rund um die Uhr in Betrieb bleiben sollte. Draußen atmete er ein paarmal tief durch. <Eine Woche>, schwor er sich erneut. Aus dem Schatten löste sich eine Gestalt, die zögernd näher kam; er hatte die Verabredung mit Rechtsanwalt Bergius und Oberkommissarin Matthies glatt vergessen. Am liebsten hätte er sie zum Teufel gewünscht! Stattdessen riss er sich zusammen und heuchelte: «Sehr schön. Dann können wir in Ruhe ein Glas trinken.»

«James &Jim» schien einem Film entsprungen. Ein schmaler, tiefer Schlauch, bis zur halben Höhe holzgetäfelt; altmodische Ventilatoren quirlten den Mief, den eine leise zischende und klackende Klimaanlage absaugte. Hinter der langen Theke bewegten sich in gemessener Eile James und Jim, ein Zwillingspaar, das sein Alter ebenso erfolgreich verheimlichte wie seine wirklichen Namen. Getränke mussten an der Bar abgeholt werden, Sitzplätze waren rar, dafür gab es rund um vier Säulen schmale Abstellbretter.

Cordula Matthies staunte und wurde als einzige Frau angestaunt: «So was gibt’s?»

«Gott sei Dank», brummte Holm.

«Sie sind wohl gegen die Emanzipation?»

«Der Männer? - nein.» Daraufhin hielt sie vorsichtshalber den Mund. Bergius kam eine Viertelstunde später, begrüßte sie mit Handschlag und schmeichelte lachend: «Gott sei Dank mal ein erfreulicher Anblick in dieser Männergruft.»

Auch darauf antwortete die Oberkommissarin klugerweise nichts. Sie nahmen Bergius in die Mitte, und Holm kam sofort zur Sache: «Herr Rechtsanwalt, mich irritiert, dass die Reineckes ihre Reise nicht abbrechen.»

«Ja.» Bergius schnaufte. «Die Frage habe ich erwartet.»

«Mir will auch nicht so ganz in den Kopf, dass ein Mittsechziger zur Erholung von einem - wenn auch leichten - Herzinfarkt eine mehrmonatige Weltreise antritt.»

«Frage Nummer zwei. Wir reden ja nicht ganz offiziell miteinander, weswegen ich auch darauf bestehe, dass Sie meine Gäste sind. Die Reise dient weniger der Rekonvaleszenz eines lädierten Herzens als der Reparatur einer leicht angeknacksten Beziehung.»

«Hat der Knacks etwas mit dem Altersunterschied der Eheleute zu tun?»

«Ja, und mit der Tatsache, dass er völlig in seiner Arbeit aufgeht und sie Geselligkeit vermisst.»

«Ich ver... wir verstehen. Trotzdem muss ich nachhaken: Die Reineckes sind mit Ingeborg Wendel und ihrer Tochter Sara befreundet?»

«Ja.» Bergius ließ die Eiswürfel kreiseln. «Ich räume ein, dass unter diesen Umständen der Entschluss, nicht nach Hause zurückzukehren, etwas befremdlich wirkt.»

«Hm. Herr Rechtsanwalt, ist Ihres Wissens das Ehepaar in einen Kunstfehlerprozess verwickelt? Hat es einen solchen Prozess gegeben? Sind Christian oder Marianne Reinecke jemals bedroht worden? Erhebt jemand Ansprüche gegen die Reineckes?»

«Nein», antwortete Bergius ohne Zögern. «Ich weiß, Sie suchen nach einem Grund, warum jemand Sara so zugerichtet hat, und jetzt überlegen Sie, ob die Einbrecher Sara für eine Tochter der Reineckes gehalten haben können.» Er winkte James oder Jim und deutete auf ihre leeren Gläser. «Ich gebe Ihnen mein Wort als Anwalt und als Freund der Familie, dass mir nichts bekannt ist, was solch eine ... Bestialität erklären könnte.»

«Kennen Sie Ingeborg Wendel?»

«Ja, schon.» Das kam sehr kurz heraus, und Holm dachte sich seinen Teil.

Vor dem Eingang bemerkte Cordula Matthies spitz: «Es war sehr nett von Ihnen, dass Sie mich mitgenommen haben und ich nichts zu sagen brauchte.»

«Das war beabsichtigt», erwiderte er grob, «es erspart mir einen schriftlichen oder mündlichen Bericht.» Wortlos drehte sie sich um und verschwand in der Dunkelheit.

Der Mittwoch verlief schon viel geordneter, das System spielte sich überraschend schnell ein. Schultheiß befehligte eine gute Truppe, ohne Zweifel, und Holm konnte einmal zehn Minuten in seinem Zimmer dösen. Er verstand etwas mehr von der Elektronik und Datenverarbeitung, als er Schultheiß bisher eingestanden hatte, und eine der so hübschen wie geschlechtslosen jungen Damen konnte ihm die höfliche Bitte nicht abschlagen, einmal alle Programme aufzurufen, die sie eingespeist hatten. Äußerlich unbewegt saß sie neben ihm, und er spürte ihre innere Abwehr fast körperlich. Aber Schultheiß war unterwegs, er war der Leiter der Aktion. Weil er wusste, dass sein Schweigen sie irritierte, kargte er mit jedem Wort. Es war genauso, wie er spekuliert hatte: Bis zum Ende der SoKo Hehlerei gedachte Schultheiß nicht eine Information zu löschen, und die Menge der Verknüpfungsprogramme konnte selbst einen hartgesottenen Kriminalrat erschüttern. Zum Schluss schenkte er ihr nur ein bewusst kurzes, kaum freundliches Lächeln. Ihr winziger Busen hob sich sichtlich, als er aufstand.

Die «Tagesschau» - wer diesen sofort zündenden Namen in die Welt gesetzt hatte, blieb unklar - dauerte an diesem Tag schon sechs Minuten länger.

*


ANNEGRET MARQUARDT nahm noch während des ersten Läutens ab und schien ehrlich erfreut, seine Stimme zu hören.

«Ihr Wein war vorzüglich», lobte er zweideutig.

«Nur der Wein?»

«Getränk und Gastgeberin sind kongenial.»

«Schon verstanden», seufzte sie. «Fahren Sie langsam, mein Keller ist zu warm, ich muss eine Flasche im Kühlschrank zwischenlagern.»

Ihr Seufzer war wohl ehrlich gewesen: «Die Hitze macht mich fertig», stöhnte sie, und er verschluckte die anzügliche Bemerkung, dass sie eigentlich doch luftig genug angezogen sei. Es war aber nicht nur die Hitze, gestand sie. Vier Stunden war sie mit einem möglichen Kunden durch die Stadt gekurvt, aber alle Häuser, die sie ihm zeigen konnte, hatten Fehler, zu klein, zu weit draußen, zu teuer, zu laute Straße. Holm musterte sie unauffällig, weil ihm der Unterton nicht entging, ihr Klagen war ernster gemeint, als das lockere, selbstironische Plaudern ausdrückte.

«Sie haben scheint’s echte Sorgen.»

Einen Moment blieb sie stumm, dann fragte sie kläglich: «Hört man das so deutlich heraus?»

Er nickte freundlich und streckte die Hand aus: «Ich heiße Arno.» Eine halbe Minute ließ sie ihn warten, bis sie seine Hand ergriff: «Annegret»; aber als er sie zu sich auf die Couch zog, folgte sie willig. Ihr Körper war weich und warm, und nach dem ersten Kuss wussten sie beide, dass sie heute noch miteinander schlafen würden. Ungeschickt nestelte er die Haken auf, und sie drohte nur: «Wenn du einen abreißt, nähst du ihn auch wieder an.»

Sie bestand darauf, allein zu duschen; er hatte die Arme hinter dem Kopf verschränkt und döste zur dunklen Decke hinauf, wobei er überlegte, wie lange er noch bleiben musste. Im Bett hatten sie sich perfekt verstanden, so gut, dass er jetzt schon wieder Lust verspürte, aber selbst auf dem Höhepunkt hatte ihn nur ein fast unerträgliches Verlangen nach ihrem Körper getrieben; die Frau blieb ihm fremd, ja beinahe fern.

Sie kam nackt zurück und schmiegte sich wortlos an ihn. Mechanisch streichelte er ihren Rücken, bis sie leise aufstöhnte, und ihre Erregung teilte sich ihm so schnell mit, dass er sich brutal über sie warf.

Als sie ihn fortschickte, sträubte er sich nur zum Schein.

Am nächsten Morgen kaufte er für eine mehrwöchige Belagerung ein und erschien sehr verspätet im Präsidium. Lincke wartete schon auf ihn und forderte in seiner ruhigen, offenen Art: «Herr Holm, so geht das nicht. Wir machen hier keine wissenschaftliche Untersuchung am lebenden Objekt, sondern wir sollen Hehler festnageln.»

«Lassen Sie mir Zeit bis Montag.»

«Bis Montag - hm. Ist dann sichergestellt, dass die Informationen direkt an die Reviere fließen?»

«Ja, das verspreche ich Ihnen.»

Kurz vor Mittag wurde er aus dem Landtag angerufen: «Hier ist das Büro der Abgeordneten Wendel. Bin ich mit Kriminalrat Holm verbunden? — Ja? Einen Moment bitte.» Es knackte recht laut, und eine Frauenstimme legte im Eilzugtempo los: «Guten Tag, Herr Holm, hier ist Ingeborg Wendel. Haben Sie für heute Mittag schon etwas vor, oder können wir uns im Landtagsrestaurant treffen?» Gerade noch rechtzeitig entschied er, dass es nicht lohne, sich über ihren Ton zu ärgern, und passte sich deshalb ihrem Tempo an: «Dreizehn Uhr, Frau Abgeordnete?»

«Wie schön!» Damit knackte es erneut, und er sah den Hörer sehr nachdenklich an. Dass sie zu Kreuze kriechen würde, konnte er sich nicht vorstellen, aber für eine offene Schlacht hätte sie wohl kaum einen öffentlichen Kampfplatz mit Zeugen gewählt. Trotzdem rief er Cordula Matthies an: «Sind Sie weitergekommen?»

«Nicht einen Schritt.»

«Hm. Ich esse heute Mittag mit der Wendel.»

«Viel Spaß», wünschte sie schnippisch, konnte aber ihren Schreck nicht verbergen.

Das Landtagsrestaurant war immer gut besetzt, seit der neue Pächter einen zusätzlichen Eingang gebaut hatte, den auch Besucher ohne Hausausweis oder Passierschein benutzen durften. Dafür hatte man hinter dem früheren Eingang eine Kontrollstelle eingerichtet. Alle Parteien beschworen zwar die Bürgernähe des Parlaments, schienen sich aber hinter den Sicherheitsabschirmungen, die während der Terroranschläge aufgebaut worden waren und den Publikumsverkehr massiv behinderten, ganz wohl zu fühlen. Ingeborg Wendel saß am Fenster an einem Zweiertisch, und Holm hatte viel Zeit, sie zu betrachten, während er sich durch die engen Gänge schlängelte. Eine schöne Frau nach landläufigen Maßstäben war sie wohl nie gewesen, aber zur Strenge war Schärfe hinzugekommen. Die Härte, die sie nach außen zeigte, glaubte er ihr nicht; von Natur aus mochte sie kurz angebunden sein, aber alles andere war erfolgreiche Selbstdressur.

Sie gab ihm die Hand und schaute ihn forschend an: «Guten Tag, Herr Kriminalrat.»

«Guten Tag, Frau Abgeordnete.»

Ihr Blinzeln verriet nicht die geringste Wärme: «Was halten Sie von Familiennamen?»

«Sehr viel, Frau Wendel.»

«Ich auch, Herr Holm.» Es war wohl das Maximum an Herzlichkeit, das sie aufbrachte, und auch er lächelte nicht, als er sich setzte. Erst während des Essens schnitt sie das Thema an, das sie beschäftigte: «Haben Sie eine Spur der Täter?»

«Nein.» Schon auf der Fahrt hatte er sich zurechtgelegt, was er ausplaudern wollte. Ihm war klar, dass sie eine Absicht verfolgte, und ebenso stand für ihn fest, dass sie ihn nicht vor ihren Karren spannen würde. «Der Fall ist mehr als kompliziert.»

«Können Sie das, ohne Ihre dienstliche Schweigepflicht zu verletzen, etwas näher ausführen?»

«Natürlich. Die Täter oder ihre Helfer haben das Haus der Reineckes gründlich ausbaldowert. Sie wussten, dass sie nur durch diese eine Tür eindringen konnten. Bei allen anderen Türen bestand die Gefahr, von den Nachbarn bemerkt zu werden. Aber sie wussten offenbar nicht, dass sich Ihre Tochter und Bernd Klopfer diese Nacht im Haus aufhielten. Das spricht dafür, dass der Tatort von einem Einheimischen ausbaldowert worden ist, die Täter aber von außerhalb angereist und gleich nach der Tat wieder verschwunden sind.»

«Ja, die Masche ist mir bekannt.» Sie stimmte ganz sachlich zu, sie verstand eine Menge von Verbrechen und Verbrechensbekämpfung.

«Damit erhebt sich die Frage, auf was es die Täter abgesehen hatten.»

«Es muss so leicht oder so klein sein, dass sie es durch den Garten zu einem wartenden Auto tragen können.»

«Richtig. Das macht noch Sinn. Keinen Sinn ergibt es aber, dass die drei Täter zuerst Bernd Klopfer zusammengeschlagen und dann Ihre Tochter überfallen haben.»

«Sie wollten Zeugen ausschalten.»

«Unterstellt, es war so: Warum haben sie Klopfer und Sara nicht getötet?»

Auch bei diesem Satz zuckte sie nicht zusammen: «Vielleicht hielten sie Klopfer für tot und waren davon überzeugt, dass meine Tochter sie nicht identifizieren kann.»

«Auch das angenommen: Warum haben sie dann zum Schluss nicht das gestohlen, weswegen sie in das Haus eingebrochen waren?» Sofort entgegnete sie: «Auf eben diese Frage habe ich mir von Ihnen eine Antwort erhofft.»

«Ich habe keine Antwort.» Er schob den Teller zurück. «Frau Wendel, Sie müssen damit rechnen, dass der Fall nicht geklärt wird.»

«Herr Holm, Sie wissen genau, dass ich mich damit nie zufriedengeben werde. Decken wir unsere Karten auf?»

Er nickte, einerseits froh über ihre kühle Sachlichkeit, andererseits davon abgestoßen. In dem dunkelbraunen, bis zum Hals geschlossenen Kleid sah sie wie eine gefühllose Internatsleiterin aus, die Ordnung auch um den Preis gebrochener Kinderseelen erzwingen würde.

«Sie kennen meinen Standpunkt zur inneren Sicherheit.»

«Ja. Ich halte ihn für falsch.»

«Das erstaunt mich nicht. Es war übrigens ein geschickter Schachzug, Duhmen anzurufen. Sie haben völlig recht: Im Moment liegt mir noch daran, dass nicht bekannt wird, was meiner Tochter ... zugestoßen ist. Nicht nur, weil danach alle meine politischen Aktionen als persönliche Rache abgewertet würden. Ich möchte Sara auch eine Publicity ersparen, die ihr ganzes Leben belasten würde. Vielleicht sogar ruinieren. Aber, Herr Holm, das ist mein momentaner Standpunkt.»

«Den Sie jederzeit ändern können?»

«Ja, natürlich. Vorher will ich ausprobieren, ob es nicht einen anderen Weg gibt. Und dazu brauche ich Ihre Hilfe. Wir haben eine Kronzeugenregelung.»

«Eine befristete, Frau Wendel. Für - oder gegen – Terroristen.»

«Das ist eine Interpretationsfrage, Herr Holm.»

«Und wie lautet Ihre Interpretation?»

«Für Bandenverbrechen. Drei Einbrecher plus ein Fahrer sind eine kriminelle Vereinigung. Ich bin bereit, einen billig davonkommen zu lassen, wenn die anderen drei ihre verdiente Strafe erhalten.» Obwohl er sie aufmerksam musterte, konnte er nicht die leiseste Erregung in ihrem Gesicht entdecken. Plötzlich verstand er, warum Sara Wendel bei den herzlichen Klopfers ein und aus gegangen war. Und im selben Moment begriff er auch, was Duhmen mit der Bemerkung gemeint hatte, er habe der Abgeordneten vorgeschlagen, Ehebrecher öffentlich zu steinigen. Es konnte sich nur um ihren Ehemann handeln, der sie einmal betrogen hatte.

«Das liegt nicht in meiner Kompetenz», wehrte er endlich ab, und sie schüttelte ungeduldig den Kopf: «Das weiß ich. Aber Sie können das Angebot über Ihre Kanäle verbreiten.»

«Selbst wenn es mir von der Staatsanwaltschaft befohlen würde, Frau Wendel, würde ich es nicht tun.»

«Denkt Ihre Kollegin Matthies ebenso?»

«Keine Ahnung. Aber ich werde ihr gar keine Möglichkeit lassen, nach eigenem Gutdünken zu entscheiden.»

Zum ersten Mal lächelte sie, freudlos zwar, aber immerhin. Sie hatte von Anfang an nicht mit seiner Kapitulation gerechnet. «Duhmen hat Sie als Paradiesvogel bezeichnet.»

«Wenn er damit meinte, dass ich nicht in ein Schema passe ...» Er zuckte die Achseln, mehr amüsiert als beleidigt.

«Paradiesvögel machen entweder schnell Karriere oder sind schnell draußen - was Sie bitte nicht als Drohung missverstehen.»

Darauf erwiderte er nichts. Heute wollte sie die Kriegserklärung noch nicht aussprechen, das stand fest, aber für die Zukunft behielt sie sich alles vor. Er winkte dem Ober und fragte beiläufig: «Haben Sie eigentlich Feinde?»

«Wahrscheinlich eine ganze Menge. Warum?»

«Ist Ihnen schon einmal die Idee gekommen, dass sich jemand an Ihnen rächen wollte, indem er Ihre Tochter überfiel? Dass es kein Zufall war, dass die Einbrecher Sara im Hause Reinecke antrafen?»

«Lächerlich», wischte sie seine Frage sofort beiseite.

«Diese Möglichkeit müssen wir jedenfalls noch überprüfen.»

«Das will ich nicht hoffen, Herr Kriminalrat.»

«Was wir für nötig halten, sollten Sie schon uns überlassen, Frau Abgeordnete.»

In ihrem Gesicht zuckte kein Muskel, und als der Ober mit dem Rechnungsblock an ihren Tisch trat, bestimmte sie kühl: «Getrennt bitte.»

Die «Tagesschau» wurde ein überwältigender Erfolg. Aus der Nacht zuvor waren fünf Einbrüche gemeldet worden, dank der Mitarbeit der Reviere und ihrer Kriminalwachen konnten bis 17 Uhr noch elf Wohnungseinbrüche in das System eingespeist werden, sodass allein durch Identifikation der Täter und der Beute zwölf Fälle «am Bildschirm» aufgeklärt wurden. Im Saal brach mittlere Begeisterung aus, und Schultheiß, immer noch der kühle Moderator, nutzte die Stimmung und berichtete ganz beiläufig, was sie noch so ausprobierten.

Von der Alpha'schen Hintertür war um drei Uhr nachts ein Einbrecher weggefahren, den sie verfolgten. Der Mann hielt an einer Straßenecke und nahm eine Frau auf, die von den verfolgenden Zivilfahndern mit einer «modernen Kamera» - mehr erklärte Schultheiß nicht - fotografiert worden war. Das Bild erschien.

«Stopp!», rief ein Mann laut. «Maria Schöne, genannt die schöne Milli, eine Trickdiebin, mehrfach vorbestraft.»

«Danke.» Links oben erschien die Zahl 37, unter der die schöne Milli nun im System geführt wurde.

Das Pärchen fuhr weiter, bis zur Hafergasse, wo der Mann ausstieg; Milli kutschierte in ein besseres Stadtviertel und parkte in der Garagenauffahrt eines kleinen Einfamilienhauses.

«Theodor-Storm-Weg 24. Ist die Anschrift einem Kollegen ein Begriff?» Im Saal blieb es still. «Der Eigentümer heißt Karl-Gustav Wennerts.»

«Halt!» Eine andere Stimme. «Die schöne Milli hat mal für einen Oskar Wennerts gearbeitet. Der sitzt aber noch, mehrfache schwere Körperverletzung.»

«Wer kontrolliert, ob es sich um Verwandtschaft handelt?»

«Das vierte», dröhnte eine tiefe Bassstimme.

«Danke. Ein anderer Fall von Kombination.»

Holm drehte den Kopf und betrachtete unauffällig die Computer Mannschaft. In acht oder zehn Wochen, so schätzte er, konnte ein kommunales Abbild der beiden bundesweiten Datensysteme INPOL und PIOS entstehen, eine Datei, die alle bekannt gewordenen Personen, Adressen, Sachen und Informationen miteinander verknüpfte - aber wesentlich effektiver als INPOL/PIOS, weil das Netz dichter, kleinmaschiger war und entgegen den gesetzlichen Bestimmungen auch alle jene vorerst Unbescholtenen samt Bild aufbewahrte, die mit Tatverdächtigen und Vorbestraften zufällig in Kontakt geraten waren. Er wettete mit sich selbst: Schultheiß würde es «Umfeldforschung» nennen.

«Gamma überwacht, wie Sie wissen, einen stark frequentierten Trödelladen. Wir halten die Bilder aller Kunden elektronisch fest und können, dank eines modernen Rastersystems, die Bilder aller Kunden miteinander vergleichen. Dabei spielt übrigens keine Rolle, ob die Gesichter von vorn oder von der Seite aufgenommen worden sind.» Im Saal erhob sich ein leichtes Raunen, das Schultheiß bewusst ignorierte. «Achten Sie bitte auf die Datums- und Uhrzeitanzeige.»

Eine junge, auffällig hergerichtete Frau erschien dreimal auf der Leinwand, an drei Tagen jeweils gegen 12 Uhr mittags. Jedes Mal trug sie eine große Ledertasche in der Hand - voll beim Hineingehen, offenkundig leer oder zumindest leicht beim Verlassen des Geschäfts.

«Das war Nummer 18. Beachten Sie die nächste Frau, Nummer 25 nach unserer Zählung.»

Dick, fett und selbst auf die Entfernung kurzatmig. Auch sie erschien regelmäßig, zwischen 13 und 14 Uhr. Sie bevorzugte Plastikbeutel, sodass sich eindeutiger erkennen ließ, dass sie an den drei Tagen etwas ins Geschäft hineingetragen, aber nichts herausgebracht hatte.

«Sollten die beiden Hübschen morgen wieder erscheinen, schlägt die Überwachungsautomatik selbständig Alarm. Wir werden sie dann verfolgen, um Namen und möglicherweise Arbeitsplatz festzustellen.»

Und wieder überhörte Schultheiß elegant das anhebende Gemurmel.

Auch Delta, bisher ergebnislos, hatte bei dieser «Tagesschau» etwas beizusteuern. Die Bilder zeigten Autos und ihre Kennzeichen, «Heino Himmerisch und Werner Schlutz, genannt Schrulle». «Halt!» Ein Mann schien regelrecht protestieren zu wollen. «Die beiden haben sich bei Delta getroffen?»

«Ja.»

«Ausgeschlossen. Himmerisch hat sechs Jahre gesessen, weil Schrulle ihn nach einem Banküberfall verpfiffen hat.»

«Kein Zweifel, dass die beiden siebzig Minuten zusammen bei Delta gewesen sind.»

«Was? Also, dann fällt Weihnachten und Ostern auf einen Tag.»

«Sind denn beide noch im Geschäft?»

«Klar. Aber beweisen können wir ihnen nichts.»

«Einverstanden, dass sich OK darum kümmert?»

Zwar blieb es im Saal stumm, aber Holm spürte förmlich die Abneigung. OK war das Kürzel für Organisierte Kriminalität, und für diese Abteilung war das, was Schultheiß hier an Arbeit leistete, geradezu Gold wert. Schultheiß schien zu merken, dass er sich auf glattes Eis gewagt hatte, und fuhr rasch fort. Für den Schluss hatte er sich einen Clou aufgespart; die Taktik war so offensichtlich, dass Holm einen Moment bangte, weil es verdammt durchsichtig war - erst Rizinus, dann ein Stück Schokolade.

«Wir haben die Tageseinbrüche der vergangenen drei Tage nach dem Modus Operandi verglichen.» In schneller Folge erschienen Bilder von primitiv aufgebrochenen Wohnungstüren. «Dienstag drei, Mittwoch zwei, heute vier Wohnungen. Immer nur technisches Gerät und Schmuck. Heute haben wir einen Fingerabdruck sichern können. Manfred Körner, mehrfach Verstoß gegen BTM, zweimal Entziehung, angeblich clean.»

Die vom Erkennungsdienst gemachten Bilder erschienen.

«Laut Auflage feste Anschrift, bei seiner Freundin.»

Ein junges, zierliches, arg naiv aussehendes Mädchen.

«Diane Meier, Sekretärin, halbtags beschäftigt. Achten Sie auf den Eingang von Beta.»

Kein Zweifel, das Mädchen betrat das Beta-Geschäft. Zwei Minuten später erschien sie wieder mit einem Mann auf der Straße.

«Das ist Beta.»

Gemeinsam gingen sie zu einem Auto und stiegen ein.

«Sie sind zum alten Güterbahnhof an der Eickener Straße gefahren. Leider bekamen wir nicht schnell genug Verstärkung heran. Die beiden hielten sich etwa sechs Minuten in der alten Eilgutabfertigung auf. Achten Sie auf die herauskommenden Personen.»

Beta und Diane Meier waren jetzt in Begleitung eines vielleicht dreißigjährigen Mannes, der ziemlich verwildert und brutal aussah. Er trug Lederkluft und hielt einen auffällig gefärbten Sturzhelm in der Hand.

«Stopp!» Da jubelte Christine Schütze vom Rauschgift-Dezernat. «Albert Sackmann. Wir vermuten, dass er seit einem Jahr in größerem Stil dealt. Einschlägig vorbestraft.»

«Sehr schön. Natürlich wird das Gelände rund um die Uhr bewacht. Vielleicht gelingt uns heute Nacht ein Einbruch in die Beschaffungskriminalität.»

Lautes Gelächter brauste auf, Schultheiß brauchte einen Moment, bis es klickte, und stimmte dann ein: «Okay, ein Einbruch ins Einbruchgeschäft. Das wäre dann der Abbruch für heute.»

Holm, Schultheiß und Lincke berieten noch eine Stunde. Sie brauchten mehr Gruppen, die Verdächtige verfolgten. Nach langem Hinundhergerechne verkleinerten sie die Überwachungstrupps und zogen sie zur Hälfte von den Objekten ab, um sie zentral einzusetzen. Lincke musterte Schultheiß heimlich und musste sich anstrengen, sein Misstrauen nicht zu deutlich zu zeigen.

An diesem Abend kamen sie erst in Annegrets Schlafzimmer dazu, einen Schluck zu trinken, beide noch schwer atmend und von der Heftigkeit ihrer Begegnung überrascht.

«Junge, Junge», murmelte sie endlich, «wer hätte das von uns gedacht.» Die dumme Bemerkung brach den Bann oder die leise Verlegenheit, die sich zwischen ihnen eingeschlichen hatte; sie konnten gemeinsam lachen.

Auch dieses Mal schickte sie ihn fort: «Ich freue mich, wenn du kommst. Aber erstens bin ich ein Morgenmuffel und zweitens eine berufstätige Frau, die ihren Schlaf braucht und leider viel zu früh aufstehen muss.»

Um Mitternacht waren die Straßen wie leer gefegt. Das Tor der Hofeinfahrt stand weit auf, auch das fernbediente Klapptor der Tiefgarage war hochgefahren. Die Neonleuchten, die sich aus Sicherheitsgründen automatisch anschalteten, sobald das Tor sich nach oben bewegte, brannten wohl, aber in der Garage war niemand zu sehen.

Er stieg aus, schloss ab und hörte das widerliche Zirpen den Bruchteil einer Sekunde früher als den Schuss. Unter die Explosion mischte sich das unverkennbare Platschen von Metall auf Metall. Ein Reflex, nicht eine überlegte Handlung, riss ihn von den Beinen, ein zweiter Schuss krachte, und als er schmerzhaft auf dem Boden aufschlug, ein dritter. Im selben Moment erlosch die Garagenbeleuchtung. Immer noch vor Schreck gelähmt, wartete er, aber danach passierte nichts mehr, nur noch ein saugendes Geräusch - aber er war sich nicht sicher, ob Angst und Erregung ihm nicht einen Streich spielten. Zumal er zitterte wie Espenlaub!

Er lauschte, bis das Rauschen in seinen Ohren alles übertönte. Wer immer auf ihn geschossen hatte, war lautlos geflohen, und als er zu dem Schluss gekommen war, beruhigte er sich wieder. Unmittelbar nach dem ersten Schuss war er umgefallen, und der Schütze mochte geglaubt haben, ihn schon mit der ersten Kugel erwischt zu haben. Seine Dienstwaffe lag natürlich, fein säuberlich eingeschlossen, im Büro.

Ächzend und fluchend rappelte er sich hoch. Das linke Knie und der linke Ellbogen brannten wie Feuer. Er humpelte zum nächsten Lichtschalter und besah sich die Bescherung. Der Anzug war hin, Jackenärmel und Hosenbeine brauchten keinen Kunststopfer, sondern einen Flickschneider - und da begann er endlich zu lachen. Wenn er sich um seine Anzüge grämte, konnte ihm nicht viel passiert sein. Der Schütze hatte rechts neben dem Garagentor gestanden, die drei ausgeworfenen Patronenhülsen waren unter einen anderen Wagen gerollt, und er musste sich flach auf den Boden legen, den Rest des Anzugs ruinieren, um sie hervorzuangeln. Neun-Millimeter-Langmunition.

Die erste Kugel hatte ihn, wie er schätzte, wirklich nur knapp verfehlt und war von einem Betonpfeiler abgeprallt und gegen das Gitter des Entlüftungsschachtes geschlagen. Die zweite steckte in einer Mauerfuge, die dritte konnte er nicht entdecken.

Das Licht erlosch, er beeilte sich, es wieder anzudrücken.

Nein, die Kollegen würde er nicht alarmieren. Gegen einen neuen Mordversuch konnten sie ihn ohnehin nicht schützen, und noch wollte er keinem Menschen auf die Nase binden, was er vermutete.

In den frühen Morgenstunden gelang es einem Kommando, eine ganze Bande festzunehmen. Schultheiß hatte die Tageseinbrüche «genauer untersucht» - was immer das heißen mochte - und drei Siedlungskomplexe als wahrscheinliche Ziele vorhergesagt. Kurz nach neun Uhr tauchte die Bande vor einem der Hochhäuser auf und wollte, von oben nach unten vorgehend, Kleinwohnungen alleinstehender Berufstätiger aufbrechen.

Nicht ins System übernommen, sondern nur in Form eines gesonderten Berichts festgehalten war die unerfreuliche Tatsache, dass Beamte bei der Vernehmung der Festgenommenen körperliche Gewalt angewendet hatten. Holm runzelte ärgerlich die Stirn.

Am Güterbahnhof Eickener Straße gingen zwei auswärtige Hehler den wartenden Kollegen ins Netz.

Diane Meier, am Arbeitsplatz überrumpelt, gab bei der Vernehmung die Namen von zwei Männern preis, die ihren Freund Manfred Körner regelmäßig besuchten. In der Wohnung eines Mannes erschnüffelte ein Suchhund 55 Gramm Crack.

Schrulle witterte Lunte, als er zum Verhör abgeholt werden sollte, zog eine Waffe und feuerte auch noch zwei Schüsse ab, bevor ein zu hastig gezielter Bauchschuss ihn umwarf.

Heino Himmerisch floh durch ein Fenster, als Polizisten seine Wohnungstür aufbrachen; in einem Versteck lagen Banknoten aus einem Überfall auf eine Dorffiliale der Genossenschaftsbank.

Maria Schöne, die «schöne Milli», Karl-Gustav Wennerts: Die Kollegen bekamen zu spüren, was die SoKo dank der Elektronik leistete oder leisten konnte. Noch überwog die Begeisterung, noch beklagte sich keiner über die Mehrarbeit; Schultheiß moderierte unverändert kühl und zügig, Lincke schwieg, und Holm hielt sich bewusst im Hintergrund.

Die beiden Frauen waren wieder bei Gamma erschienen; nun bestand kaum noch ein Zweifel, dass sie Diebesgut verscherbelten. Namen und Adressen waren bekannt, die Überwachung würde also an der Wohnung ansetzen.

Bei Alpha hatten wieder zwei Männer Beute abgeliefert, die sie erst Stunden zuvor bei Einbrüchen gemacht hatten. Sie verschwanden, kehrten nach vierzig Minuten zurück und leerten abermals den Kastenwagen aus. Diesmal hielt die Kamera eine auffällige Standuhr fest, die zwei Tage zuvor bei einem Einbruch verschwunden war, den die Kollegen Rauschgiftsüchtigen zugeschrieben hatten. Waren die beiden Männer Zwischenhehler? Auch diese Spur wurde bereits verfolgt.

Albert Steckelhörn und sein Schwager gestanden, überrumpelt von den präzisen Angaben, die ihnen die Bullen vorhielten ...

Nach der «Tagesschau» standen sie noch zusammen, tranken die letzte Tasse Kaffee und beobachteten den Personalwechsel in der Zentrale. «Es lohnt sich», bemerkte Lincke unvermittelt, «aber Ihnen ist doch klar, dass ein vernünftiges System von Revieren und Wachen das alles auch leisten könnte?»

Schultheiß schoss dem Hauptkommissar einen scharfen Blick zu und fiel zum ersten Mal aus der Rolle: «Mit einer Ausnahme, Herr Lincke. Diese Prognose, wo die nächste Serie von Tageseinbrüchen beginnt - also, das kann meine Maschine besser.»

Holm machte, dass er fortkam, bevor der anscheinend bis zur Weißglut gereizte Lincke die Beherrschung verlor.

*


WELLO HATTE IM BILLARDSALON einen Dummen gefunden, dem er einen Hunderter aus der Tasche ziehen konnte, und Holm musste lange warten, bis der Spitzel zu ihm ins Auto stieg. Vor Begeisterung hüstelte er ausgiebiger als sonst, und Holm gab Gas; das Geräusch machte ihn wahnsinnig.

Natürlich hatte sich längst herumgesprochen, dass Siebolds Männer den Hehlern auf der Pelle klebten, grob, unfreundlich, jederzeit zu Handgreiflichkeiten bereit. Der Fels hatte die abschreckendste Aufnahme der erschossenen Christa Oldenberg vervielfältigen lassen, die Augen weit aufgerissen, das Gesicht blutverschmiert und zu einer Fratze verzerrt. Wer auch nur aufzumucken wagte, dem wurde das Bild dicht unter die Nase gehalten: «Na, Freundchen, noch was?» Der Fels verstand eine Menge von erlaubter und unerlaubter psychologischer Kriegsführung.

Wello druckste herum, aber spurte: «Wie im Hühnerhof, Herr Rat, alles läuft kopflos herum, seit ihr die Abnehmer so scharf bewacht.»

«Vergiss nicht, wir haben eine Kollegin verloren.»

Wello hatte es nicht vergessen: «Ja, ja, was meinen Sie, wie die Kumpels alle auf den Arsch schimpfen, der da rumgeballert hat. Umbringen könnten sie den.»

«Lässt denn einer mal verlauten, wer’s gewesen sein könnte?»

«Nee, das ist es ja. Absolute Funkstille. Keiner weiß was, keiner hat was gehört ...»

«Würde eine Belohnung helfen?»

«Nee, nee. Auch ohne Belohnung möchte jeder euch loswerden.» Gegen diese Logik war nicht viel einzuwenden; Holm schmunzelte, und Wello schnaufte, bevor er ängstlich herausplatzte: «Ihr seid doch sonst nicht so hartnäckig. Da ist doch noch was.»

Diese indirekte Frage hatte er erwartet, und er wusste auch, dass Wello die Antwort verkaufen würde; viele wollten nur zu gerne wissen, was die Polizei wirklich im Schilde führte.

«Na schön. Zwei Dinge. Mit der Waffe ist schon einmal ein Polizist angeschossen worden.» Eine glatte Lüge, die sich aber gut machte. «Und dann - wir haben in den ausgeraubten Wohnungen einen Fingerabdruck gefunden, und der hat’s in sich, Wello. Ein Sizilianer, der den Amis mal durch die Lappen gegangen ist.»

«Sizilia ...?», stotterte Wello. «Mafia?»

«Und wie. Ganz groß, ganz blutig und ganz skrupellos.»

Wello keuchte leise. Die kleinen Diebe, Spitzel und Abstauber fürchteten die Großorganisation genauso sehr wie die Polizei, viel Geld hieß viel Gewalt, und die kleinen Leute gerieten rascher, als ihnen lieb war, zwischen die beiden Mühlsteine Polizei und Pistolenhelden. Ganz abgesehen davon, dass sich die Neuen rücksichtslos in die Pfründe der Heimischen drängten.

Holm griente verstohlen, als er sah, dass auch die zweite Lüge wirkte. «Pass auf, Wello, damit’s keine Missverständnisse gibt: Der Abdruck muss nicht beim Bruch entstanden sein, verstehst du? Der Typ kann dort vorher ganz harmlos zu Besuch gewesen sein.»

«Was auch nicht viel besser wäre», murmelte Wello zu Holms aufrichtiger Freude. «Mensch, Herr Rat, das is ja ’n Ding.»

«Sicher, Wello, die verbreiten sich wie die Pest. Aber wer hat sie geholt? Und ihnen die Tipps gegeben? Ist dir mal aufgefallen, dass bei zwei großen Brüchen an einem Vormittag zweimal ganz brutal Gewalt angewendet worden ist? Wir nennen so was Visitenkarten.»

Den Kleinen schien es zu zerreißen: «Und einer aus der Stadt ...?»

«Der jetzt U-Boot spielt, Wello. Behalt das aber vorläufig für dich. Wir wollen keine Pferde scheu machen.»

«Ja, ja, klar doch», log Wello ebenso geläufig.

Danach musste er sich beeilen. Er hatte Annegret zum Essen eingeladen, was sie nach langem Zögern auch angenommen hatte, aber das Essen wurde kein Erfolg. Sie war merkwürdig gereizt, er tat sein Bestes, sie zu unterhalten, aber so viel und so witzig er auch erzählte, sie blieb wortkarg. Trotzdem verbrachte er die Nacht in ihrem Haus, obwohl von der Heftigkeit ihrer ersten Begegnungen nichts mehr zu spüren war. Am nächsten Morgen überredete er sie, in das Thermalbad zu fahren; jetzt hatte sie Mühe, ihre schlechte Laune zu verbergen, und gegen Mittag, als sie im Schatten einer mächtigen Kastanie vor sich hindösten, kam es zu einer Auseinandersetzung, die seit gestern in der Luft lag.

«Eigentlich hast du für mich gar nichts übrig», klagte sie ihn an. Sie sprach leise, aber scharf, und er richtete sich halb auf. «Mein Körper interessiert dich, das stimmt, aber sonst ...»

«Was erwartest du von mir?», konterte er sachlich. «Liebesschwüre? Ich bin kein Jüngling mehr ...»

«... und ich keine Jungfrau mehr, das wolltest du doch andeuten?»

«Ich bin nicht dein erster Liebhaber», entgegnete er, immer noch ruhig, weil er keinen Streit in aller Öffentlichkeit austragen wollte. «Du bist eine attraktive, selbstbewusste Frau und lebst trotzdem allein. Also wirst du deine Gründe haben. Ich bin nicht attraktiv, älter und habe mich nie gebunden. Weil ich auch meine Gründe habe.»

«Das bestreite ich ja nicht. Aber Sex allein reicht mir nicht, und wenn es schon keine Liebe ist, so sollte es wenigstens Vertrauen sein.» Weil er keine Lust hatte, sie mit Lügen zu beschwichtigen, schwieg er lieber. «Du bist ein Einzelgänger, okay, in deinem Alter muss eine Frau damit rechnen. Aber ich finde, du übertreibst, und noch schlimmer ist: Ich fürchte, es macht dir sogar Spaß.»

Langsam legte er sich wieder auf den Rücken und starrte in die Zweige hinauf, die im hellen Sonnenlicht unaufhörlich ihre Farben wechselten, weil ein leiser Hauch die Blätter bewegte. Ihr Vorwurf - ihr berechtigter Vorwurf - traf ihn nicht. Deswegen wollte er auch nicht heucheln und die große Klagearie des einsamen Mannes anstimmen, der ruhelos die Welt durchstreift, immer auf der Suche nach der wahren Liebe oder dem Hafen der Ruhe und Zuneigung. Früher hatte er es in bestimmten Situationen geglaubt und manchmal ausgesprochen, aber viele Enttäuschungen hatten ihn erst Vorsicht gelehrt und dann hart gemacht. Heute brauchte er niemanden, und deshalb war ihm die attraktivste Geliebte keine Verstellung mehr wert.

Dabei hätte er Annegret erklären können, wann es angefangen hatte. Auf dem Gymnasium, ein Jahr vor dem Abitur; eine junge Engländerin, eine Austauschlehrerin, verfolgte ihn bis in seine Träume. Im Unterricht stotterte er, wenn sie ihn aufrief. Drei betrunkene Männer überfielen sie spätabends. Der Alkohol hinderte sie an der Vergewaltigung und anschließend, als sie Hilfe herbeischrie, an der Flucht. Im Prozess zeigten sie nicht die Spur von Reue, und das verletzte ihn so sehr, dass er allen Mut zusammennahm und nach Schulschluss auf sie wartete, weil er ihr sagen wollte, dass nicht alle Männer so waren. Sie hatte ihn nicht einmal ausreden lassen; mit hochrotem Gesicht schrie sie ihn an; er verstand nicht viel, weil sein Englisch zu schlecht war, weil sie viel zu erregt kreischte, aber den Sinn begriff er sehr gut und sehr richtig. Alle Männer wollten nur eines, die einen mit Gewalt, die anderen mit Süßholzraspeln ... Nach seiner gescheiterten Verlobung war er noch einmal eine ernste Beziehung eingegangen. Christa war verheiratet, das hatte sie nicht verheimlicht, lebte aber von ihrem Mann getrennt. Doch als er nach sechs Monaten zum ersten Mal das Thema Scheidung anschnitt, lachte sie ihn aus: Ob er wirklich so naiv sei? In einem Monat kam ihr Mann von der Auslandsmontage zurück. Und sie hätten doch eine schöne Zeit miteinander gehabt - oder?

«Warum sagst du nichts?», unterbrach sie seine Erinnerungen.

«Es ist ja schon alles gesagt», antwortete er gleichmütig.

«Soll das heißen, du lässt mich einfach gehen?»

«Es ist allein deine Entscheidung.»

Sofort stand sie auf und zog das Oberteil ihres Bikinis an. Einen Moment schwankte er, ihre Figur war der Traum eines jeden Mannes, und nicht viele Frauen gewannen Sex so viel Spaß ab. Aber als sie sich wortlos entfernte, schnaufte er erleichtert. Die Blicke vieler Männer klebten wie Fliegen auf ihrer Haut.

Sammelband 4 Horst Bieber Krimis: Zeus an alle / Was bleibt ist das Verbrechen / Moosgrundmorde / Nachts sind alle Männer grau

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