Читать книгу Sammelband 4 Horst Bieber Krimis: Zeus an alle / Was bleibt ist das Verbrechen / Moosgrundmorde / Nachts sind alle Männer grau - Horst Bieber - Страница 28

12.

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Der «Harte Stein» hatte bis weit in das 17. Jahrhundert als Zwing- und Fluchtburg gedient, fast uneinnehmbar auf einem vierzig Meter hohen Felsen errichtet, der nach drei Seiten schroff in das fruchtbare Hügelland abfiel. Den einzigen Zugang im Nordwesten hatten viele Burgherren und Landesfürsten immer wieder versteilert, mit Mauern, Gräben und Zitadellen geschützt, Kasematten graben lassen, zum Schluss eine zweite Ummauerung hochgezogen und den Zwischenraum geflutet. Der «Harte Stein» hatte jeder Belagerung getrotzt, war nie gestürmt worden, wurde nur einmal übergeben, als das anrückende feindliche Heer drohte, sonst die ungeschützte Landeshauptstadt niederzubrennen.

Fast hundert Jahre verfiel die Befestigung. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde sie zu einem Gefängnis Umgebaut, das sich schnell einen fürchterlichen Ruf erwarb, der alle Um und Anbauten, Erweiterungen und Modernisierungen überdauerte. Alte Knackis behaupteten, bei der Gesetzesreform, die das «Zuchthaus» abschaffte, sei der Hartenstein vergessen worden. Und ebenso hartnäckig hielt sich das Gerücht, in der mit 650 Mann hoffnungslos überbelegten Justizvollzugsanstalt sorgten Rollkommandos aus Schließern und Langjährigen brutal für Ruhe und Ordnung. Auf den Hartenstein wurden die Rückfälligen und Unverbesserlichen geschickt.

Holm ärgerte sich, als er pünktlich zur vereinbarten Zeit in das Vorzimmer des Anstaltsleiters kam und eine mehr als kurz angebundene Bohnenstange ihm erklärte, der Chef lasse sich wegen eines überraschend anberaumten Termins im Ministerium entschuldigen.

«Aber sein Stellvertreter erwartet Sie schon.»

Bei der verächtlichen Betonung des Wortes «Stellvertreter» schwante ihm, was sich hier abspielte, und wie er vermutet hatte, entpuppte sich Albert Tesch als ein ungeschickter, tapsig freundlicher Mann, mit dem sich Holm sofort verstand. Die Zeichnung des Mannes, der «Mischa» heißen sollte, betrachtete er nur kurz und schüttelte sofort den Kopf: «Nie gesehen.»

«Sind Sie sicher?»

«Ja. Aber ich habe alles vorbereitet.»

Im Laufe der nächsten Viertelstunde betraten zwölf Beamte das Zimmer, die ausnahmslos ohne Zögern verneinten: «Der ist nie im Hartenstein gewesen.»

Tesch hatte ein Übriges getan und die Akten aller Männer bereitgelegt, die längstens vor fünf Jahren und wenigstens vor sechs Monaten entlassen worden waren. Einzelne Bilder auf den Karteikarten konnten den Betrachter das Gruseln lehren, aber keines hatte so viel Ähnlichkeit mit der Mischa-Zeichnung, dass Holm auch nur die Angaben zur Person durchgelesen hätte. Unzufrieden trank er seinen Kaffee aus und bedankte sich bei Tesch.

«Pech gehabt?»

«Tja. Wahrscheinlich hat er sich mit dem Hartenstein nur aufgespielt.»

«Möglich.» Teschs Augen wurden trübe. «Ich wünschte, Sie würden sich irren.»

Einen Moment glaubte Holm, Stolle zu hören.

Mit der Rückfahrt ließ er sich Zeit, aß in einem Dorfkrug und rief anschließend Hans-Werner Bockel in Frankfurt an: «Ha-We, es geht noch einmal um diese Zeichnung. Dieser Mischa ist nie im Hartenstein gewesen.»

«Verstehe ich nicht. Mein Informant war immer hundertprozentig.»

«Ich komme morgen selbst mal nach Frankfurt, einverstanden?»

«Aber immer!»

Zur «Tagesschau» war er zurück. Auf seinem Schreibtisch lag ein Zwischenbericht «Einbruch Waldsaum, zum Nachteil Klopfer/Wendel», der nach Meinung der Ermittlungsleiterin aus vielerlei Gründen vorerst nicht aufzuklären war. Er unterschrieb eine Abgabeverfügung.

Am Wochenende hatten ihre Kunden wieder kräftig zugelangt, allein zweiundzwanzig Einbrüche in Wohnungen und Einfamilienhäusern. Ein heißer Bruch in einer Bankfiliale. Der Nachtwächter war überfallen und mit Chloroform betäubt worden; einer seiner Angreifer hatte seine Runde bis zum Montagmorgen übernommen, den alten Mann zwischendurch verpflegt und so pünktlich alle Stechuhren und Kontrollanlagen bedient, dass bis zur Öffnung der Bank kein Alarm ausgelöst wurde. An den mit Zeituhr und Fernsehüberwachung gesicherten Haupttresor hatten sich die Kerle nicht herangewagt, dafür mit sehr viel Erfolg an die Mietfächer.

Aus einer Etagenwohnung waren Bleikristallvasen und -gedecke gestohlen worden. Die Mieter, die am Sonntagabend vom Segeln nach Hause kamen, besaßen Bilder. Die Stücke wurden schon am Montagmorgen in Gammas «Filialen» als Trödel angeboten.

Beta offerierte Bücher, die aus der Universitätsbibliothek ausgeliehen und nie zurückgebracht worden waren.

Alpha verhandelte im Hof mit einem jungen Mann, der seine Verfolger zu einem Gartenhäuschen führte: Dort waren vierundsiebzig Autoradios aller Marken gestapelt.

Lincke tastete sich noch während der «Tagesschau» an Holms Schreibtisch und beugte sich herüber: «Vielen Dank, Herr Holm. Ich glaube, es ist für uns alle besser, wenn ich nichts merke.»

«Völlig einverstanden, Herr Lincke.»

Er musste früh aufstehen, weil er ein vorsichtiger Fahrer war und Rasen verabscheute. Die Autobahn lief langsam, und wenige Kilometer vor seiner Ausfahrt nach Frankfurt wurde der Verkehr so dicht, dass er erleichtert seinen Wagen in einer Tiefgarage abstellte. Hans-Werner Bockel röhrte laut los, als Holm den Kopf ins Zimmer steckte: «Na, mein Lieber, die Katze lässt das Mausen nicht, was?»

«Möglich, aber im Moment habe ich eher das Gefühl, als würde ich geflöht.»

Die beiden Männer konnten gegensätzlicher nicht sein. Bockel war klein, fett und laut; auf seinem unrasierten Doppelkinn sprossen mehr Haare als rund um seine leuchtende Glatze. Ein fleckiger, ungebügelter Anzug schlotterte um seine krumme Gestalt, er hatte Wurstfinger und trug Schuhe von der Größe mittlerer Kindersärge. Fast jeder Oberkellner würde nach dem ersten Blick empört auf ihn zueilen, um ein «Alles besetzt, mein Herr» zu flöten, und ihn nach dem zweiten Blick zum besten Tisch geleiten. Denn Ha-We verbreitete etwas um sich herum, das alle Menschen veranlasste, ihn sehr höflich zu behandeln, und zwar umso höflicher, je jovialer er herumdröhnte.

«Kenne ich. Interessantes Gefühl. Der Kaffee hier taugt nicht viel, wir werden uns mal absentieren. In einen Tempel des Kaffeekochens, so vornehm, dass die Sahne gerinnt, wenn die Gäste furzen.»

Weil auf Ha-We Verlass war, erzählte Holm die ganze Geschichte, und da er lange genug mit ihm befreundet war, störte er sich nicht an der scheinbaren Unaufmerksamkeit seines Nachbarn. Ha-We schlürfte seinen Kaffee furchterregend laut; eine sehr feine Dame drehte sich äußerst pikiert nach ihnen um, warf nur einen Blick auf Bockel und verfärbte sich. Eilig zahlte sie und entschwebte im Handumdrehen.

Bockel hustete markerschütternd: «Eine echte Karriere.»

«Wer?»

«Die in dem engen Kleid da. Hübscher Arsch, was? Kostete bis vor drei Jahren einen Tausender, dann hat sie einen Wackelgreis geheiratet, der ihr nach zwei Jahren einige Scheinchen vererbte, und nun lebt sie mit einem Libanesen zusammen, der Waffen exportiert und Heroin importiert. In drei, vier Wochen stippe ich beide kräftig in die Scheiße.»

«Was ist nun mit meinem Mischa?»

«Wir treffen meinen Informanten heute Abend. Mischa hat in der <Taube> verkehrt, das ist eine ganz ordentliche Pinte in einem sehr unordentlichen Viertel mit einem gemischten Publikum. Die Wirtin heißt Marga und wird <Täubchen> gerufen, aber sei vorsichtig, in dieser Umgebung werden Tauben zu Hyänen.»

«Zu Geiern.»

«Häh? - Ach so, willst dich wieder mal über einen ungebildeten Bullen lustig machen. Dann zahl mal schön, du Adler der Lüfte!» Die «Taube» lag mitten im Bahnhofsviertel, und der Name passte wie die Faust aufs Auge. Links ein Bordell, rechts ein Video-Shop, auf der anderen Seite der Straße ein «Club» samt Peepshow. Das Lokal war nicht groß, zehn Tische, zwei Nischen mit längeren Bänken, ein beachtlich großer Tresen, hinter dem eine Frau pausenlos hantierte. Denn von den etwa sechzig Plätzen waren bestimmt vierzig besetzt, die «Taube» flog nicht, aber florierte. Trotz weit geöffneter Fenster zum Hof miefte es.

Bockel und Holm stellten sich an den Tresen und warteten, bis die Wirtin zu ihnen kam: «Morj’n.»

«Morgen - nein, nichts zu trinken. Wir brauchen nur eine Auskunft. Kennen Sie diesen Mann?» Damit reichte Bockel die Zeichnung hinüber, aber die Wirtin wich zurück und beschwerte sich mit schriller Stimme: «He, was soll das? Hier wird nicht geschnüffelt, hier gibt’s Bier und sonst gar nichts.»

In der Kneipe wurde es umgehend still, alle Augen richteten sich auf Holm und Bockel, darunter einige, in denen sich die Vorfreude auf eine Schlägerei widerspiegelte. Die Wirtin wollte sich noch weiter aufplustern, aber Holm reagierte schneller: «Ganz recht, gnädige Frau, wir sind Bullen und suchen einen Mann, der eine Kollegin erschossen hat. Und wenn Sie jetzt die Schnauze nicht aufmachen, nehmen wir Sie mit aufs Revier, schließen diese Stinkbude hier und fordern einen Trupp vom Ordnungsamt an. Was wetten Sie, ob Sie Ende der Woche noch die Schanklizenz haben?»

Absichtlich hatte er immer lauter gesprochen, sodass alle ihn verstanden. Niemand rührte sich, es war totenstill geworden. Bockel kicherte plötzlich: «Und wir kommen wieder, wir sind von der netten Kundschaft, die Sie hier haben, ganz begeistert.»

Die Wirtin schluckte, schaute sich ein paarmal hilflos um und bat endlich mit dünner Stimme: «Kann ich noch einmal sehen ...?» Natürlich studierte sie die Zeichnung nur pro forma, sie hatte Mischa auf den ersten Blick erkannt, aber sie musste ihr Gesicht wahren. Derweil drehte sich Holm um und musterte bewusst arrogant die Gäste, viele senkten die Köpfe.

«Er war ein paarmal hier», gab sie zu, unnötig laut, aber es sollten ja alle zuhören. «Zwei Wochen oder so ist er jeden Abend gekommen - tja, das war so im Februar. Oder im März. Genau weiß ich das nicht mehr.»

«Allein gekommen?»

«Immer. Ich hatte den Eindruck, er wartete auf jemand.»

«Und? Ist er mit diesem Jemand zusammengetroffen?»

«Kann ich nicht sagen.»

«Mit wem hat er sich denn hier unterhalten? Oder hat er die ganze Zeit allein vor seinem Bier gehockt?»

«Nein. Gekommen und gegangen ist er immer allein, aber zum Schluss hat er sich manchmal mit der Rita unterhalten.»

«Rita und wie weiter?»

«Weiß ich nicht. Alle nennen sie die rote Rita. Arbeitet drüben, im <Tiffany>.» Sie deutete flüchtig mit der Hand Richtung Fenster. «Gut. Und wie er heißt, wissen Sie nicht?»

«Nein, er wurde immer nur mit Mischa angeredet.»

«Hat er mal angedeutet, was er macht? Oder wo er wohnt?»

«Machen? - Nein, das nicht. Ich hab nur mal zufällig gehört, dass er im Hartenstein gewesen ist. Und deshalb ...» Sie zuckte die Achseln. Wer im Hartenstein gebrummt hatte, übte hinterher selten einen bürgerlichen Beruf aus. Bockel und Holm grinsten aufmunternd, aber sie blieb gespannt wie eine Bogensehne. «Und wo er wohnte ... er hat mich einmal gefragt, ob ich nicht eine kleine, billige Wohnung wüsste, er möchte aus dem Presssack raus.»

Bockel stieß Holm unauffällig an. Offenbar sagte ihm der Name Presssack etwas, und für Holm konnte es nützlich sein, wenn keiner der Kumpel ihn als Ortsfremden erkannte.

«Na, fein, vielen Dank. Ihnen allen noch einen schönen Tag.» Keiner antwortete. Als sich die Tür hinter ihnen schloss, herrschte immer noch absolute Ruhe im Lokal.

Das «Tiffany» hatte schon geöffnet, aber kurz nach zwölf Uhr mittags lief das Geschäft erst an. Afrikaner wischten noch feucht die Böden auf, Türkinnen putzten Glas und Spiegel, es roch nach scharfen Desinfektionsmitteln. Bockel nickte auf Holms fragenden Blick: «Achtzehn Stunden Betrieb, von zwölf Uhr mittags bis sechs Uhr morgens.» Und weil er fast über einen Putzeimer gestolpert wäre, ergänzte er missgelaunt: «Was die Hygiene betrifft, sogar recht sauber.»

«Erstaunlich, findest du nicht?»

«Nee, das Geschäft hat schwer nachgelassen.»

«Wieso?»

«Angst vor Aids und die kommunale Politik. Dem ganzen Viertel soll’s an den Kragen gehen. Deswegen sind alle verhältnismäßig brav mit low profile, wie das auf Neuhochdeutsch heißt.»

Der junge Mann an der Kasse schielte so unauffällig an Bockel hoch, dass klar war: Sie waren als Kripo erkannt.

«Ist die rote Rita da?» Bockel dachte nicht daran, so etwas Überflüssiges wie «Guten Tag» oder «Bitte» auszusprechen.

Der Jüngling las auf einer großen Tafel, die vor ihm lag, für das Publikum verborgen. «Sie tritt erst um 18 Uhr an.»

«Wo können wir sie jetzt erreichen?»

Der Mann schien urplötzlich Zahnweh zu bekommen, antwortete aber ohne Zögern: «Moment», griff sich ein Adressbuch und nuschelte nach kurzem Suchen: «Sauerbronnen 29. Rita Wenzel.» «Wunderbar. Und noch wunderbarer, wenn wir sie dort antreffen.» Bockel jauchzte freudig und fletschte sein schönes Gebiss mit den gelb-schwarzen Schneidezähnen; der Jüngling duckte sich. Er würde also nicht riskieren, die rote Rita anzurufen und vorzuwarnen.

«Sauerbronnen» war ein idyllischer Name für ein trübes Gässchen von Mehrfamilienhäusern; sozialer Wohnungsbau mit minimalem Standard. Rita Wenzel wohnte im vierten Stock und öffnete erst nach dem fünften Klingeln. Schlecht gelaunt wartete sie unter der Tür und wollte schon losmaulen, als sie mit dem scharfen Blick ihrer Zunft die Kriminalbeamten erkannte und blitzschnell auf verwirrte Unschuld umschaltete: «Ja, bitte, Sie wünschen?»

«Oh, oh, Rita», seufzte Bockel so laut, dass es im Treppenhaus widerhallte. «Dürfen wir reinkommen?»

«Meinetwegen!», schnauzte sie, wütend über ihren erfolglosen Angriff auf Bockels Mitleid. Sie wurden in die Küche geführt, Rita hatte gerade beim Frühstück gesessen. Auf der Spüle türmte sich gebrauchtes Geschirr. «Was wollt ihr?»

«Kennst du diesen Typen?»

Bockel hielt ihr die Zeichnung hin, und sie überlegte — nicht, ob sie ihn kannte, das war zweitrangig, sondern was die Kripo bei ihr suchte. Holm gewann den Eindruck, dass sie durch den Anzug hindurch den Rang auf seinem Dienstausweis las, und Bockel schien ihr ein Begriff zu sein. Die Sache war also wichtig, und deshalb bequemte sie sich nach einiger Zeit zur Wahrheit: «Ja, kenne ich flüchtig. Mischa heißt er, er hat mich ein paarmal in der <Taube> angequatscht. Ist aber schon lange her.»

«Was wollte er?»

«Kontakt suchte er. Er hatte wohl im Hartenstein gesessen und war es leid oder hatte Schiss, auf eigene Faust zu arbeiten.»

«Sonst nichts?»

«Zu Anfang markierte er den Harmlosen. Ob ich ihm eine Wohnung besorgen könnte. So dick hätt er’s nicht, und der Presssack ginge ihm auf die Nerven.»

«Und? Hast du helfen können?»

«Bin ich die Wohlfahrt?»

«Nee, das sicher nicht, aber für Geld tust du doch ’ne Menge», brummte Bockel heiter, und sie hätte ihn am liebsten angespuckt: «Hatte ’ne lange Leitung, der Typ. Bis er mit einem Hunderter rüberkam, da habe ich ihn zum Micolic geschickt.»

«Das ist doch der Arsch in der Haydnstraße, was?»

«Glauben Sie, ich würd riskieren, Micolic einen Arsch zu nennen?»

«Nee, hast recht, Rita. Mit wem hat Mischa in der <Taube> zusammengegluckt?»

«Keine Ahnung.» Das war so offenkundig gelogen, dass sich Bockel und Holm freudig anschauten und dann Rita gemeinsam so gereizt anstarrten, bis sie nervös wurde: «Also, ich kann mich an den kleinen Wicht erinnern.» Das war Bockels Informant, sie schien jetzt also bei der Wahrheit zu bleiben. «Dann hat die Marga ihn abgeschleppt.»

«Wer ist Marga?»

«Na, Mensch, die Wirtin von der <Taube>. Diese Spindeldürre mit den krummen Beinen.» Beide körperlichen Merkmale waren objektiv falsch beschrieben, was wohl auf das Konto der professionellen Empörung über die kostenlose Konkurrenz ging. «Und beim letzten Mal stand er mit Benno der Eiche zusammen am Tresen. Ich wollte Mischa um einen Hunderter anbetteln, aber Benno hatte ganz miese Laune, da habe ich lieber einen anderen angepumpt.»

«Sieh mal an, Benno Eiche. Den habe ich lange nicht mehr in Frankfurt gesehen», sagte Bockel verwundert. Rita zupfte an der neckischen Schleife ihres Morgenmantels, der dringend gestopft werden musste, zögerte und schielte endlich schräg auf Bockel: «Was ist drin für mich?» Ihre Stimme kratzte.

«Ein Blauer und absolutes Schweigen.»

«Mehr nicht?»

«An was hattest du denn gedacht?»

«Eine kleine Absicherung vorweg.»

«Was soll das heißen?»

«Ich will weg aus Frankfurt.»

«Okay, und was hindert dich daran?»

«Felix. Felix Becher.»

«Dem gehört doch das <Tiffany>?»

«Nein.» Während des Redens legte sie sich etwas zurecht, man konnte es förmlich hinter ihrer Stirn arbeiten sehen: «Nicht mehr, er hat verkauft - nee, ich weiß nicht, an wen, der Kerl stammt nicht von hier, und Felix spielt nur noch den Geschäftsführer. Seitdem hält er schwer den Daumen drauf.»

Bockel holte sein Notizbuch heraus und schrieb zwei Minuten eilig, bevor er hart entschied: «Geht in Ordnung, Rita.»

«Benno wirbt an - nee, ich weiß ehrlich nicht, für wen oder was. Aber irgendwo läuft ein großes Ding, ich hab’s zufällig mal mitgekriegt, die hatten schwer gesoffen und lallten so rum, na ja, Sie kennen ja Benno, ich hab nicht lange zugehört, sondern gemacht, dass ich wegkam, bevor er mich bemerkte.»

«Verständlich. Gut, Rita, das war’s dann schon.»

«Wissen die im <Tiffany>, dass Sie mich besucht haben?»

«Ja. Du kannst denen erzählen, dass wir dich nach einem Kunden gefragt haben, den wir gestern festgenommen haben. Hast du einen gehabt, der nur einmal bei dir war?»

Eine halbe Minute ließ sie die vergangenen Tage Revue passieren, dann nickte sie: «Ja, am Montag. Nachmittags, ein Niederländer, sprach gut Deutsch, aber mit dickem Akzent. Hat mich drei Stunden in der Mangel gehabt, erst Solokabine und dann Magic Box und zum Schluss Kino, so ein Wäsche-Fetischist.»

«Wie hieß er?»

«Jakobus. Etwa fünfzig, klein und stämmig, lange, fettige Locken bis auf den Kragen, schnaufte wie ein Blasebalg und stank nach heißem Fett.» Sie verzog das Gesicht. «Bluejeans und blaue Samtjacke.»

Bockel stenographierte mit: «Bravo, Rita, wir haben uns nach Jakobus erkundigt. Ach so, hier, dein Blauer.»

Vom Auto aus rief Bockel seine Dienststelle an und gab Auftrag, sofort rund um das <Tiffany> nach einem Niederländer namens Jakobus zu forschen. Er diktierte Ritas Beschreibung, hörte einen Moment unwillig zu und schnitt dann im Befehlston jeden Widerspruch ab: «Ich will, dass Rita geschützt wird. Und notiere gleich mal für die Kollegen: Felix Becher soll das <Tiffany> verkauft haben. Und Benno Eiche wirbt für ein großes Ding an. Alles klar? Halt, noch was: Sucht mir mal raus, wie die Pächterin von der <Taube> heißt und wo sie wohnt. Marga mit Vornamen.»

Auf der Fahrt erkundigte sich Holm: «Dieser Benno Eiche - was ist mit dem los?»

«Benno?» Bockel runzelte besorgt die Stirn. «Richtig heißt er Benno Pflanz, aber weil er ein Zweizentnerbrocken ist, hat einer mal den Spitznamen Benno die Eiche in die Welt gesetzt. Ein brutaler Schläger, doch leider recht gewitzt, wir haben ihn nie gekriegt. Vor drei Jahren ist er türkischen H-Händlern in die Quere geraten, die haben ihn krankenhausreif geschlagen. Danach war er aus Frankfurt verschwunden. Benno und Felix Becher kennen sich übrigens aus Bruchsal.»

Und Juke, ihr flüchtiger Kastrat vom Ebertdamm, hatte ebenfalls in Bruchsal gesessen. Viele kleine Verknüpfungen ergaben zum Schluss ein Netz!

Der Presssack rief Erinnerungen an Kaserne und Gefängnis wach: Ein sechsstöckiges Gebäude mit erschreckend vielen kleinen Fenstern zur Straße hin. Über der breiten Tür warb ein Schild für die «Pension Alex», und Bockel blieb noch einen Moment hinter dem Steuer sitzen: «Ich muss dich auf Alex vorbereiten. Richtig heißt er Alexander Graf zu Hohenwacht, ist um die achtzig ...»

«Jetzt nimmst du mich auf den Arm!»

«Kein Gedanke daran. Echter Adel, und sonst auch ein Original. Vor allem duzt er alle Leute.» Bockel lachte laut auf. «Vor acht oder neun Jahren war er angeklagt, Urkundenfälschung, Hehlerei, eine ganze Latte. Mit fünf anderen Knaben zusammen, die alle hier im Presssack logierten. Alex wurde freigesprochen, hat aber fünfzehn Wochen gesessen.»

«Wie denn das?»

«Wegen permanenter Missachtung des Gerichts. Er duzte alle, Richter, Staatsanwalt, Verteidiger, Zeugen, Sachverständige. Am laufenden Meter kassierte er Ordnungsstrafen, aber meinst du, er hätte das Duzen aufgegeben? Eines Tages galoppieren dem Vorsitzenden die Gäule durch, er beginnt zu schimpfen, Alex hebt die Hand und sagte: <Herr Vorsitzender Richter, darf ich dir mal einen Rat geben? Das würde ich an deiner Stelle nicht machen, das ist für meine Kumpels hier ein glatter Revisionsgrund, wenn du mein Verfahren jetzt nicht abtrennst.> Der Richter schnappt nach Luft, und Alex fährt ganz vergnügt fort: <Aber sicher doch, Entscheidungen des Reichsgerichts, Band 16, Kapitel 54> oder so ähnlich. Du, wir sind vor Lachen fast von den Bänken gefallen. Der Vorsitzende stöhnt völlig erschöpft: <Nein, das darf nicht wahr sein.> Sagt Alex: <Aber klar, mein Junge, ich hatte mein Jura schon wieder vergessen, als du noch gewickelt wurdest.>»

«Seitdem ist er wohl nie wieder angeklagt worden?» Bockel schnaufte; Originale widerlegten schlagend die Behauptung, alle Menschen seien gleich, wenigstens vor dem Gesetz.

Alex krähte begeistert: «Der Bockel, nein, so was! Was willst du denn hier? Hat deine Frau dich endlich rausgeschmissen?» Alex war klein und winzig und hellwach. Sein Büro war um die Jahrhundertwende neu möbliert und nur wenig später letztmalig gereinigt worden. Holm hätte nicht geglaubt, dass die Post die Benutzung eines so altmodischen Telefons noch genehmigte. In dem antiquarischen Dreck stach der alte Mann wie eine Insel der Sauberkeit hervor, und der Himmel mochte wissen, woher er die altmodischen Vatermörder bezog.

«Du hast wieder krumme Jungs beherbergt», erwiderte Bockel vergnügt. «Das ist mein Kollege Holm.»

«Neu hier, was? Wen sucht ihr denn diesmal?»

«Diesen Knaben.»

Alex krächzte sofort: «Der Mischa. Moment mal!» Holm staunte, mit welchem Schwung der Zwerg das schwere Gästebuch auf den Tisch wuchtete, es staubte mächtig, sie niesten einträchtig und beugten sich dann über die Eintragung vom 12. Januar: «Michael Rohden, 6.6.53, Hannover.» In der Rubrik «Heimatanschrift» war vor der Zeile ein Haken gemalt, dahinter stand in steiler Altmännerschrift: «Entl. Sch. Hartenstein, 28.12.» Zwei Monate später war Mischa, der Zimmer 442 bewohnt hatte, wieder ausgezogen.

Während Bockel sich die Angaben notierte, beobachtete Alex ihn voller Spott, kicherte unvermittelt und raunte: «Wunderschöner Personalausweis. So sauber und so neu und so echt.»

«Wirklich, Alex?»

«Bin doch nicht blind.»

«Profiarbeit?»

«Na klar. Was ein falscher Fuffziger.»

«Wie falsch? Mehr Silber oder mehr Aluminium?»

«Hatte ’ne Menge zu verbergen, der Junge, und dachte, bei so Trotteln wie mir kann er anfangen, eine falsche Spur zu legen.»

«Wohin ist er gezogen?»

«Zum Micolic.»

«Hat er was im Zimmer zurückgelassen?»

«Nix. War froh, als er abhaute. Weißt du, Bockel, es gibt so eine Sorte krummer Hunde, die wedeln und beißen plötzlich mit dem Schwanz, wenn du verstehst, was ich meine.»

«Tu ich, Alex. Dann mal vielen Dank.»

Unerfreuliche Gedanken wälzend, fuhr Bockel in die Haydnstraße. Holm hatte leise Zweifel geäußert, ob man sich auf den Zwerg verlassen könnte, aber Bockel war anderer Meinung: «Der vermietet an des Teufels Großmutter, solange sie nur pünktlich zahlt, und plauscht mit ihr über die guten alten Zeiten. Wenn Alex sagt, er sei froh, dass einer auszieht, dann stinkt da was nach oberfaul.»

Micolic präsentierte sich so ziemlich als das genaue Gegenteil von Alex: Mitte vierzig, groß, gut aussehend auf eine billig aufdringliche Art, zu der sein wuchtiges Rasierwasser passte, und beinahe schleimig höflich. Sein Büro protzte mit Leder, Chrom und Glas, aber die weißen Rosen in der Bodenvase waren aus Plastik. «Mischa.» Auch Micolic reagierte sofort. «Suchte eine möblierte Zweizimmerwohnung für einen, höchstens zwei Monate.»

«Und?» Bockel behandelte Micolic wie ein Stück Dreck.

Der Schwarzhaarige kniff hässlich die Lippen zusammen, setzte sich aber wortlos an einen Personalcomputer, tippte und deutete dann auf den Schirm: «Am 10. März eingezogen und am 13. April ausgezogen.»

«Wissen Sie, wohin er gegangen ist?»

«Nein.» Micolic gestattete sich den Hauch eines Lächelns - als wenn er so blöd wäre, seine Mieter nach dem Woher und Wohin zu fragen. Und gegen faule Kunden sicherte er sich durch monatliche Vorauszahlungen; wer nicht spurte, fand seine Sachen im Keller wieder und das Schloss an seiner Wohnungstür ausgewechselt. Das passierte im Handumdrehen.

«Hat er Besuch bekommen? Briefe? Anrufe? Telegramme?»

«Keine Ahnung, Herr Hauptkommissar. Ich würde Ihnen ja gern helfen, das wissen Sie, aber ich verwalte fast achtzig ...»

«Schon gut. Bis bald mal.»

Auf der Straße kritisierte Holm: «Du hättest ihn fragen sollen, ob Mischa was in der Wohnung zurückgelassen hat.»

«Zwecklos, Arno. Dieser Arsch hebt die Sachen genau zehn Tage auf und dann ab, entweder in den Müll oder zum Altwarenhandel. Ein übles Früchtchen, aber clever.»

Bockels Büro hatte gespurt. Marga Ahlsen, die Pächterin der «Taube», wohnte jenseits des Mains in einer Hochhausbürosiedlung. «Sie sollen mal im 15. vorbeischauen. Hauptmeister Kersten hat was für Sie.»

«Danke. Ende.»

Sie ließen sich nicht hetzen, Holm lud zum Essen ein, und nachher klönten sie über vergangene Zeiten, gegenwärtige Probleme und künftige Aussichten. Bockel war zum zynischen Realisten geworden, Holm bezeichnete sich als pragmatischen Pessimisten, und beide hatten sie Schwierigkeiten mit ihrer dienstlichen Umgebung. Als Holm von seiner Sonderkommission berichtete, begann Bockel über das ganze Gesicht zu schmunzeln: «Aha! Das Landeskriminalamt stellt Maschinen und Personal, aber überlässt die Führung der örtlichen Polizei. Wie finde ich denn das?»

«Nett, Ha-We. Und wir sind begeistert.»

«Junge, Junge, ein dummes Gesicht ist doch unbezahlbar, was?»

«Hör mal, <dumm> ist beleidigend. <Harmlos>, das wär’s.»

«Dann zahl mal schön, du Harmloser.»

Das 15. Revier mit der Kriminalwache 111 sah aus wie eine Zweigstelle der Städtischen Sparkasse, modern, aseptisch und so nüchtern, dass selbst der bürokratische Schlendrian von Schutz und Kriminalpolizei dem Beton-Flachdach-Bau keine wohnliche Note aufgezwungen hatte. Die Kunststofffliesen blinkten lebensgefährlich glatt. Auf dem Flur hatten Eifrige die hellgrauen Wände mit Pin-up-Postern geschmückt, und selbst die nackten Mädchen schienen zu frieren und mit den Tränen zu kämpfen.

«Habt ihr das schön hier!», stöhnte Holm, und Kersten riss an seinem Schnurrbart, bevor er schluckte und lieber nicht antwortete. Er mochte Mitte fünfzig sein und trug den breiten Ledergürtel ersichtlich unter dem Äquator auf der Südhalbkugel.

«Ahlsen, Marga, Sandler Straße 111. Komische Sache, Herr Rat.» In den vergangenen vier Monaten hatten sie mehrere Notzuchtverbrechen im Revier gehabt, immer junge Frauen, die Überstunden gemacht und dann in dem abends menschenleeren Gelände einen bestimmten Weg zu einer Straßenbahn-Haltestelle benutzt hatten. Drei Fälle vollendeter Vergewaltigung, in drei Fällen war der Täter gestört worden und hatte von den Frauen, die er schon zu Boden geworfen hatte, abgelassen. Den vorerst letzten missglückten Versuch hatte Marga Ahlsen angezeigt. «Und daran stimmt nun gar nichts, Herr Bockel. Erstens war es zwei Uhr nachts, alle anderen Fälle passierten zwischen 22 und 23 Uhr. Zweitens kam sie von dieser Haltestelle - nee, nee, die Bahn fährt nur bis 23 Uhr, sie war dort aus einem Taxi ausgestiegen. Übrigens totaler Quatsch, wir haben mit dem Fahrer gesprochen, wenn sie sich bis vor die Haustür hätte bringen lassen, wär’s vielleicht eine Mark teurer geworden, bei einer Rechnung von ohnehin 24, 25 Mark. Aber nein, sie wollte unbedingt ein paar Schritte laufen, nachts, durch eine dunkle Grünanlage. Jedem Tierchen sein Pläsierchen. Dann: Alle Frauen haben den Täter als klein beschrieben, körperlich wohl kräftig, aber klein. Sie dagegen behauptet, der Mann sei mindestens 1,80 Meter groß gewesen.»

«War’s denn eine versuchte Vergewaltigung?»

«Wer weiß? Strumpfhose und Slip zerrissen, na ja, außerdem Blutergüsse auf den Rippen, Schlagspuren im Gesicht, das ist gesichert. Und Druckstellen am Hals. Aber sonst ...»

«Wie ist sie denn dein Mann entkommen?»

«Sie ist Wirtin, im Bahnhofsviertel, und kennt ein paar üble Tricks. Angeblich hat sie ihm ... die - hm - Eier so zusammengekniffen, dass er anfing zu heulen und lieber das Weite suchte.»

Kersten zerrte wieder an seinem Schnurrbart, als wolle er sie warnen, in das laute Gelächter auszubrechen, gegen das sie ankämpften. Erst viel später konnten sie wieder vernünftig miteinander reden, und Bockel bestätigte, was Holm insgeheim befürchtet hatte: Marga Ahlsens Beschreibung des Mannes, der sie überfallen - oder auch nur verprügelt - hatte, stimmte in allen Punkten mit der Beschreibung von Benno Eiche überein.

Sie fuhren in die Sandler Straße 111 und übten sich im Klinkenputzen: «Guten Tag, entschuldigen Sie bitte die Störung, wir sind von der Kriminalpolizei. Haben Sie diesen Mann schon einmal gesehen?»

Neben vielen Nieten zogen sie drei Treffer, und eine Nachbarin von Marga Ahlsen beteuerte mit spitzer Gehässigkeit, dieser Typ sei doch bei Marga ein und aus gegangen. Und über Nacht geblieben! Danach wurde es Zeit, zum Flughafen zu fahren; pünktlich um 18.10 Uhr huschte ein kleiner Mann aus einem der Ausgänge und eilte zielstrebig auf ihr Auto zu, stieg hinten ein und sagte kläglich: «Herr Bockel, Sie spielen mit meinem Leben.»

«Na, na, wir haben doch alles getan, was Sie wollten.»

Holm drehte sich um: «Ich brauche alles, was Sie über diesen Mischa wissen.»

«Das hab ich doch Ihrem Kollegen schon erzählt!»

«Kann sein. Aber inzwischen gibt’s die Möglichkeit, dass dieser Mischa eine Legende zimmert, also gar nicht im Hartenstein gesessen hat. Wenn er irgendwo eingeschleust werden sollte - von wem und gegen wen?»

Wicht überlegte lange, und weil er das riskante Geschäft des Informationshandels schon lange betrieb, war seinem Gesicht nichts abzulesen. Er wirkte klein und verschüchtert und sogar etwas dümmlich, aber das täuschte, wie bei Wello, an den er Holm sofort erinnert hatte.

«Also, die <Taube> können Sie vergessen. Die Marga ist mannstoll und schleppt immer wieder Gäste ab, übrigens auch diesen Mischa. Der hat drei Monate beim Alex gelebt und sich dann bei Micolic eingemietet, aber nachts war er meistens bei Marga. So. Mischa war nun nicht aus Frankfurt, sondern im Bahnhofsviertel ein grüner Junge. Mich hat gewundert, dass er sich überhaupt um die rote Rita gekümmert hat. Denn der ist die gelbe Karte gezeigt worden, sie hat Krach mit Felix Becher vom <Tiffany>.»

«Wissen Sie, an wen Felix das <Tiffany> verkauft hat?»

«Nein. Das ist über einen Strohmann gelaufen, und keiner im Viertel weiß, warum sich Felix darauf eingelassen hat. Die Mädchen tratschen, Felix habe etwas auf Gran Canaria angeleiert, so einen Touristen-Puff, aber Genaueres habe ich nie gehört. Dann tauchte Benno Eiche auf, übrigens ein alter Kunde, mit dem die Marga vor vielen Jahren mal gebumst hat. Ich hatte den Eindruck, dass Mischa sich über Marga an Benno rangemacht hat. Benno wollte lange nicht anbeißen und hat Mischa immer wieder abblitzen lassen. Bis sie dann beide eines Tages nicht mehr in die <Taube> gekommen sind.»

«Dann sind Mischa und Benno ...?»

«Möglich. Da läuft was, irgendein großes Ding.»

Bockel drehte halb den Kopf und klagte drohend: «Damit hättest du ruhig von alleine rüberkommen dürfen.»

«Von wegen!», wehrte sich Wicht. «Ich hab noch nie freiwillig in eine Rattenfalle gegriffen.»

«Hat das große Ding denn was mit Frankfurt zu tun?»

«Glaube ich nicht. Benno hatte sich an Kommek rangemacht - doch, den kennen Sie auch, dieser verrückte Fahrer - ja, eben der, aber Kommek wollte nicht aus Frankfurt weg. Was ja wohl heißt, es soll woanders steigen.»

«Und Sie haben keine Ahnung, was es sein könnte?» Holm war wider Willen beeindruckt von diesem unscheinbaren Männchen, das nicht nur beobachtete, sondern auch richtige Schlüsse ziehen konnte.

«Nee! Wissen Sie, in meiner Gegenwart reden einige Leute nicht mehr offen.» Dabei lachte er meckernd.

«Sagt Ihnen der Name Juke etwas? Hans Jukisch?»

«Nein.» Wicht schüttelte energisch den Kopf, und Holm glaubte ihm. Nach einer Weile meinte der Mann nachdenklich: «Von alleine wäre ich nicht auf die Idee gekommen, dieser Mischa könnte falsch sein. Aber jetzt, wo Sie’s erwähnt haben, leuchtet es ein. Der hatte irgendwie keinen Stallgeruch, der kam von auswärts, mit viel Geduld, und fädelte was ein. Der war nicht auf schnelles Geld aus.»

«Ob er jemanden aufs Kreuz legen sollte?»

«Möglich ist alles. Wissen Sie, im Viertel geht’s zurzeit rund. Weil keiner weiß, ob und wann die Stadt durchgreift, wechseln die Typen schneller, als man sich ihre Namen merken kann. Die einen verkaufen, die anderen wollen noch rasch absahnen, aber das Geschäft mit den Bienen hat schwer gelitten, und Rauschgift ist haarig geworden, seit die Kolumbianer direkt mitmischen, die sind so verdammt jähzornig.»

«Wir haben aus anderer Quelle gehört, dass Benno Leute anwirbt.»

«Kann sein, ja. Aber von Frankfurt hat Benno die Schnauze voll, das dürfen Sie mir glauben.»

«Wer erzählt uns was von Benno Eiche?»

Wicht verzog gequält das Gesicht: «Ich nicht. Und ich kenn auch keinen. Und jetzt müssen wir uns beeilen, wenn ich meinen Zug um 19.05 Uhr noch erreichen soll.» Bockel gab Gas, um sich nach links einzufädeln. Der Flughafen war kein schlechter Platz, einen Informanten ungesehen aussteigen zu lassen.

In Bockels Wohnung köpften sie noch eine Flasche Rotwein, verschlangen eine Platte belegter Brote, und Holm schlief zwei Stunden. Um Mitternacht verabschiedete er sich von Bockel, der ihm viel Glück wünschte. Wie Holm befürchtet hatte, verfranzte er sich gewaltig, kam zwar auf Anhieb über den Main, musste dann aber ein paarmal den Stadtplan zu Rate ziehen, bis er gegen halb zwei vor dem Hochhaus Sandler Straße 111 parken konnte. Um sich wach zu halten, versuchte er ein paarmal, die Stockwerke zu zählen; mehr als zwanzig waren es bestimmt, und auf die genaue Zahl kam es schließlich auch nicht an. Kaum hatte er sich mit dieser Einsicht getröstet, bremste drüben ein Taxi. Er stieg rasch aus und erreichte mit Marga Ahlsen gleichzeitig die Haustür. Ein müder Blick streifte ihn, und ohne Aufregung seufzte sie: «Die schlimmsten Erwartungen gehen immer in Erfüllung.»

«Sie hätten uns gleich sagen können, dass Sie ein Verhältnis mit Mischa hatten.»

«In der <Taube>? Sie haben wohl eine Meise.»

«Dann also jetzt.»

Im Fahrstuhl musterte er sie ungeniert, und sie hielt seinen Blicken stand. Ohne die müden Ringe unter den Augen war sie eine attraktive Frau. Wahrscheinlich hatte sie ein wenig zu viel gesehen und erlebt, um auf jeden Mann anziehend zu wirken. Dass sie als Wirtin harte Arbeit leistete, konnte er sich gut vorstellen, und schließlich wurde die «Taube» nicht von Schülerinnen eines Nonnen-Pensionats frequentiert.

«Ich muss mich erst duschen und umziehen», bestimmte sie nüchtern. «Es gibt genug zu trinken, bedienen Sie sich.»

Geduldig hielt er sich an einem schwachen Whisky fest, bis sie nach einer halben Stunde erschien, in einem grünen Hausanzug, ein riesiges Frotteetuch um die Haare gewickelt und das Gesicht vor Fett und Creme glänzend.

«Also Prost!», hob sie ihr Glas. «Es geht um Mischa. Was wollen Sie wissen?»

«Alles!»

Es war nicht viel. Mitte Januar war er in der «Taube» aufgetaucht, ziemlich regelmäßig, ein schweigsamer Gast, der wenig trank und keinen Ärger machte, mit allen Gästen gut auskam, auch mit den Nutten vom «Tiffany». Offenkundig wartete er auf jemanden, aber Namen hatte er nie genannt, auch nicht in ihrem Bett, in das sie ihn nach drei Wochen abschleppte. Über seine Vergangenheit sprachen sie nie, sein Leben begann sozusagen an dem Tag, an dem er aus dem Hartenstein entlassen worden war. Nicht einmal sein genaues Alter wusste sie. Ein Einzelgänger. Ihr Schulterzucken verriet, dass es sie nicht überrascht und nicht beunruhigt hatte. Vom Presssack zog er zum Micolic, Geld hatte er, und anders als viele Ex-Knackis konnte er einteilen.

Dann ließ sich plötzlich Benno Eiche wieder blicken. Nicht zu ihrer Freude, «einer der vielen Fehlgriffe, die mir passiert sind». Benno suchte für eine Mannschaft Fahrer, Elektriker, Türöffner - er stutzte, und sie half aus: «Schlosser» -, Lackierer, einen Graveur. Am liebsten hätte sie ihm das Lokal verboten, aber Benno verhielt sich vorsichtig und gab ihr keinen Anlass dazu. Mischa beobachtete Benno lange Zeit schweigend und misstrauisch, forderte sie aber schließlich auf, Benno zu fragen, ob auch ein Fernmeldetechniker und Funkspezialist gebraucht würde. Sie weigerte sich, er blieb einige Tage weg, und als er wiederkam, tat sie ihm den Gefallen. Benno biss an. Und eines Tages verschwanden beide, Benno und Mischa, von der Bildfläche. Zuerst hatte sie aus Wut, dann aus Trauer geheult. Dabei rubbelte sie sich die Haare trocken und wischte die Fettcreme ab, zog den Reißverschluss des Hausanzugs ein Stück hinunter und verwandelte sich in eine ansehnliche Frau.

«Und von Mischa haben Sie nie wieder was gehört?»

«Doch. Am Samstag hat er angerufen, hier, nachts. Er brauchte Hilfe - sagte er. Er steckt in der Klemme, seine früheren Kumpels sind hinter ihm her.»

Gespannt nickte er ihr zu, das ergab Sinn. Verletzt, also ein Risiko für die Bande, außerdem möglicher Zeuge gegen einen Todesschützen. «Was haben Sie ihm gesagt?»

«Nichts. Aufgelegt. Ich kenne Benno Eiche, ich helfe keinem Mann, der sich mit Benno eingelassen hat und nun von ihm gesucht wird. Ich bin nicht lebensmüde.»

«Hat Benno Sie überfallen - Sie wissen schon, diese versuchte Vergewaltigung, die Sie angezeigt haben?»

Einen Moment griente sie unbehaglich: «Er hat mir ein paar geklebt ja, Benno. Er war vor einer Woche hier, wartete unten und wollte alles hören, was ich von Mischa wusste. Es war ja wirklich nicht viel, und er ...» das gleichgültige Schulterzucken misslang, «da habe ich mir gedacht, die Ohrfeigen habe ich nicht umsonst kassiert, habe etwas Wäsche geopfert und dafür gesorgt, dass er sich hier in der Gegend so bald nicht mehr sehen lassen kann.»

Wäre er rein dienstlich hier, hätte er jetzt was wegen der falschen Anzeige unternehmen müssen. Und es wurmte ihn schon, dass sie wie selbstverständlich davon ausging, er werde nichts tun; so leicht ließ er sich ungern durchschauen.

Unvermittelt zwinkerte sie ihm zu: «Okay, ich leiste Wiedergutmachung. Geben Sie mir mal meine Handtasche.»

Aus dem tiefsten Untergrund wühlte sie einen Fetzen Pappe heraus, den ausgebrochenen Rand eines Bierfilzes. Auf der einen Seite waren zig Striche markiert, auf der anderen stand eine Telefonnummer. «Von Benno. Er klönte mit einem alten Kumpel an der Theke, als das Telefon klingelte. Ein Mann wollte Benno Eiche sprechen, er nahm den Hörer, hörte eine Weile zu und sagte dann so was wie <Moment, hier geht’s nicht>, drehte diesen Bierfilz um und schrieb sich die Nummer auf. Danach meinte er zu mir, er müsse mal telefonieren gehen. Nun ja, in der <Taube> können alle zuhören, also ist er wohl in den Hauptbahnhof, in eine Zelle gegangen. Ich weiß noch, dass ich ihm nachgerufen habe: <Bring den Deckel wieder mit, sonst bin ich ruiniert.> Er säuft nämlich ganz nett und hatte eine Menge fremder Typen freigehalten. Schön, er kommt wieder, legt den Filz auf den Tresen, mit der Telefonnummer nach unten. Dann hat er gezahlt und den Filz liegen gelassen, ich hatte das mit der Telefonnummer längst vergessen, und erst als ich aufräumte, habe ich die Nummer zufällig entdeckt.»

«Die Sie dann herausgebrochen haben.»

«Es ist immer gut, gegen Benno was in der Hand zu haben.»

«Kann ich das Stück ...»

«Von wegen! Schreiben Sie sich die Nummer auf, und dann werd ich’s vernichten.»

Die nächsten Minuten war sie vollauf damit beschäftigt, das Stück zu zerlegen und die einzelnen Röllchen im Glasaschenbecher zu verbrennen. Es kostete viele Streichhölzer. Alle Menschen spielen gerne mit dem Feuer, sinnierte er amüsiert, und kaum hatte er es gedacht, fragte sie halblaut: «Wollen Sie heute Nacht bleiben?»

Zu seinem eigenen Erstaunen überlegte er sich das Angebot gründlich und entschied sich mit einer Spur von Bedauern: «Nein, ich muss morgen sehr früh zum Dienst antreten.»

«Schade», murmelte sie enttäuscht, und von der Tür aus versprach er: «Ich war nicht das letzte Mal bei Ihnen.»

Sie lächelte, antwortete aber nicht.

Jetzt war die Autobahn leer, er döste bei Tempo 150 vor sich hin und musste einmal wie ein Irrer in die Bremsen steigen, um dem Reh auszuweichen, das die Fahrbahn kreuzte. Die restliche Strecke fuhr er langsamer und aufmerksamer.

Sammelband 4 Horst Bieber Krimis: Zeus an alle / Was bleibt ist das Verbrechen / Moosgrundmorde / Nachts sind alle Männer grau

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