Читать книгу Sammelband 4 Horst Bieber Krimis: Zeus an alle / Was bleibt ist das Verbrechen / Moosgrundmorde / Nachts sind alle Männer grau - Horst Bieber - Страница 38

19.

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Holm wartete, aber nichts geschah. Niemand wollte etwas von ihm, weder Oberrat Waldeck noch Staatsanwalt Wagner; der Präsident meldete sich nicht, die Landtagsabgeordnete Ingeborg Wendel hüllte sich in Schweigen. Die Plakate waren geklebt: 100000 Mark Belohnung für die Ergreifung der Täter, die in das Haus Waldsaum 44 eingebrochen waren. Natürlich stiegen die Zeitungen groß ein, und am nächsten Tag noch einmal, als sie meldeten, dass der beim Einbruch schwer verletzte Bernd Klopfer seinen Verletzungen erlegen war, ohne das Bewusstsein wiedererlangt zu haben. Kriminalhauptkommissar Wilfried Stolle meldete sich krank. Cordula Matthies bat Holm um Rat: Das dritte Programm wollte eine Sendung mit ihr machen.

«Wann? Und weshalb?», fragte er elektrisiert.

«Morgen Abend. Wegen Klopfer. Und der hunderttausend.»

«Sind Sie wild darauf?»

«Ganz und gar nicht.»

«Also keine Verstimmung, wenn ich für Sie hingehe?»

«Dann haben Sie bei mir sogar noch einen Wunsch frei!», platzte sie heraus, und er drehte schnell den Kopf weg, um sein Lachen zu verbergen.

Peter Kilian, der zuständige Redakteur im dritten Programm, floss nicht gerade vor Begeisterung über, aber weil Holm am Telefon sehr viel länger schweigen konnte als er, ohne verlegen zu werden, stimmte er schließlich zu. Cordula schmunzelte und gestand, unvermittelt ernst werdend: «Mich würde schon interessieren, welches Spiel Sie tatsächlich spielen.»

Sie saß auf der Kante seines Schreibtisches, beide Hände um ein hochgezogenes Knie verschränkt, und schaukelte vor und zurück. In dieser Position konnte er ihr unter den kurzen Rock schauen, was sie wissen musste, und er überlegte, was sie damit signalisierte. «Wollen Sie nicht mal raten?», fragte er freundlich.

Ihre Beine wippten. «Ich habe über unser Gespräch nachgedacht», gab sie zu. «Das Schlimme ist, dass Sie bei mir Zweifel geweckt haben.»

«Aber die Saat ist sozusagen noch nicht aufgegangen?»

«Nein. Ich werd noch nicht schlau aus dem, was hier abläuft.»

«Wollen Sie sich nicht gedulden, bis Sie sich ein eigenes Urteil bilden können?»

«Das muss ich wohl - oder?» Der Seufzer klang sehr heiter, und deshalb schwieg er. «Tja, dann kommen wir zu Herrn Schubrick.» Viel hatten ihre Männer nicht herausgefunden. Das Büro in der Danziger Straße ließ sich nicht überwachen, wie er schon befürchtet hatte, es gab einfach zu viel Publikumsverkehr. Schubricks Villa lag günstiger, aber er wohnte dort sehr zurückgezogen mit seiner unverheirateten Schwester, die seit einem Sportunfall querschnittsgelähmt war. Die inzwischen identifizierten Besucher hatten alle mit ihr zu tun: Arzt, Pfleger, Pflegerinnen, eine Haushälterin, Freundinnen. Schubrick selbst lebte dort wie ein Eremit, keine Freunde, keine Frauen, keine Besucher. Normalerweise verließ er die Villa um kurz nach acht und kehrte abends kurz vor 20 Uhr zurück - «gerade rechtzeitig zur Tagesschau».

«Den ganzen Tag über hockt er also in seinem Büro?»

Ja, das war die Regel. Schräg gegenüber auf der Danziger Straße hatte ein Lokal von 11 bis 23 Uhr geöffnet, von dort wurde ihm oft Mittag- und Abendessen gebracht. Keine Hobbys, kein Sport, nichts von Kino, Theater oder Geselligkeit. Wenn überhaupt etwas auffällig war, dann seine Lesewut. Drei Tageszeitungen lagen bereits auf der Fußmatte, wenn er ins Büro kam. Zwischen 13 und 14 Uhr lieferte ein Botendienst mindestens dreißig Zeitungen, Zeitschriften, Magazine und Illustrierte ab, jeden Tag, und gegen 18 Uhr brachte ein Mitarbeiter desselben Dienstes einen prall gefüllten Umschlag mit Zeitungsausschnitten in die Danziger Straße - «raten Sie mal, von wem».

«Von der Ortex, von unserem Freund Delta.»

Es musste nichts zu bedeuten haben, Ortex hatte fünfzehn feste Kunden in der Stadt, sie zuckte die Achseln. Von dieser Schubrick'schen Tagesroutine hatte es bislang nur eine Abweichung gegeben. Schubrick war mit seinem Wagen in die Hagenaustraße 33 gefahren, an einem Mittwoch um 15 Uhr, und hatte ihre Leute überrumpelt, als er direkt in die Tiefgarage hinuntersteuerte. Wahrscheinlich war er dort in den Aufzug gestiegen, «ich glaub nicht, dass der mehr als drei Etagen ohne Herzinfarkt schafft». Nun ja, sie hatten ihn aus den Augen verloren, bis sein Auto um 16.30 Uhr wieder auf die Straße hochfuhr. Ein Abgleich der dort ordnungsgemäß gemeldeten Mieter mit ihren Dateien hatte nichts Auffälliges erbracht.

Holm hatte sich nichts an merken lassen, als sie die Adresse erwähnte: «Können Ihre Leute weiter am Ball bleiben?»

«Sicher, wenn Sie’s für wichtig halten.»

Er betrachtete sie heiter, ihre Beine hielten plötzlich still, und endlich wich sie seinem Blick nicht länger aus. «Ich bin die dienstälteste Oberkommissarin im Ersten.»

Er rechnete stumm nach, es stimmte, zwischen Stolle, der zweiundfünfzig Jahre alt war, und ihr mit zweiundvierzig Jahren gab’s eine auffällige Lücke.

«Aber Waldeck hat angeordnet, dass Brandler die stellvertretende Leitung übernimmt.»

«Hat er das mit den hässlichen Flecken in Ihrer Personalakte begründet?»

«Nix! Er hat gar nichts erklärt, dieser Chauvi.»

«Soll ich intervenieren?»

«Nein», lehnte sie heftig ab und sprang auf den Boden. «Brauchen Sie einen Zwischenbericht Schubrick?»

«Wenn er unter uns bleibt - bitte!»

«Okay.» Sie marschierte aus dem Zimmer und knallte die Tür hinter sich zu, dass es an Sachbeschädigung grenzte.

Kurz vor ihrer «Tagesschau» rief eine Frau an, die ihren Namen nicht nennen wollte, aber darauf beharrte, mit «Herrn Arno Holm» zu sprechen. Zum Glück war sie hartnäckig, und als er sich einstellte, zwitscherte sie nur: «Hier ist Nicole. Sie wissen, wer ich bin?»

«Aber ja.»

«Wir haben gestern einen ganz ungewöhnlichen Kunden gehabt. Der stank nach Terpentin, hatte überall Farbkleckse, wie ein Anstreicher. Hat sich so besoffen, dass er im Whirlpool gekotzt hat. Aber das Tollste ist, dass Golonka ihn freigehalten hat.»

«Freigehalten?»

«Ja, die ganzen Getränke und alles andere gingen auf Rechnung des Hauses, und uns hat der Chef jeweils einen Hunderter in die Hand gedrückt. Für die Schwerstarbeit.»

«Schwerstarbeit?»

«Der Kerl hatte verdammt unruhige Finger.»

«Seltsam», brummte er. Auf was steuerte die liebe Nicole zu? «Fand ich auch, ein ganz unangenehmer Typ. Und so’n armer Schlucker, der hatte bei uns gar nichts verloren.»

«Wissen Sie, wie er heißt?»

«Nein, aber wir sollten ihn Ohgüst nennen.»

«Ohgüst», wiederholte er nachdenklich.

«Oder so ähnlich», fuhr sie ärgerlich fort. «Und als er sich auszog, wollte er uns unbedingt Visitenkarten in die Ausschnitte stecken. Falls wir mal Malunterricht nehmen wollten ...»

Holm saß ganz still, in seinem Kopf raste ein Film ab, er hielt den Atem an.

«Hallo, sind Sie noch dran?»

«Ja, bin ich», stammelte er, und auf einmal keifte sie so ordinär, wie es nur eine hartgesottene Hure kann: «Vier Hände hatte der Kerl, und immer uns zwischen den Beinen, dieses ungewaschene Schwein. Der Arsch von Golonka schaute zu, und als ich mich beschwerte, hat dieser Saukerl mich verprügelt.»

«Wer, dieser Ohgüst?»

«Quatsch, Golonka, dieser schwanzlose Syphilitiker, dieser Sauarsch, dieser Mutterficker. Der Achim hat mich in den Schwitzkasten genommen, sonst hätte ich ihm die Eier einzeln rausgerissen, ja, wenn er Hilfe hat, ist er stark - und dann hat er mich rausgeschmissen, hochkant gefeuert.»

«Das ist ja interessant», murmelte er elektrisiert.

«Interessant? Sie sollten mal sehen, wie ich jetzt aussehe. Dafür kommen Sie jetzt auch mit einem Fünfhunderter rüber, verstanden?»

«Sicher, Nicole, und vielen Dank.»

«Scheiß auf deinen Dank! Zahl lieber pünktlich!» Das Telefon klickte so heftig, dass er sich geistesabwesend das Ohr rieb. Immer, wenn eine nicht so wollte wie er, wurde Golonka gewalttätig - wo hatte er bloß diese Visitenkarte hingesteckt?

Er schwänzte die «Tagesschau» und hetzte nach Hause, durchwühlte alle Anzüge, bis er die Geschäftskarte fand, die ihm der Maler in die Hand gedrückt hatte, den sie für den Gamma-Beobachtungsposten aus seinem großen, leeren und verstaubten Atelier vertrieben hatten. Damals hatte er sie eingesteckt, ohne einen Blick darauf zu werfen. «August Oberwieser, Portraits und Unterricht.» Keine Anschrift, nur zwei Telefonnummern. Und «Ohgüst» klang doch mehr nach Boheme als das deutsche August. Wie viele Künstler mochten bei jeder Gelegenheit ihre Visitenkarten verteilen?

Bei der ersten Nummer meldete sich die Post: «Kein Anschluss unter dieser Nummer.» Leise lachend wählte er die zweite, ließ es zehnmal läuten, bevor er auflegte. Laut Telefonbuch wohnte Oberwieser, August, in der Schmalen Gasse, und das war, trotz des irreführenden Namens, eine gute, sogar eine sehr gute Anschrift. Was hatte der Bohemien mit der Baskenmütze, den er kannte, in einem Spesenpuff wie dem «Rendezvous» verloren, wo eine Flasche «Champagner» mehr kostete, als dieses Sinnbild der Erfolglosigkeit in einem Monat mit Stunden verdienen konnte? Und wie konnte sich Oberwieser, August, eine Wohnung in der Schmalen Gasse leisten?

Auf der Treppe zögerte er. Das mochte alles eine Falle sein, vielleicht hatte sich Nicole tatsächlich über Golonkas Brutalität geärgert und deshalb im Präsidium angerufen. Möglich aber auch, dass sie Golonka gestanden hatte, einer von der Kripo habe sie anzuwerben versucht, Golonka war einiges zuzutrauen ... Er gab sich einen Ruck. Man konnte alles übertreiben, auch die Vorsicht.

Die Schmale Gasse am Rande der Altstadt war liebevoll, streckenweise sogar aufwendig restauriert worden. Die hohen, schmalbrüstigen und spitzgiebeligen Häuser - Fachwerk auf gemauertem Erdgeschoss - leuchteten in frischen, kitschig knalligen Farben. Seit die Schmale Gasse in eine Fußgängerzone umgewandelt war, hatten sich dort Kneipen, Galerien und Geschäfte angesiedelt, die Holm als Schickimicki-Schuppen verabscheute. Es gab die unvermeidlichen Bänke und Bäumchen, die in zu kleinen Pflanzkreisen verdursteten, dazu ein aufwendiges Pflaster in schwarzweißem Muster, das allerdings nach einem Stadtratsbeschluss jetzt durch Platten ersetzt werden sollte. Bei der letzten Großdemonstration hatten sich die Pflastersteine als zu handliche Wurfgeschosse erwiesen. Nummer zwölf unterschied sich in nichts von seinen Nachbarn. Parterre eine Galerie, die sich auf naive Malerei aus der Dritten Welt spezialisiert hatte; die Preise waren allerdings alles andere als naiv. Die Haustür lag am Ende eines schmalen, langen Ganges weit zurück; nach den Klingelschildern zu urteilen, wohnte Oberwieser im Dachgeschoss. Er läutete mehrmals und rüttelte dann ärgerlich an dem Türgriff. Mit einem hässlichen Klicken sprang die Tür aus dem Schloss. Er drehte sich unschlüssig um. Niemand schien ihn beobachtet zu haben.

Das Treppenhaus war eng, aber gut beleuchtet. Verstohlen stieg er bis ins Dachgeschoss, verschnaufte vor der Wohnungstür und klopfte ein paarmal, eigentlich nur, um das Schloss zu studieren. Simpel und fast verboten leicht zu knacken - mit seiner Scheckkarte drückte er mühelos den Schnapper zur Seite. Der leichtsinnige Künstler hatte nicht abgeschlossen. Holm war schon eingetreten, machte noch einmal kehrt und wischte den Türgriff mit dem Taschentuch ab, benutzte es auch für den Lichtschalter.

Die Wohnung war erstaunlich geräumig, zwei große Zimmer mit Fenstern zur Schmalen Gasse und zum Hof. In der Mitte Bad, Toilette und Küche, zwar fensterlos, aber künstlich belüftet; er hörte die Ventilatoren anspringen, als er die Lichtschalter betätigte. Von der Diele führte eine Wendeltreppe in das Obergeschoss. Lautlos stieg er hinauf, streckte ganz vorsichtig den Kopf über das Fußbodenniveau und erstarrte. Oberwieser lächelte ihm erstaunt entgegen, und erst nach einigen Schrecksekunden bemerkte er das kleine, saubere Loch über der Nasenwurzel. Es hatte kaum geblutet. Oberwieser saß auf dem Boden, den Rücken an einen Stützbalken gelehnt. Sein Mörder hatte ihn überrascht und mit einem einzigen präzisen Schuss getötet, so präzis, dass nur ein Profi am Werk gewesen sein konnte. Danach war Oberwieser am Balken hinuntergerutscht, und die Reibung hatte ihm das karierte Hemd aus dem Jeansbund gezogen. Er mochte sechs, sieben Stunden tot sein.

Nach einer beklemmenden Minute Bedenkzeit begann Holm, die Wohnung zu durchsuchen. Große Hoffnungen machte er sich nicht; ein Profi würde vor ihm alles systematisch gefilzt haben. Freilich gab es keinerlei Hinweise darauf, keine Unordnung, keinen geöffneten Schrank, im Gegenteil, alles war penibel aufgeräumt, die ganze Wohnung peinlich sauber - nicht einmal auf den Schränken Staub. Ganz anders als in dem Atelier, aus dem der Tote hatte ausziehen müssen; Holm hatte ihn sofort wiedererkannt. Nachdenklich betrachtete er die Leiche. Wenn er sich nur entschließen könnte - meldete er den Leichenfund, musste er alles erklären. Und das wollte er nicht, noch nicht. Wochenlang hatte er nun erfolgreich den Dummen gespielt - er drehte sich um und stieg hinunter. Erst an der Wohnungstür fiel ihm ein, was sein Unterbewusstsein die ganze Zeit angemahnt hatte: Sie hatten den Maler Oberwieser aus einem Atelier vertrieben, aber in der ganzen Wohnung deutete nicht ein Gegenstand auf seinen Beruf. Keine Staffelei, kein Pinsel, keine Farben. Wo hatte er gemalt - wenn er überhaupt Künstler war; wovon hatte er gelebt?

Unbemerkt verließ er Wohnung und Haus, schleuderte durch die Altstadt, bis er eine leere Telefonzelle fand, und wählte 110. «Schmale Gasse 12, oberste Wohnung, eine Leiche», flüsterte er hastig und legte sofort wieder auf, bevor der verblüffte Beamte eine Frage stellen konnte. Das Band war sofort angesprungen, wie er wusste, und seit er selbst erlebt hatte, was der Stimmenspektrograph leisten konnte, wollte er nichts riskieren.

Vor Annegrets Haus musste er warten. Sie bremste wenige Minuten nach ihm und schoss wie eine Rakete aus ihrem Auto: «Tut mir leid, Arno, aber im Präsidium habe ich dich nicht erreicht, und der Kunde hatte es eilig.»

«Macht nichts», beruhigte er sie gemütlich.

Sie marschierte direkt unter die Dusche, während er in der Küche den Kühlschrank plünderte, und kam mit einer Stinklaune zurück, die sie nicht meisterte. «Ärger?», erkundigte er sich ehrlich interessiert, und sie nickte knapp: «Ziemlich. So ein überschlauer Eigentümer. Hatte gleich zwei Makler beauftragt.»

Ihm kam eine Idee, als er ihr wütendes Gesicht betrachtete: «Sag mal, sind Makler eigentlich spezialisiert?»

«Wie meinst du das?»

«Wenn ich ein Maler wäre und ein Atelier suchte - sollte ich mich dann an einen bestimmten Makler wenden?»

«Hast du deine wahre Berufung entdeckt?»

«Ich nicht. Aber ich suche ein Atelier.»

Seine Abwehr war ihr nicht entgangen, das verrieten ihre für Sekunden fest zusammengepressten Lippen. Doch sie entspannte sich schnell: «Da kann ich dir nicht helfen. Ateliers werden zu selten gewünscht, und in der Regel sind Künstler auch keine Kunden, die sich für uns lohnen.»

«Schade», brummte er leichthin und schwang das Brotmesser.

Um Mitternacht schmiss sie ihn regelrecht hinaus; den ganzen Abend über hatte sich ihre Stimmung nahe dem Explosionspunkt bewegt, sodass er nur pro forma protestierte, heimlich froh, verschwinden zu können.

Die Nacht war ungewöhnlich schön, warm, aber nicht mehr heiß, und ein schwacher Wind blies den schwülen Mief fort. Er ließ sich Zeit, fuhr im dritten Gang mit so wenig Gas, dass der Motor zu stottern drohte, und überlegte. August Oberwieser war erschossen worden - einen Tag nachdem er im «Rendezvous» auf den Putz gehauen hatte, freigehalten von einem Lutz Golonka, der seine Großmutter en detail verkaufen würde, wenn es nur Geld brachte. Ihm fiel sein Versprechen ein, deswegen hielt er an und kontrollierte seine Brieftasche: Fünf Hunderter hatte er noch, und Nicole würde das Geld gebrauchen. Dringend sogar.

Die Steigerwaldstraße lag verlassen, und im Hochhaus Nummer 44 brannte nur noch in zwei Zimmern Licht. Vorsichtshalber hatte er den Wagen weit entfernt geparkt; er tat, als klingele er, und stopfte die fünf Scheine in den Hausbriefkasten der Anja Bauer. Man konnte ihm viel nachsagen, aber seine Schulden bezahlte er prompt. In einem großen Umweg bummelte er zum Auto zurück.

Die milde Nacht hatte ihn unvorsichtig gemacht. Zwar achtete er wie immer auf die Garage, aber darin blieb es ruhig, und deshalb marschierte er eilig durch die dunkle Toreinfahrt auf die Haustür zu. In allerletzter Sekunde warnte ihn etwas, ein Geräusch oder ein Schatten oder eine Bewegung, er fuhr noch herum, beide Arme hochgerissen. Der Bleiknüppel oder das Eisenrohr verfehlte seinen Kopf, schrammte über seinen linken Oberarm und landete auf seiner Schulter, die vor Schmerz explodierte. Die Wucht des Schlages riss ihn von den Füßen, warf ihn gegen die Wand, und als seine Schläfe gegen die Mauerkante knallte, versank er in einem unendlich tiefen schwarzen Loch.

Er wurde wach und fror, dass ihm die Zähne klapperten. Sein Schädel schien zu platzen, eine Sekunde vor unerträglichen Schmerzen, die andere wegen einer alles überschwemmenden Übelkeit. Er atmete ganz flach, um sich nicht zu übergeben, um nicht wieder in das Loch zurückzufallen.

Nach unendlich langer Zeit kroch er auf allen vieren die Treppe hinauf, jede zweite Stufe musste er neue Kraft sammeln, die Beleuchtung erlosch, und er brauchte lange, bis er die Quelle des trüben Lichtes begriff: In seiner Wohnung brannten Lampen, und die Wohnungstür war nur angelehnt. Die Wut verlieh ihm neue Energie. Seine Schlüssel steckten noch von außen.

Nach einer Stunde hatte er seine Wunden verarztet, den Umfang seines Kopfes auf die Hälfte reduziert und seinen steifen Arm durch Übungen und Aufräumen wieder halbwegs gelenkig bekommen. Der oder die Täter hatten seine Wohnung schnell, aber gründlich durchwühlt. Doch so viel er feststellen konnte, fehlte nichts. Und Akten oder dienstliche Unterlagen hatte er nicht in der Wohnung aufbewahrt. August Oberwiesers Visitenkarte lag noch immer neben dem Telefon.

Am nächsten Tag meldete er sich krank, schlief viel und war gegen Abend wieder fit. Die Schulter protestierte wohl noch immer gegen schnelle Bewegungen, aber sein Kopf war klar.

*


PETER KILIAN BEMERKTE süffisant: «Von einer Oberkommissarin zum Kriminalrat ist schon ein ganz netter Sprung.»

Weil die Maskenbildnerin ihm gerade mit dem Puderquast vor der Nase herumfuhrwerkte, konnte er nicht sofort antworten; im Spiegel sah Holm, dass der Fernsehredakteur ihn spöttisch beäugte. «Es ist ja auch ein ganz schön dicker Fall», brachte er endlich heraus.

«Nicht niesen!», warnte die junge Frau energisch. Kilian lachte.

«Ich muss übrigens eine Bedingung stellen», fuhr Holm fort, mannhaft den Niesreiz unterdrückend. «Der Name des weiblichen Opfers wird nicht genannt.»

«Ich bin nicht lebensmüde, Herr Holm», parierte Kilian trocken. «Umso besser. Geben Sie mir bitte eine Minute für eine kleine Predigt.»

«Predigt?» Kilian beugte sich vor.

«An die Hintermänner der Täter. Sie werden heute Abend zuschauen.» Holm grinste herausfordernd, Kilian zwinkerte entgeistert, und die Maskenbildnerin hatte gar nicht zugehört. Ihr Parfüm konnte einen Elefanten narkotisieren.

Die trockene Luft im Studio reizte wieder seine Schleimhäute, Kilian warf ihm von der Seite einen besorgten Blick zu, bevor er kühl, routiniert und angenehm sachlich das Thema anmoderierte:

«Eine ungewöhnlich große Belohnung, nicht wahr, Herr Kriminalrat?»

«Sehr ungewöhnlich, Herr Kilian.» Bei seinen ersten Auftritten vor Kameras, Mikrofonen oder Menschen hatte Holm vor Lampenfieber gezittert, aber das hatte sich gelegt. «Die Kriminalpolizei ist übrigens vorher nicht gefragt worden, ob sie diese Summe für vernünftig hält.»

Selbst der Profi Kilian zuckte zusammen: «Soll das heißen, dass Sie mit den hunderttausend Mark nicht einverstanden sind?»

«Genau so.» Hoffentlich hatten alle ihren Fernseher eingeschaltet, vor allem Ingeborg Wendel. «Ich rede nicht von den Geldgierigen und Fastverrückten, die uns nun die Bude mit angeblich hundertprozentigen Tipps einrennen werden. Ich rede von der inneren Logik dieser Summe.»

«Das müssen Sie genauer erklären.»

«Wir wissen, was am Waldsaum passiert ist. Drei Männer, Profis, sind in das Haus eingebrochen, um ganz bestimmte Gegenstände zu klauen. Diese Wertgegenstände waren vorher genau ausbaldowert. Die Profis wussten genau, wo sie was zu suchen hatten. Was sie nicht wussten, war, dass ein junger Mann und seine junge Freundin ausnahmsweise in dem sonst leer stehenden Haus übernachteten. Das Pärchen überraschte die Einbrecher - nun ja, die Folgen kennen Sie.»

«Das Mädchen wurde mehrfach vergewaltigt, der junge Mann so schwer verletzt, dass er gestorben ist.»

«Richtig. Aus Einbruch ist somit Notzucht und Mord geworden. Unter Brüdern also real fünfzehn bis achtzehn Jahre Knast.»

Jetzt endlich schaltete Kilian: «Mit hunderttausend Mark sehr schlecht bezahlt, wenn einer der drei Männer singen sollte.»

«Wenn er das Geld überhaupt bekommt! Die Rechtslage ist nämlich eindeutig: Täter oder Mittäter gehen leer aus.»

So ganz schien Kilian doch nicht kapiert zu haben: «Moment mal, Herr Holm, vielleicht zielt die Belohnung gar nicht auf die Täter, sondern auf Zeugen, die sich bis jetzt nicht gemeldet haben.» «Solche Zeugen gibt es nicht, Herr Kilian, das dürfen Sie mir ruhig glauben.»

«Haben Sie sich selbst mit dem Fall beschäftigt?»

«Ja.»

Kilian holte tief Luft: «Warum dann diese Belohnung, Herr Holm?» «Wenn sie überhaupt wirken soll, muss sichergestellt sein, dass einer der Mittäter erstens das Geld erhält und zweitens nicht lebenslänglich auf die Auszahlung warten muss.»

«Mit anderen Worten - Sie spielen auf die Kronzeugenregelung an.»

«Die für terroristische Vereinigungen gilt, nicht für kriminelle Banden», lächelte Holm fromm und stieß heimlich ein Stoßgebet aus. Mit Erfolg, denn Kilian hatte endlich die Richtung gewittert: «So ist es. Oder genauer: So sollte es sein ...»

«Entschuldigung, ich muss Sie unterbrechen: So sollte es bleiben.»

«Haben Sie denn Hinweise, dass man versucht, die Kronzeugenregelung auf die kriminelle Tat am Waldsaum anzuwenden?»

«Ja.»

«Können Sie das näher erläutern?»

«Nein. Leider nicht. Ich bin Beamter und muss mich an meine Dienstvorschriften halten.»

Kilian, einen Moment aus der Fassung gebracht, blätterte in seinen Unterlagen, fing sich aber rasch: «Haben Sie denn überhaupt Hoffnung, den Fall zu lösen?»

«Natürlich.»

«Und wann?»

«Das kann ehrlicherweise niemand voraussagen. Wir wissen eine ganze Menge, wir verfolgen immer noch Spuren, was viel Zeit und Geduld kostet, mehr, als eine ungeduldige Öffentlichkeit uns oft einräumen will. Und wir brauchen auch, was ich gar nicht leugnen will, im entscheidenden Moment etwas Glück.»

Kilian griente süßsauer: «Herr Holm, wenige Stunden nach dem ... dem Vorfall im Waldsaum ist eine Ihrer Kolleginnen auf dem Ebertdamm erschossen worden. Können Sie uns etwas zu diesem Fall sagen?»

«Gern. Es waren vier Männer, vier Einbrecher. Einen davon kennen wir namentlich.»

«Das heißt, Sie fahnden nach ihm?»

«Nicht nur wir, Herr Kilian. Die vier Männer bildeten eine Untergruppe einer perfekt organisierten Bande. Wir befürchten nun, dass dieser Mann nicht nur von uns gesucht wird, sondern auch von der Organisation, der wir durchaus zutrauen, mit unsicheren Kantonisten oder gefährlichen Zeugen kurzen Prozess zu machen.»

«Hat dieser Gesuchte den tödlichen Schuss auf die Zivilfahnderin abgefeuert?»

«Nein, das steht fest.»

Man sah förmlich, wie sich Kilian vortastete: «Für einen solchen Mann wäre doch eine Kronzeugenregelung - nun, sagen wir - hilfreich.»

«Sicher!» Holm nickte strahlend.

«Dann sind Sie nicht prinzipiell gegen das Kronzeugengesetz?»

«Warum ein neues Gesetz? Strafgesetzbuch und Strafprozessordnung erlaubten doch früher schon, einen reuigen und geständigen Sünder gnädig oder milde zu behandeln. Das heißt allerdings nicht, dass er straffrei ausgeht. Damit wäre ich nicht einverstanden.»

«Können Sie sich überhaupt Gesetze vorstellen, die Ihnen die Aufklärung der beiden Fälle Waldsaum und Ebertdamm erleichtern würden?»

«Vorstellen kann ich mir das schon.»

«Zum Beispiel, Herr Holm?» Ein Mitarbeiter schlich geduckt zu Kilian und schob ein Blatt Papier auf das Pult; Kilian überflog die zwei Zeilen und winkte ärgerlich ab.

«Nun, jeder Mensch, der sich auf dem Territorium der Bundesrepublik aufhält, muss ständig einen maschinenlesbaren Pass oder Personalausweis mit sich führen. Jeder Polizist hat das Recht, jederzeit ohne konkreten Anlass diesen Ausweis zu kontrollieren, die Kontrolle wird mit Ort, Datum und Uhrzeit gespeichert. Weiten Sie dieses Recht aus auf Hoteliers, Bankangestellte, Fahrkartenverkäufer, Leihwagenfirmen, Tankwarte und Taxifahrer.»

Kilian blieb der Mund offen stehen, und erst als Holm sich räusperte, platzte er heraus: «Das ist doch nicht Ihr Ernst! Das wäre der totale Polizeistaat.»

«Sicher. Wir geben die Freiheit auf, um jedes Verbrechen schnell zu klären. Was ist Ihnen lieber?»

Einen Moment herrschte absolute Stille im Studio, bis Kilian so tief einatmete, dass sein Jackett spannte: «Herr Holm, Ihre Technik, andere aufs Glatteis zu führen, ist bewundernswert. Aber Sie weichen vom Thema ab ...»

«Nein, ganz und gar nicht. Wir wissen, wer hinter den Verbrechen im Waldsaum und auf dem Ebertdamm steckt. Wohlgemerkt: Wir wissen es, können es aber noch nicht beweisen. Um diese Beweise zu finden, brauchen wir Zeit. Wir haben Geduld und Ausdauer, Herr Kilian.»

«Das ist eine klare Auskunft, Herr Holm, vielen Dank für dieses ... bemerkenswerte Gespräch.»

Holm wollte nicht auf Kilian warten, weil er ahnte, dass der Fernsehredakteur ihm gern ein paar unfreundliche Sätze verklickert hätte. Unter der gelangweilten Gleichmütigkeit der Maskenbildnerin, die ihn abschminkte, entspannte er sich. Sie interessierte sich nicht fürs Fernsehen, schon gar nicht für aktuelle Sendungen, dafür dudelte das Kofferradio schmerzhaft lauten Hardrock, ihr rechter Fuß zuckte im Takt. Die brennende Zigarette, die ihr wie vergessen im Mundwinkel klebte, beunruhigte Holm, wenn die Glut vor seinem Gesicht herumschwenkte.

«So, das wär’s», murmelte sie zum Abschied, und er war sicher, dass sie eine Sekunde später sein Gesicht schon vergessen hatte.

Auf dem Parkplatz zögerte er vor seinem Auto. Jetzt wühlte ein Bärenhunger in seinem Magen, aber der Gedanke an ein einsames Essen missfiel ihm, je länger er ihn erwog. Kurz entschlossen machte er kehrt und ging zum Eingang des Fernsehstudios zurück: «Darf ich mal telefonieren?»

Nach dem zweiten Läuten nahm Cordula Matthies ab und legte statt einer Begrüßung los: «Sagen Sie mal, wollen Sie sich freiwillig aus dem Polizeidienst abmelden?»

«Haben Sie die Sendung so verstanden?»

«Ja, sicher, als Kriegserklärung.»

«Das ist gut. Dann bin ich mit meiner Botschaft rübergekommen. Darf ich Sie daraufhin zum Essen einladen?»

«Ob Sie ...» Einen Moment blieb der Hörer stumm, er drückte sich die Daumen und wusste selbst nicht, warum. Schließlich seufzte sie. «Und wo, verehrter Chef?»

«Kennen Sie den «Schwarzen Adler» im Sindeltal?»

«Ja. Ich brauche aber vierzig Minuten.»

«Bis dann. Ich freue mich.»

Cordula genoss in dem gut besuchten Restaurant ihren gelungenen Auftritt. In aller Eile hatte sie die große Kriegsbemalung aufgetragen, die Haare hochgekämmt und ein schlichtes blaues Kleid mit weißen Tupfern und beachtlicher Kürze oben und unten angezogen, das von zwei winzigen Spaghettiträgern auf tiefbrauner Haut gehalten wurde. Er registrierte und sie wusste, dass ihr eine Menge verstohlener Männerblicke folgte. In der Hand hielt sie einen braunen Umschlag; er enthielt den Zwischenbericht Schubrick, auf den neuesten Stand gebracht, «und ich dachte, es wäre besser, ihn nicht auf Ihrem Schreibtisch offen zu deponieren».

«Fällt Ihnen eigentlich auf, dass wir uns inzwischen wie Verschwörer benehmen?» Zu seinem Erstaunen konnte sie darüber nicht lachen, sondern errötete, und diese Reaktion gab ihm den ganzen Abend zu denken. Während des Essens legte sie einmal Messer und Gabel zur Seite: «Ich glaube, ich weiß jetzt, worauf Sie hinauswollen. Die SoKo ist in Ihren Augen nur ein Ablenkungsmanöver. Der Fall Waldsaum wird, wenn überhaupt, nur mit den üblichen Polizeimethoden gelöst. Plus Glück und Zufall.»

«Richtig. Sie müssen aber noch einen Schritt weitergehen.»

Weil sie sah, dass er diesen Satz ernst gemeint hatte, runzelte sie die Stirn. Doch erst beim Dessert klopfte sie plötzlich mit dem Löffel an die Glasschale: «Wenn das so ist, warum hat dann niemand protestiert, als ich die Akten abgegeben habe?»

«Das ist der springende Punkt.»

Danach trank sie ihren Kaffee und Cointreau, tief in Gedanken versunken; er beobachtete sie amüsiert, und sie lächelte flüchtig, wenn sie hochschaute: «Ist was?»

«Nein, ich überlege nur, wie ich am besten das Ihnen zustehende Kompliment formuliere.»

«Vielen Dank», murmelte sie mehr zerstreut als geschmeichelt. «Es gibt eine Erklärung - aus meiner Sicht. Sie hat nur den Nachteil, dass ich Sie damit beleidige.»

«Nein, keine Sorge.»

«Sie haben die Abgabeverfügung an die Staatsanwaltschaft unterzeichnet - erstaunlich übrigens, dass sich Waldeck nicht eingemischt hat. Sie leiten die SoKo, die keinen Erfolg hat - oder genauer: Den Einbruch im Waldsaum nicht aufklären wird. Sie kümmern sich nicht um den Ebertdamm. Sie werden zum Schluss als Versager dastehen und wem auch immer als Sündenbock dienen.»

«Völlig richtig. Und ich werde - was Sie vergessen haben - für eine SoKo verantwortlich sein, die sich durchaus nicht nur auf Hehlerei konzentriert.»

«Und was machen wir dagegen?»

Das «wir» tat ihm gut, aber er war nicht sicher, ob sie es bewusst ausgesprochen hatte. Irgendwann hatte sie seine Haltung akzeptiert und sich auf seine Seite geschlagen, aber er hatte kein Recht, sie in seinem privaten Krieg zu opfern. Dass Waldeck sie bei der Stellvertretung des Ersten Kommissariats übergangen hatte, konnte mit seiner Abneigung gegen Frauen in leitenden Positionen zusammenhängen; sie schien es anzunehmen. Es konnte jedoch in einem Haus, das argwöhnisch potentielle Abweichler überwachte, auch eine erste Reaktion auf ihr verändertes Verhalten gegenüber einem unbequemen Kriminalrat sein.

«Im Moment können wir nichts unternehmen», belehrte er sie deswegen freundlich mit einer heiteren Miene, von der er nur hoffen konnte, dass sie überzeugte. «Die erste Mine habe ich gelegt ...»

«... und nun muss einer drauftrampeln. Das Essen war fantastisch, ich bin genudelt und platze gleich.»

«Das sollte vielleicht nicht in einem geschlossenen Raum geschehen.» Auf dem Parkplatz hielt sie seine Hand etwas länger als nötig, und als er sie, leise lachend, auf die Wange küsste, presste sie sich wie zufällig an ihn.

Die angenehme Gefühlsmischung aus etwas Glück und ein wenig Triumph verflog blitzschnell, als er den Umschlag mit dem Schubrick-Zwischenbericht öffnete und vier Bilder auf den Tisch glitten. Gleich das erste traf ihn wie ein Haken in die Magengrube. Eine dunkle, ihm unbekannte Straße, schwach erleuchtet von einer Laterne, unter der ein Auto günstig parkte, sodass er das Kennzeichen mühelos lesen konnte. Ein Mann und eine Frau waren gerade ausgestiegen, den Mann kannte er nicht, die Frau dafür aber umso besser. Annegret Marquardt, langbeinig und verführerisch, hatte den Kopf in einer stolzen Gebärde nach hinten geworfen, das Gesicht der Kamera zugedreht, als wolle sie sich in bester Pose präsentieren. Halb betäubt drehte er die Aufnahme um: Heute morgen, 2.55 Uhr, vor der Villa von Otto Schubrick geknipst.

Das zweite Bild: 2.56 Uhr. Annegret und der Unbekannte am Kofferraum des Wagens, der Deckel war hochgeklappt, sie holten mehrere flache Gegenstände heraus, die anscheinend in Tücher eingeschlagen waren. Ganz genau ließ es sich nicht erkennen, der überempfindliche Film hatte ein grobes Korn.

Nummer drei: 2.57 Uhr. Die Haube des Kofferraums war geschlossen. Der Unbekannte hatte das niedrige Gartentörchen schon geschlossen, Annegret stand direkt hinter ihm. Beide trugen sie in jeder Hand einen extrem flachen Gegenstand, vielleicht ein mal ein Meter groß, in Stoff eingewickelt, aber offenkundig nicht schwer.

Nummer vier: 3.01 Uhr. Der Unbekannte schien den Kofferraum abzusperren. Annegret stieg schon auf der rechten Seite ein. Jetzt hatten sie nichts mehr bei sich.

Hastig griff er nach dem Bericht, überflog die letzte Seite: «... beide Personen sind nicht identifiziert. Das Kfz ist auf den Namen Golonka, Lutz, Achterlohstraße 56, zugelassen. Mann und Frau haben sich keine zwei Minuten in der Schubrick-Villa aufgehalten, haben offenbar nur die vier nicht identifizierten Gegenstände abgeliefert. Von meinem Standort aus konnte ich nicht sehen, wer in der Villa die Haustür geöffnet hat.»

Lange Zeit saß er ganz still, die Hände über dem Umschlag fest gefaltet, und rief sich noch einmal die Geschichte ins Gedächtnis. Wie Annegret «zufällig» mit ihm in seiner Stammkneipe zusammengetroffen war. Welche Vorbereitungen nötig waren, um die Lüge von dem verpassten Kunden glaubwürdig zu machen. Wie sie versucht hatte, ihn auszuhorchen, bis hin zu der Szene im Schwimmbad. Und weil er stur blieb, musste sie zurückkehren, Zuneigung heucheln. Sie war eine so faszinierende wie perfekte Hure, die ihren Körper einsetzte, um etwas von ihm zu erfahren. Bis gestern. Da hatte er sie aufgeschreckt, als er zufällig nach Ateliers fragte. Danach hatte sie ihn abgeschoben und sofort Alarm geschlagen: Die Kripo scheine auf der richtigen Spur zu sein. Aus welchem Atelier mochten sie und Golonka die Bilder geholt haben, die sie heute Nacht bei Schubrick abgeliefert hatten? Akten hatten sie in seiner Wohnung nicht gefunden, aber Oberwiesers Visitenkarte, und jetzt mussten sie befürchten, dass er die Zusammenhänge durchschaute.

Doch ein Fehler war ihnen unterlaufen. Annegret hatte ihn aufgegabelt, bevor er die Sonderkommission Hehlerei übernahm. An dem Abend in der «Kupferkanne» wusste er noch nichts von seinem Glück, aber irgendwo auf den Teppichboden-Ebenen des Präsidiums oder des Landeskriminalamtes war sein Name schon gefallen und sofort nach draußen getragen worden.

Ihr Fehler - seine Rückversicherung. Plötzlich hatte er Durst auf einen großen, starken, eiskalten Whisky.

Sammelband 4 Horst Bieber Krimis: Zeus an alle / Was bleibt ist das Verbrechen / Moosgrundmorde / Nachts sind alle Männer grau

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