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16.

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Mischa zitterte vor Kälte, obwohl es in dem kleinen Zimmer heiß und stickig war. Die schlechte Luft stand zum Schneiden dick, er hätte gern das Fenster geöffnet, aber auf dem Hof stank es nach Urin, Küche und verfaulenden Pflanzenresten. Die Schwaden hatten ihn würgen lassen, Magensaft war ihm bis in den Mund gestiegen. Die Bezeichnung «Hotel» war eine unverschämte Hochstapelei für diesen verfallenden zweistöckigen Bau. Auf der anderen Seite des Hofes lag die Kneipe, aus der wüster Lärm drang, das Gebäude rechts, mit zerbrochenen und blinden Fensterscheiben, mit einem eingesunkenen Dach, schien leer und unbenutzt zu sein. Links hatte sich der Wirt einen moderneren Trakt hingestellt, aber das Geld hatte weder für einen Putz noch für ein ordentliches Dach gereicht.

Gut hundert Meter entfernt toste und rauschte die Bundesstraße, von der sich selten ein Fahrer zu diesem schmutzigen Haus verirrte. Die meisten Autos auf dem Kiesplatz gehörten wohl Jugendlichen aus dem Dorf, und die schrill kieksenden Mädchenstimmen passten in das Bild eines derben Ringelpiez mit Anfassen.

Mischa hatte lange geschwankt. Das «Hotel» besaß einen eigenen Eingang, er musste also nicht durch die Kneipe, das war von Vorteil. Auf der anderen Seite saß er wie in einer Falle, weil er nicht unbemerkt verschwinden konnte. Bis zum Dorf war’s ein knapper Kilometer über ebenes, offenes Gelände ohne jede Deckung, und selbst der Wirt, der auch nur sah, was er bemerken wollte, hatte ihn argwöhnisch betrachtet - hierhin kam man nur mit einem fahrbaren Untersatz.

«Der Kerl wurde aufdringlich», hatte er deshalb gemurmelt.

Der Riese mit dem Dreitagebart grunzte: «Anhalter?»

«Notgedrungen. Der Führerschein ist futsch.» Es war nicht einmal gelogen, Maria Müller oder die Bande hatte vorgesorgt, alle seine Papiere und Ausweise in der Brieftasche gelassen, nur den Führerschein herausgenommen. Ihn damit wirkungsvoll in seiner Beweglichkeit gelähmt. An sein Privatauto kam er nicht heran, das wurde im schlimmsten Fall von der Organisation und von der Polizei bewacht, und einen Leihwagen konnte er sich ohne Führerschein nicht mieten.

Seine Erklärung schien hier eine Art Empfehlung zu sein; der finstere Blick des Riesen machte einer halb gutmütigen, halb verächtlichen Miene Platz: «Meine Frau zeigt Ihnen Ihr Zimmer.»

Sie war eine auffallend hübsche, zierliche Person mit einem Puppengesicht, das keinerlei Regung zeigte. Nur als er die Treppe in den ersten Stock hinaufhinkte, schaute sie gleichmütig auf sein Bein, und wieder fühlte er sich bemüßigt, eine Erklärung abzugeben: «Autounfall. Und leider war ich besoffen.»

Sie entgegnete nichts, als sei sie taub, schloss auf und wartete völlig regungslos, während er sich umsah. Ihn schauderte, aber mit den Schmerzen kam er heute nicht weiter, er brauchte Ruhe.

«Kann ich hier baden? Und ein großes Handtuch bekommen?» Wortlos nickte sie, deutete auf eine Tür am anderen Ende des Ganges und drehte sich um. Zwei Minuten später war sie zurück, legte ein großes Badetuch und ein verpacktes Stück Seife auf die Kommode und verschwand. In der ganzen Zeit hatte sich kein Muskel in ihrem Gesicht bewegt.

Er badete gründlich, rasierte sich, schnitt Fuß und Fingernägel und wusch dann Hemd und Wäsche aus, die er total durchgeschwitzt hatte, rieb seine Socken mit Seife ein, spülte sie aus und putzte zum Schluss seine Schuhe mit Toilettenpapier. Die Schmerzen in der Wunde hatten sich wieder gemeldet, die Narbe pochte wie Feuer. Er fühlte sich elend und kraftlos, und nachdem er eine Plastikleine ausgespannt und seine feuchten Sachen aufgehängt hatte, fiel er aufs Bett und presste die Fäuste vor den Mund, um nicht loszuschreien. Was, zum Teufel, war bloß mit dieser verdammten Wunde los? Als die Schmerzwelle verebbte, schluckte er zwei Tabletten und schlief sofort ein.

Der Lärm aus der Kneipe weckte ihn. Er hatte Hunger und Durst. Langsam, wie in Zeitlupe, stellte er sich auf die Füße. Nur keine schnelle Bewegung, nur nichts tun, was mehr Kraft kostete als unbedingt nötig. Seine Sachen waren noch klamm, aber würden bis morgen trocknen. Er zog den Jogging-Anzug über, den er heute Morgen gekauft hatte.

In der Gaststube dröhnte die Musikbox, dass sein Magen im Rhythmus der Bässe hüpfte. Über allem schwebte ein blauer Nebel, Männer brüllten, Frauen schrien, der Lärm überfiel ihn wie ein Schlag. Der Riese hinter der Theke bewegte sich kaum vom Fleck, zapfte pausenlos und schüttete Schnapsgläser voll, er war geschickter, als seine demonstrative Unbeweglichkeit vermuten ließ, und in dem schläfrigen Gesicht rollten halb verhangene Äuglein hin und her. Ein gefährlicher Typ, der es darauf anlegte, unterschätzt zu werden. Drei Kellnerinnen rasten wie die Irren mit vollen und leeren Gläsern, wichen Händen aus, die nach ihnen griffen, oder hielten für Sekunden still, wenn sich eine Hand unter ihre Röcke verirrte. So wüst die Gäste sich benahmen, so hatte Mischa doch den Eindruck, dass es eine Art geschlossener Gesellschaft war, die sich blitzschnell gegen einen Fremden oder einen Störenfried vereinigen würde. Eine saftige Prügelei zählte für diese Kerle zum Wochenendvergnügen, und deshalb hinkte er betont zur Theke und gab sich höflicher, als er sonst mit solchen Typen umgesprungen wäre.

«Telefon?» Der Wirt sprach so leise, dass man ihm die Wörter von den Lippen ablesen musste. «Hinterzimmer, gleich die Tür links.» Viel leiser war es trotz der geschlossenen Tür nicht. Sorgfältig wählte er alle vier Nummern, die er auswendig gelernt hatte, aber niemand hob ab. Niemand, obwohl er es bei allen acht Mal hatte läuten lassen. Ihm war eiskalt, als er den Hörer auflegte.

In der hintersten Ecke fand er noch einen Platz an einem Tisch, die beiden schon handfest schmusenden Pärchen rückten beleidigt zur Seite, die Burschen musterten ihn finster, aber er wich ihren Blicken bewusst aus und vertiefte sich in die Zeitung, die er mitgebracht hatte. Endlich verirrte sich eine Kellnerin an seinen Tisch, er bestellte ein Bier und fragte halb brüllend, ob er etwas zu essen bekommen könnte. Der Lärm machte jede Verständigung schwierig. «Nur Schnitzel mit Salat und Pommes.»

Er nickte, sie sauste davon, erschien im Handumdrehen mit dem Bier; er dankte, was sie schon nicht mehr mitbekam. Geduldig, um nicht aufblicken zu müssen, worauf die beiden Männer an seinem Tisch eine ganze Zeit warteten, las er jede Seite von oben bis unten. Erst als die Pärchen wieder lautstark zusammenrückten, entspannte er sich.

«Ihr Essen.»

Die Wirtin; er hatte sie nicht kommen hören und schrak zusammen, in ihrem Puppengesicht verzog sich kein Muskel; sie deckte auf, stellte das Tablett ab und beugte sich so über den Tisch, dass die beiden Paare für Sekunden nur ihren Rücken bewundern konnten: «Warte auf mich! Kurz nach elf, in deinem Zimmer.» Es ging alles so schnell, dass er nicht einmal sicher war, ob er sich nicht getäuscht hatte. Denn ihr Gesicht war schon wieder so glatt und nichtssagend wie zuvor. Als sie fortging, schaute er ihr unwillkürlich nach. Keine Männerhand wagte sich auf ihre Rückseite, obwohl sie dicht an den Stühlen vorbeiglitt - dichter als die drei drallen Bedienungen. Und obwohl der riesige Wirt in die andere Richtung blickte.

Um zehn Uhr versuchte er zum letzten Mal alle vier Telefonnummern. Vergeblich, was ihn nicht erstaunte. Sie hatten ihn abgeschrieben. Er zahlte an der Theke und nahm Getränke mit auf das Zimmer; den Weg bis zur Tür spürte er den forschenden Blick des Wirtes auf seinem verletzten Bein.

Eine Minute nach elf öffnete sie die Zimmertür; er hatte sie nicht kommen gehört. Leise drehte sie den Schlüssel um und ging zum Fenster, zog die verschlissenen Vorhänge vor und entriegelte die Flügel für einen schmalen Spalt.

«Was willst du?», fragte er flach.

Ausdruckslos musterte sie ihn, nahm sich eine Flasche und goss sich ein. Selbst als sie sich eine Zigarette anzündete, verriet ihr Gesicht so wenig Bewegung, dass er einen Moment daran dachte, sie könne eine Nervenlähmung haben. Doch dann verzog sich ihr Mund zu einem freudlosen Lächeln: «Wegen des Wirtes brauchst du dir keine Sorgen zu machen. Der vermisst mich nicht.»

«Warum bist du hier?»

«Die suchen dich, was?»

«Wer sucht mich?»

«Die Bullen. Oder deine früheren Kumpel.»

«Wie kommst du darauf?»

«Ich kenne Leute, die auf der Flucht sind.» Darauf sagte er nichts. «Soll ich dich verstecken?» Sie fragte tonlos wie ein Sprechautomat. «Hier kannst du nicht bleiben.»

«Und wohin soll ich?»

Sie stand auf; noch immer bewegte sich kein Muskel in ihrem Gesicht: «Pack zusammen. In drei Stunden hole ich dich ab.»

Sie fuhren durch das dunkle, menschenleere Dorf. Am Horizont schimmerte schon ein heller Streifen, so schwach, dass er ziellos überlegte, ob es bereits der Morgen war oder nur der Widerschein eines Ortes. Er hatte an seiner Seite die Scheibe halb heruntergekurbelt und genoss nach dem Mief seines Zimmers die frische Luft. Wegen der Müdigkeit, die ihn erfüllte, konnte er sogar für Minuten seine Furcht vergessen. Wahrscheinlich war es reiner Wahnsinn, sich der fremden Frau anzuvertrauen, aber im Moment wollte er darüber nicht nachdenken. Nicht jetzt.

Hinter dem Dorf bog sie in eine schmale Landstraße ein, die auf den ersten Kilometer noch rechts und links mit hohen Pappeln bestanden war. Das Gelände stieg fast unmerklich an, bald erreichten sie Wald, die Straße begann sich zu krümmen und zu schlängeln. Mitten im Wald bog sie nochmals ab, auf einen Wirtschaftsweg, der tief ausgefahren war, das Auto hoppelte und rumpelte. Er verlor die Übersicht, so sehr kreuzte sie hin und her, links und rechts, rauf und runter. Er hatte keinen blassen Schimmer, wo sie waren. Offenbar ahnte sie seine Gedanken. Denn plötzlich bremste sie, holte aus dem Handschuhfach eine Karte und deutete auf einen Punkt: «Wir sind hier. Wenn du abhauen musst, halte dich nach Osten.»

Er zuckte gequält die Achseln und steckte die Karte ein. Flucht - du meine Güte! Wie weit würde er mit seinem Bein kommen?

Die Hütte lag in einer Mulde so gut geschützt, dass er sie erst bemerkte, als sie direkt davor anhielt. Wortlos stieg sie aus und begann auszupacken. Unbehaglich sah er sich um. Die Einsamkeit und die Stille irritierten ihn, er war ein Stadtmensch, der allenfalls manchmal im Wald spazieren gegangen war. Wenn sie ihn hier fanden, steckte er wirklich in der Falle.

Die Hütte war nicht groß, aber vollständig eingerichtet. Ein großer Raum, eine Küche mit Wasserpumpe, ein winziges Bad, sogar gekachelt, mit einem gasgeheizten Kessel. Die Gasflaschen standen in einem gemauerten Anbau, und sie zeigte ihm, wie sie angeschlossen und benutzt wurden. Nur ihre Lippen bewegten sich. Ein zweiter Anbau, ebenfalls ohne Fenster, diente als Speisekammer; er war erstaunt, wie kalt es ihm entgegenwehte, als sie die Tür öffnete. «Nur mit dem Licht musst du dich bescheiden», bemerkte sie, und er lachte ungläubig. Petroleumlampen - so was gab’s also noch; er hatte nie eine in der Hand gehabt.

«Hilf mir!», befahl sie kurz. «Ich kann nicht ewig bleiben.»

Vorräte, Bettzeug, Bücher, Radio, Ersatzbatterien, zwei Gasflaschen: Sie schien an alles gedacht zu haben. Sein Blick verriet ihn, und wieder zeigte sie das humorlose Lächeln: «Ich verkrieche mich hier öfters.»

«Allein?»

«Vor meinem Mann und seinen Freunden - keine Angst, keiner weiß, wo ich dann bin.»

«Warum tust du das? Warum hilfst du mir?»

Sie antwortete nicht, und er war zu müde, die Frage zu wiederholen. Sie würde es auch nicht erklären.

Die ersten Tage entwickelten sich zu einer Form von Hölle. Er hätte nie gedacht, dass ihm die Einsamkeit so zu schaffen machen würde. Bald ertappte er sich dabei, dass er Selbstgespräche führte oder sich mit dem Radio unterhielt, das praktisch den ganzen Tag vor sich hin dudelte oder plapperte. Auch an das eiskalte Wasser, das er hochpumpte, musste er sich erst gewöhnen; es schmeckte durchdringend moorig. Durch Zufall fand er heraus, dass nasse Umschläge seinem Bein guttaten, der Schmerz ließ nach. Die Wunde selbst sah ordentlich aus, die Narbe wässerte und eiterte nicht, aber offenbar hatte die Kugel doch einen Muskel oder Nerv beschädigt, und die große Belastung während seiner Flucht war dem Bein gar nicht bekommen. Im Wald suchte er sich einen kräftigen Ast mit einer Gabel, den er als Krücke benutzte. Gut gekühlt und nur wenig belastet, machte sein Bein kaum Beschwerden. Vielleicht hatte er ja doch noch eine Chance.

In der dritten Nacht besuchte sie ihn. Er hatte ihr Auto schon in großer Entfernung gehört, beide Petroleumlampen gelöscht und das Häuschen verlassen. Oberhalb der Mulde wuchs dichtes Strauchwerk, das ein sicheres Versteck bot, und in den fünf Minuten, die er dort regungslos hockte, gewöhnten sich seine Augen auch an die Dunkelheit. Vom Mond war nur eine schwache Sichel hinter dünnen Wolken zu erkennen. Das Auto rollte langsam herab, das Standlicht erlosch, dann klappte eine Tür.

Noch immer rührte er sich nicht. Vorsicht war die Mutter der Porzellankiste; er wollte erst sicher sein, dass sie allein gekommen war. Im Haus flackerte ein Streichholz, danach brannte eine Petroleumlampe, zuerst zu hoch, sofort heruntergedreht. Wenig später trat sie vor die Hütte, die Lampe so hoch haltend, dass er ihr Gesicht deutlich sah. Sie marschierte einmal um das Gebäude herum. Drinnen wurde das Licht noch schwächer. Angestrengt lauschte er, doch jetzt war die Nacht so still wie immer.

Leise stieg er hinunter und horchte vor der Tür noch einmal. Offenbar war sie wirklich allein gekommen. Er stieß die Tür auf und blieb stehen. Die Lampe warf nur einen schwachen Schein, gerade genug, um sie zu erkennen. Sie lag nackt auf seinem Bett, die Hand über ihren Schamhaaren bewegte sich gleichmäßig, als wolle sie sich selbst befriedigen. Dabei sah sie ihn an, wieder völlig ausdruckslos, als sei ihr Gesicht gelähmt, bis sie plötzlich die Beine spreizte und fast unhörbar murmelte: «Nun komm endlich!» Hinterher lag er erschöpft neben ihr und streichelte mechanisch ihren Körper, wie ausgepumpt, als sei ihm das Mark aus den Knochen gesogen worden. Wenn sie zum Orgasmus kam, hatte sie gefiept wie ein Tier, und das Geräusch hatte ihn gleichermaßen geängstigt und gereizt. Als sich sein Atem beruhigte, richtete sie sich auf. «Hilf mir tragen!», sagte sie kurz.

Die Nacht war kühl auf der nackten Haut, aber er brauchte die Abkühlung. Ihr schien es nichts auszumachen, und obwohl er sich dagegen wehrte, spürte er, dass er noch nicht genug von ihr hatte. Einmal griff er brutal zu, umklammerte ihren Busen, und sie lachte mit leisem Spott, folgte willig, als er sie auf die Motorhaube presste und beinahe vergewaltigte. Das Fiepen ernüchterte ihn wie ein Guss kalten Wassers.

«Gut bist du», flüsterte sie ihm ins Ohr. «Aber nun müssen wir einräumen.»

Sie zog sich vor seinen Augen an und verschwand mit einem flüchtigen «Bis bald». Er war froh, dass sie ging; den Kontrast zwischen ihrer aufregenden Figur mit den vollen, straffen Brüsten und ihrem unbeweglichen Gesicht hätte er nicht länger ertragen können.

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