Читать книгу Sammelband 4 Horst Bieber Krimis: Zeus an alle / Was bleibt ist das Verbrechen / Moosgrundmorde / Nachts sind alle Männer grau - Horst Bieber - Страница 35

17.

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Die nächsten Tage verhielt sich Holm still, saß seine Stunden in der Zentrale ab oder inspizierte die Beobachtungsposten und kontrollierte, ob Schultheiß seine Zusagen einhielt. Was der mit einer Konsequenz tat, hinter der Holm schon wieder Boshaftigkeit witterte. Lincke berichtete von den ersten, noch verhüllten Klagen der Reviere und Dezernate über sprunghaft gestiegene Arbeit. Sie langten aber auch kräftig zu, seitdem die Informationen nur so sprudelten. Als außergewöhnlich hilfreich erwies sich der Stimmenanalysator. Nicht immer erkannten sie die Männer an Alphas Hintertür - für den sie mittlerweile eine Art Hochachtung empfanden, der Kerl schien nie zu schlafen -, aber nach der Auswertung der Tonbänder, die jetzt bei Vernehmungen regelmäßig mitliefen, konnten sie immer mehr Verdächtige überführen.

Fast noch erfolgreicher arbeitete das Gerät, das Bilder digital abspeicherte und mit anderen Bildern verglich. Zum Schrecken der Schultheiß-Mannschaft konnte sich Holm an der Vorbereitung nicht sattsehen. Über das Gesicht auf dem Bildschirm schrieb die Elektronik eine Liste mit Anweisungen; ein Pfeil erschien, den der Bediener mit der «Maus» wandern ließ, vom Mittelpunkt des einen Auges zum anderen, vom rechten zum linken Mundwinkel, vom Kinnmittelpunkt zum linken Ohr, jeweils ein Druck auf einen Knopf an der Maus, eine Linie zwischen den beiden angeklickten Punkten erschien, bis das Gesicht von einem Spinnwebennetz überzogen war. Die Bedienung hatte Übung, es ging wie’s Brezelbacken; Holm wusste, dass er sich lächerlich machte, aber es amüsierte ihn jedes Mal neu. Noch immer versteiften sich die meisten Frauen, wenn er neben ihnen Platz nahm, und er tat nichts, die Abneigung abzubauen. Er lobte auch nicht, obwohl ihnen diese Technik, versteckt fotografierte Köpfe zu identifizieren und zu speichern, die größten Erfolge einbrachte.

Alle vier Objekte hatten feste Gewohnheiten, was die Überwachung erleichterte. Alpha zum Beispiel sorgte dafür, dass die heiße Ware noch in der folgenden Nacht abtransportiert wurde, und weil die Lieferwagen nie leer vorfuhren, sondern regelmäßig einige Kisten und Kartons brachten, vermuteten sie, dass Alpha Diebesgut aus anderen Städten verhökerte, so wie er seine Ware in anderen Orten verkaufen ließ. Ziemlich schnell bauten sie ein Netz von Verfolgern und Beobachtungsposten auf. Inzwischen zeichnete sich eine Art Organisation der Hehler ab.

Schultheiß war beeindruckt: «Das kannte ich bisher nur aus der Literatur. Sollen wir zugreifen?»

Holm entschied, sich noch zu gedulden, und verbrachte viel Zeit am Telefon, um die Kollegen in den anderen Städten zu überreden, mit dem Zulangen noch zu warten. Viele äußerten rechtliche Bedenken, die er wider besseres Wissen zerstreute.

Beta war dagegen ein Einzelgänger. Er bunkerte die Ware für eine längere Zeit und verkaufte sie dann in seinem Laden, nachdem er Herstellungszeichen oder auffällige Merkmale verändert hatte. Schon nach wenigen Tagen Observation waren sie sicher, dass er den mürrischen Kauz nur spielte. Bei Testkäufen hatte er wertvolle Kameras zu einem lächerlichen Breis hergegeben; für wertlose Bücher oder scheußliche Nippesfiguren verlangte er jedoch aberwitzige Summen. Wenn der Kunde sich zu Recht weigerte, konnte er grob werden und ihn hinausschmeißen. Am nächsten Tag hatte er dann ohne Begründung seine Meinung geändert und gab das Porzellanstück zu Pfennigbeträgen her. Auf seinen Ruf als unberechenbar schien er stolz zu sein, und bei der Mannschaft setzte sich der Verdacht fest, er wolle quasi vorbeugend verminderte Zurechnungsfähigkeit simulieren.

Mit Beta hatten sie insoweit Kummer, als viele Jugendliche dort Sachen verkauften, von denen sie nicht feststellen konnten, wer der rechtmäßige Eigentümer war. Ein schätzungsweise elf Jahre alter Junge, der dort einen Stapel alter Mickey-Maus-Hefte verscherbelte, war nicht zu verdächtigen. Aber bei einem auf fünfzehn Jahre geschätzten Knaben, der an einem Tag ein Kofferradio und am übernächsten Tag einen tragbaren Fernseher in Betas Geschäft brachte, konnte das schon ganz anders sein.

Zu dritt beratschlagten sie lange. Das Jugendamt war eine Behörde für sich, gesetzlich - kraft eigener Rechte - ohnehin und überdies vom Selbstverständnis her mit der Kripo auf Kriegsfuß. Manchmal hatten sie Fahnder hinterhergeschickt, um Namen und Anschriften festzustellen, aber in keinem Fall zugegriffen. Darüber sollte sich später die Staatsanwaltschaft den Kopf zerbrechen.

Gamma stellte sich als schwierigster Fall heraus, was vor allem daran lag, dass die Vorabauskünfte über ihn teils falsch, teils lückenhaft gewesen waren. Denn neben dem Second-Hand-Shop am Altmarkt, der ihm allein gehörte, war er offenkundig stiller Teilhaber mehrerer Läden, von denen Siebold nichts gewusst hatte. Das Altmarkt-Geschäft führte er scheinbar so tadellos wie in diesem Gewerbe überhaupt möglich. Auch hier hatten sie sich durch Testkäufe und Verkäufe ein Bild gemacht. Wenn der angebotene Gegenstand den Einkaufswert von geschätzt 200 Mark überschritt, verlangte Gamma Personalausweis, Pass oder Führerschein und stellte dann eine vergleichsweise ausführliche Quittung aus, in der nicht nur die Ware beschrieben, sondern auch der Name des Verkäufers samt Ausweisnummer vermerkt wurde. Wenn Kunden protestierten, erklärte er lautstark, er müsse sich gegen den Verdacht der Hehlerei schützen, und dieses Argument unterband die meisten Einwände. In den anderen Geschäften wurden An- und Verkauf nicht so pingelig gehandhabt; sie brauchten fast eine Woche, die Methode spitzzukriegen: Die Ware, die er korrekt am Altmarkt erworben hatte, schob er an die anderen Läden weiter, behielt aber die Quittungen zurück, die er für gestohlenes Gut verwendete: Eine Kamera, alt, gebraucht, mit Benutzerspuren, konnte dann eine Uralt-Box sein oder eine Leica, keine zwei Jahre alt, im Wert von mehreren hundert Mark.

«Ein billiger Trick», urteilte Holm enttäuscht, aber Schultheiß widersprach nachdenklich: «Ich weiß nicht. Er ist simpel, richtig, aber solange er nicht massiv unter Verdacht gerät, genau von jener Stupidität, die funktioniert.»

«Das heißt, Ihrer Meinung nach ...»

«Ja. Wenn er einmal auffliegt, wird er das System ändern.»

Alpha, Beta und Gamma beschäftigten eine Gruppe aus Männern und Frauen, die sich abends durch die Kneipen drückte. In der Zentrale bekamen sie den Namen «Vertreter», und ihre Aufgabe bestand darin, heikle Ware direkt an den Mann zu bringen.

«Mensch, ich bin gefeuert worden und muss jetzt meinen Videorecorder losschlagen.»

«Hör mal, die Ärsche haben mir viel zu viel Auslegware geliefert, hast du Interesse?»

«Was? Kacheln? Du, da hab ich was an der Hand, aus ’ner Konkursmasse.»

«Meine Alte ist mit meinem besten Freund durchgebrannt. Wenn das Miststück glaubt, ich würd ihr den Schmuck nachschicken, hat sie sich aber mächtig geschnitten.»

Einige Gespräche konnten sie auf Band aufnehmen; die «Säufer» an den Tresen trugen Armbanduhren mit empfindlichen Mikrofonen und erstaunlich starken Miniatursendern. Aber sie hatten einfach nicht genug Personal, sich auch systematisch um diese «Vertreter» zu kümmern, die ganz selten einmal gestohlenes Gut selbst anfassten, sondern fast ausschließlich als Vermittler auftraten. Interessant war das Verhalten der Hehler gegenüber den Rauschgiftsüchtigen, auf deren Konto tatsächlich fast 80 Prozent der Tageseinbrüche gingen - gewaltsame Brüche unter hohem Risiko und mit noch größerer Dreistigkeit. Mit ihnen wollte niemand was zu tun haben, sie mussten ihre Ware an Zwischenhändler losschlagen, die sie eiskalt ausnutzten - fünfzig Mark für einen fabrikneuen CD Spieler, hundert Mark für eine Faust voller Goldschmuck. Die Zwischenhändler bildeten eine Kaste für sich, gewalttätig und rücksichtslos, brutal und gefährlich. Einige wenige dealten Ware gegen Stoff, aber die meisten verkauften weiter an Typen wie Alpha oder Beta; Gamma wollte mit diesem Geschäft wohl nichts zu tun haben, jedenfalls registrierten sie nie einen dieser Abstauber am Altmarkt. Dagegen wickelte Gamma viele seiner Geschäfte mit «Großhändlern» ab. Wenn irgendwo im Umkreis von siebzig, achtzig Kilometern Ware en gros gestohlen worden war - Last- oder Lieferwagen oder Container -, annoncierte Gamma drei Tage später «Sonderangebote», meist am Altmarkt, seltener in seinen «Filialen».

Weil sie die Kollegen von der Sucht zur Identifizierung ihrer Tagtäter einschalten mussten, verfolgten sie als Gegenleistung einige Süchtige, sobald die ihre Ware losgeworden waren. Auf diese Weise fischten sie einige bislang unbekannte Kleinhändler auf; das Rauschgift-Dezernat heftete sich an die Fersen dieser Neulinge und kam so einem Großhändler auf die Spur. Das war alles interessant, zum Teil sogar neu - aber die große Organisation, die wirkliche Organisation, geriet ihnen nicht ins Blickfeld. Wenn es sie überhaupt gab.

Erst sehr viel später konnten sie beweisen, was aus anderen Städten längst bekannt war: Einige Süchtige brachen auf Bestellung ein. Die «Auftraggeber» hielten sich sehr bedeckt, konnten überhaupt erst überfuhrt werden, nachdem ihr Telefon abgehört wurde. Gegen den erklärten Willen Schultheiß’ und gegen Linckes Bedenken hatte Holm darauf bestanden, in diesen Fällen formelle Ermittlungsverfahren einzuleiten, um legal die Telefone abzuhören.

Die «Auftraggeber» hatten wiederum «Besteller», die sich ihre Anordnung noch von höherer Stelle holten, es war nach dem Pyramidenprinzip organisiert. Ihr viertes Objekt, Delta, gehörte entweder zur Spitze der Pyramide oder zur Ebene direkt darunter. Allmählich wurde sichtbar, dass zwei Systeme nebeneinander existierten: Der Einbrecher hatte zuerst die Beute und suchte dann den Hehler; die Organisation erforschte zuerst den Marktbedarf und bestellte dann die Ware. So beteiligte sich Delta am bestellten Klau von Luxusautos. Zweimal «übernachtete» in seiner leeren Garage eine Nobelkarosse. Am nächsten Morgen brachte ein «Fahrer» den Schlitten zu einer Werkstatt: kleine fachkundige Veränderungen am Äußeren, natürlich gefälschte Kennzeichen und, wie sie herausfanden, als sie in zweihundert Kilometer Entfernung auf der Autobahn zugriffen, hervorragend gefälschte Wagenpapiere.

Schultheiß ärgerte sich, dass seine Computer trotz aller Bemühungen nicht mehr hergaben. «Kleinvieh macht auch Mist», tröstete Lincke, und selbst Holm wusste in diesem Moment nicht, ob es ernst oder ironisch gemeint war.

Die «Tagesschau» wurde von Tag zu Tag lohnender. Noch immer trafen sich abends an die fünfzig Männer und Frauen aus den Revieren und Dezernaten, und diese Konzentration von Erfahrung und Wissen zahlte sich von Tag zu Tag mehr aus.

Schultheiß moderierte so flott wie beim ersten Mal: «Nummer 42, erster Auftritt. Wir vermuten, dass er in der Mappe Goldmünzen hat, die vor zwei Tagen in der Schauenburgerstraße gestohlen wurden.»

Das Bild auf der Leinwand zeigte einen Mann zwischen vierzig und fünfzig, eine Mappe unter dem Arm. Ein alter Hauptmeister brummte: «Ich werd verrückt. Pietsch, Dieter Pietsch.»

«Sichere Identifizierung?»

«Ganz sicher. Zweimal gesessen, schwerer Diebstahl.»

«Wo wohnt er?»

«Die genaue Anschrift weiß ich nicht. Draußen am Salztor, seine Alte betreibt einen Schnellimbiss, direkt neben dem Kino.»

Eine andere Männerstimme: «Das <Salzfass>?»

«Richtig, so heißt das Ding.»

«Das ist ein Ausländertreff, und wir vermuten, dass dort Ausweise gehandelt werden.»

«Danke, notiert.» Saalmikrofone nahmen jedes Wort auf, noch in der Nacht wurden die Aussagen in das System eingegeben. Nummer 125, ein kleiner, schmächtiger Typ mit grauen Haaren, erschien regelmäßig bei Beta. «58 Jahre alt, seit acht Jahren arbeitslos, keine erkennbaren Einkünfte.»

«Halt, halt. Der hat früher die Ablenkungsmasche gestrickt.»

«Was ist das?»

«Mit mehreren Komplizen oder Komplizinnen geht er in ein Warenhaus, inszeniert einen Schwächeanfall oder eine Herzattacke, mit viel Lärm und Geschrei, und während das Personal sich um ihn kümmert, sahnen die anderen ab.»

«Gut, wir werden seine Wohnung überwachen und mal seine Besucher und Besucherinnen unter die Lupe nehmen.»

Nummer 96: Anlaufstelle für Taschendiebe, die das Geld behielten und ihm Ausweise und Scheckkarten gegen Bezahlung ablieferten. Über Landes- und Bundeskriminalamt und mit Hilfe der Kreditkartenfirmen stellten sie fest, dass die Karten sofort aus der Stadt gebracht wurden, um in anderen Städten für Einkäufe - ganz selten einmal zur Bargeldbeschaffung - benutzt zu werden, ein, höchstens zwei Tage lang, danach tauchten sie nie wieder auf.

Oder eine blutjunge Kollegin von der Sitte regte sich auf: «Stopp, den kenne ich.»

«Woher?»

«Wir haben an der Baulandstraße einen nicht angemeldeten Club ausgehoben. Der Typ hat so getan, als wäre er Kunde, aber zwei Mädchen haben zu ihm hingeschielt, als wäre er ihr Zuhälter.» «Namen und Anschriften der Frauen liegen vor?»

«Ja.»

«Gut!» Holm rief zu der jungen Frau hinüber: «Erledigen Sie das bitte. Namen und Anschrift des Mannes, machen Sie ihnen Hoffnung für den Fall, dass sie kooperieren.»

Oft kamen auch ganz andere Querverbindungen zutage. Schultheiß erwähnte, dass ein Mann von Alpha aus zu einer bestimmten Adresse, Nelken weg 12, gefahren war. Darauf unterbrach ein alter Revierbeamter: «Moment, das ist aber komisch. Dort haben wir vor fünf oder sechs Monaten zwei Schläger verhaftet, die sich dort versteckt hatten. Der Hausbesitzer war angeblich verreist, jedenfalls haben wir ihm nichts nachweisen können.»

«Na wunderbar. Wer prüft das morgen nach?»

Manchmal brandete Gelächter auf: «Nein, das ist doch Ludwig, der greise Ludwig. Ist der wieder aktiv?»

«Wer ist Ludwig?»

Ludwig, mit dem ewigen Jagdschein der verminderten Zurechnungsfähigkeit beglückt, wandelte auf dem schmalen Grad von Harmlosigkeit und Einweisung in eine Anstalt. Ludwig «fand» regelmäßig etwas, Geld, Wertsachen, Brillen, Schlüssel, was wohl nicht immer gelogen war. Denn er schlurfte stets mit gesenktem Kopf, seine wässrigen Äuglein fuhren hin und her, und Ludwig klaubte auf: Pfennige, alte Fahrscheine, Groschen, Zahnprothesen. «Ihr wisst ja gar nicht, was die Leute alles verlieren», krähte er im Revier, beleidigt, dass ihm so etwas Hässliches wie Diebstahl zugetraut wurde. Wenn man ihm zusetzte, wurde er kindisch: «Der Herr sorgt für die Seinen. Seht, ich bin wie das Vöglein im Winde, ich säe nicht, ich ernte nicht, und der Herr sorgt doch für mich. Wollt ihr einen Vogel des Herrn einsperren?» Meistens ließ man ihn laufen.

Dicke Fische gingen ihnen ins Netz. Sie hatten von Gamma aus eine Frau zu einem Reihenhaus verfolgt, und als sie am nächsten Morgen dort unter einem Vorwand klingelten, um den Namen der Frau herauszufinden, wollte der Mann, der die Tür aufmachte, sofort eine Pistole ziehen. Glücklicherweise verhakte sich die Waffe an der Hosentasche, der Mann wurde festgenommen, gab einen falschen Namen an; die Fingerabdrücke überführten ihn: ein aus dem Gefängnis ausgebrochener Lebenslänglicher.

Sie entdeckten ganze Lager von Diebesgut. Einen gestohlenen Lastwagen, der noch ausgepackt wurde. Ringe von Taschen und Trickdieben und von «Reisenden», auf die Bundesbahn spezialisierten Dieben. Es war erstaunlich, was durch systematische Beobachtung und Verfolgung aufgeklärt werden konnte. Das heißt, so erstaunlich war es wiederum gar nicht, sie alle kannten die Erfolgsgründe - die zusätzlichen einhundertzwanzig Kollegen und Kolleginnen, die teure Elektronik, die sie mal für ein paar Wochen einsetzen durften, die teils angeordnete, teils freiwillig geleistete Mehrarbeit ihrer eigenen Leute. Auf Holms Anweisung hin führte Schultheiß eine Liste der Überstunden, und die wuchs beängstigend. Die Götter mochten wissen, wann und wie diese Zeiten je abgefeiert werden konnten.

Den größten Kummer hatten sie anfangs mit Delta. Der vielleicht vierzigjährige Mann benahm sich völlig unauffällig, verließ morgens gegen neun Uhr sein Haus und fuhr in sein Büro in der Innenstadt: Ortex Pressebüro. Zwei weibliche Angestellte arbeiteten dort fest, gegen Mittag erschienen junge Leute, die sie als Studenten identifizierten, und schnitten Zeitungen, Zeitschriften und andere Druckwerke aus; die Ausschnitte wurden kopiert und zu Dossiers geordnet, die an Firmen verschickt wurden. Das Ganze sah recht friedlich und ein wenig ärmlich aus: «Pressebüro» war ein hochtrabender Begriff für einen simplen Ausschnittdienst. Nach 17 Uhr brachte Delta Briefe und Pakete zur Hauptpost, aß dann irgendwo zu Abend und kehrte gegen 20 Uhr in sein Haus zurück.

Erst danach wurde er für seine Beobachter interessant, wegen seiner Besucher. Sie kamen immer allein, immer in Autos, die sofort in die rechte, leer stehende Garage fuhren. Gleich danach senkte sich, offenbar ferngesteuert, das Tor; was dahinter geschah, konnten sie nur vermuten. Natürlich filmten sie die ankommenden Autos und deren Kennzeichen. Es handelte sich ungewöhnlich oft um Leihwagen; die Unternehmen spielten zwar mit und gaben die Personalien heraus, aber der Zeitpunkt war abzusehen, an dem sie sich sperren und kritisch fragen würden, was die Kripo eigentlich trieb.

Ende der ersten Woche besprach Holm das Problem mit Schultheiß: «Ich will keine Wanze in die Garage setzen, aber ich muss herauskriegen, was in dem Haus verhandelt wird.»

«Hm.» Schultheiß knurrte. «Ich werd mein Bestes tun.»

Am nächsten Tag saßen sie schon um sechs Uhr auf dem Dachboden und verfolgten Deltas Morgen. Zum Glück war er ledig und ein guter Hausmann, er lüftete gründlich, bevor er ging, und Schultheiß bekam bessere Laune: «Sein Wohnzimmer liegt nach hinten hinaus. Aber dieser Raum zur Straße - das könnte ein Arbeitszimmer sein. Abends zieht er Gardinen vor?»

«Immer», bestätigte der jüngere Wachtmeister der Tagesschicht. «Nur Gardinen? Oder auch Rollos, Jalousien?»

«Nein, bis jetzt nur dunkle Gardinen.»

«Das könnte ... na dann.» Damit verschwand er über den Garten. Schon am Mittag hielt ein Kleinlieferwagen eines Möbelhauses vor dem Delta-Posten, und zur Verwunderung des Ehepaares wurde eine große Kiste angeliefert. Einer der Träger war Schultheiß im Blaumann. Er zwinkerte vergnügt und holte eine Menge elektronisches Material hervor, das er installierte. Holm kam nach Einbruch der Dunkelheit über den Garten wieder in das Haus und staunte: «Was ist denn das?»

«Offiziell gibt’s das gar nicht.»

«Wie bitte?»

«Das ist ein Abhörgerät, eine Art Fernmikrofon.»

«Und wie funktioniert das?»

«Versprechen Sie mir, es gleich wieder zu vergessen? - Das ist ein Mikrowellensender, der einen eng gebündelten Strahl drüben auf die Fensterscheibe richtet. Wenn in dem Zimmer gesprochen wird, setzt der Schall die Fensterscheiben in fast unmerkliche Schwingungen, und dadurch wird der Strahl in unterschiedlicher Stärke reflektiert, die Reflexion nehmen wir auf und transformieren sie in eine hörbare Frequenz.» Schultheiß lachte über Holms ungläubiges Gesicht und murmelte: «Bei Doppelscheiben sind wir gelackmeiert.»

«Und woher haben Sie dieses wundersame Gerät?»

«Ich sagte doch - offiziell gibt’s das gar nicht.»

«Aha! Entschuldigen Sie bitte die dumme Frage.»

Eine halbe Stunde später konnten sie das Gerät ausprobieren. Ein Auto fuhr vor, die Filmkamera begann zu surren. Dank der Laterne, die acht Meter neben Deltas Auffahrt stand, brauchten sie nur einen empfindlichen Film. Einer der Beamten telefonierte sofort das Kennzeichen an die Zentrale durch.

Minuten später gab die Anlage erste Geräusche von sich, Schultheiß drehte konzentriert an mehreren Knöpfen und grunzte befriedigt, als sich aus dem Rauschbrei eine verständliche Stimme erhob. «Fein, dann lass mal sehen.» Die Kassette im Aufnahmegerät quietschte beharrlich. «Du meine Güte, das sind keine Smaragde, das sind Olivine.»

«Olivine? Was soll denn das sein?»

«Touristenschmuck, zum Beispiel von den Kanarischen Inseln.»

«Glaub ich nicht.»

«Musst du ja auch nicht. Kannst dir ja einen anderen Abnehmer suchen, wenn du mir nicht traust.» Schweigen, bis der zweite Mann kleinlaut fragte: «Was bietest du dafür?»

«Alles zusammen zweitausend. Einschließlich der Goldketten.»

«Was? Nur zwei? Das kann doch nicht wahr sein.»

«Wenn’s Smaragde wären, würde ich dir das Zehnfache bieten.»

«Grüne Steine sind doch Smaragde, von deinem ... deinem» «Olivin.»

«... deinem Olivin habe ich noch nie gehört.»

«Dann informier dich! Zeig’s meinetwegen einem Juwelier, das Zeugs lässt sich nicht identifizieren. Und wenn du mir glaubst, kannst du ja wiederkommen.»

«Mensch, ich brauch doch ... sagen wir drei. Allein wegen der Ketten, die bringen’s doch schon.»

«Zweifünf, mein letztes Angebot.»

Nach langer Pause willigte der Dieb sehr kläglich ein: «Meinetwegen. Aber in kleinen Scheinen.»

Es wurde noch ein betriebsamer Abend bei Delta. Kaum hatte der Olivin-Dieb das Haus verlassen, fuhr ein riesiger Schlitten vor; der Fahrer hatte Last, in die Garage zu rangieren. Das Tor hielt einmal an, bewegte sich nach oben, das Auto zog noch ein Stück vor, bis das Tor sich ganz herabsenken konnte.

Dem neuen Besucher gegenüber verhielt sich Delta merklich höflicher, der Neue schlug auch einen ganz anderen Ton an, selbstbewusst, fast scharf, jedenfalls war er nicht in der Rolle eines Bittstellers: «Hast du dich umgehört?»

«Ja, tut mir leid, ich muss passen. Diese Summen kann ich nicht unter die Leute bringen.»

«Nein? Und warum nicht?»

«Weil’s nicht mit meiner Tarnung übereinstimmt. Ich habe ein kleines Unternehmen, zwei Angestellte, sechs oder sieben Aushilfen, eine Million Dollar würde auffallen.»

«Und wenn wir dir den Dollar für 22 Pfennig geben?»

«Es ist keine Frage des Preises, Mattuk, ich kann’s einfach nicht. Wenn wir wenigstens eine amerikanische Garnison in der Nähe hätten - aber wie soll ich mit meinem Geschäft den Besitz von Dollars begründen? Und dann noch Hunderter? Ohne erkennbare Geschäftsbeziehungen in die Vereinigten Staaten oder zu Amerikanern?»

Die Argumente gaben dem Besucher zu denken; zwei Minuten herrschte Ruhe, bis der Energische sich durchrang: «Okay, akzeptiert.»

Schultheiß schaute glatt durch Holm hindurch. Seine Backenmuskeln spielten, und der sonst so höfliche Mann wirkte plötzlich gefährlich. Doch als er Holms forschendem Blick begegnete, drehte er sich abrupt weg. Dass der Sunnyboy aus dem Landeskriminalamt noch auf vielen Hochzeiten tanzte, war Holm klar, und deswegen verkniff er sich die Bemerkung, dass für Falschgeld das Bundeskriminalamt zuständig war. Sollte sich Schultheiß die Finger verbrennen! Er würde seine SoKo heraushalten. Die beiden Wachtmeister ahnten etwas, sie hatten vorsichtshalber die glatten, leeren Gesichter der Dienstbeflissenen aufgesetzt, die nur leider wieder einmal nichts verstanden hatten.

Vierzehn Tage später wurde bei der «Tagesschau» eine junge Frau gezeigt, die wohl ihren Wagen in die rechte Garage gefahren hatte, dann aber ins Freie trat und die Außentreppe zur Haustür hinauf benutzte, sodass die Kamera sie von vorn und im Profil aufnahm. Erst als sich die Haustür öffnete, klappte das Garagentor nach unten.

«Stopp!», rief eine Beamtin. «Ist sie über Nacht geblieben?» Schultheiß blätterte in den Protokollen. «Ja, bis sechs Uhr.»

«Sie heißt Christine Ermisch, arbeitslose Verkäuferin. Wir vermuten, dass sie als Callgirl arbeitet.»

«Haben Sie eine Anschrift?»

«Ja, in den Dezernatsakten.»

«Vorerst nicht behelligen», mischte sich Holm ein. «Mal sehen, ob wir sie für unsere Zwecke einspannen können.»

Gleich am nächsten Tag zogen sie noch einen Volltreffer. Delta 2 hatte eine junge Studentin aufgenommen, die gegen 13 Uhr heulend aus dem Ortex Pressebüro gestürzt war; Obermeisterin Helga Schmitz war kurz entschlossen ausgestiegen und hatte sich an die Verfolgung der jungen Frau gemacht.

Ihren Bericht las Holm erst tags darauf. Die Studentin war okay, gelernte Goldschmiedin, Abitur auf dem zweiten Bildungsweg, nun Studium der Sozialpädagogik - Holm seufzte; konnten sich diese Kinder nicht etwas anderes aussuchen als diese stracks zur Arbeitslosigkeit führenden Ausbildungen? - und finanziell klamm. Vermutlich hinterzog sie, juristisch gesehen, Steuern und betrog beim BAföG, aber das interessierte die Zentrale nicht. Sie war auch nicht wegen Delta heulend aus dem Ortex Büro gestürzt - oder nur indirekt. Sondern wegen eines Mannes, der mit dem Ortex Eigentümer befreundet war. Von ihm wusste sie leider nur den Vornamen, Lutz. Der hatte sie zweimal abends groß ausgeführt, beim dritten Mal kürzten sie das Essen im gegenseitigen Einverständnis ab und landeten in seiner Wohnung im Bett. Achterlohstraße; die genaue Nummer hatte sich das Herzchen nicht gemerkt. Am vierten Abend, nach reichlich Champagner und einem überwältigenden Gastgeschenk, einem goldenen Armband, dessen Wert gerade sie ja gut abschätzen konnte, kam Lutz zur Sache: Ob sie nicht als Animierdame arbeiten wolle. Er besitze einen renommierten Nachtclub namens «Rendezvous» und suche immer nach hübschen, intelligenten Mädchen, die natürlich sexy und nicht prüde sein müssten. Und eine Ahnung davon hätten, wie schwer es heutzutage sei, ordentlich und anständig Geld zu verdienen.

Entsetzt hatte sie abgelehnt und war aus seiner Wohnung geflohen, nicht nur wegen seines Ansinnen, sondern wegen der explosionsartigen Gewalt, mit der Lutz daraufhin über sie hergefallen war.

Die Obermeisterin hatte sich entschieden, die Rolle der zufälligen Freundin beizubehalten. «Deshalb konnte ich nicht gezielt fragen, was <Lutz> mit ihr angestellt hat. Es steht aber außer Zweifel, dass er sie mit äußerster Brutalität vergewaltigt und dabei zu sexuellen Perversionen gezwungen hatte, die sie mir aus Scham nicht schildern wollte.» Einen Augenblick saß Holm ganz still und versuchte den Gedanken festzuhalten, der ihm durch den Kopf schoss.

Der Obermeisterin gelang es, in die Wohnung mitgenommen zu werden. Nach langem Hin und Her und Zureden hatte dann die Studentin den Pullover über den Kopf gezogen: Blutergüsse, blaue Flecken und zwei scheußlich entzündete Brandmale, wie von brennenden Zigaretten, direkt unter den Brustwarzen. Gegen den Rat, diesen Lutz anzuzeigen, hatte sie sich aber mit Händen und Füßen gesträubt, einmal wegen ihres Freundes, dem sie dann alles beichten müsse, und zum anderen, weil sie Lutz und den blonden Mann fürchte, der immer in Lutz’ Begleitung sei. Lutz habe dann Delta angerufen; Delta stellte sie zur Rede - was ihr einfiele, mit seinen Freunden und Kunden der Ortex anzubandeln - und feuerte sie Knall auf Fall. «An dieser Stelle musste ich abbrechen, weil sie misstrauisch wurde.»

Unauffällig machte sich Holm eine Kopie des Berichts und gab ihn kommentarlos zur Erfassung.

Über Mittag trieb er sich im vierten Stock herum, bis Hauptkommissar Anders sein Zimmer verließ und seinen Bauch Richtung Kantine wälzte. Eine Minute gab er zu, dann klopfte er an die Tür neben Anders’ Zimmer.

Wilma Knudsen lachte von einem Ohr bis zum anderen, es war ansteckend, Holm spürte, wie es auch ihm die Mundwinkel verzog. «Der Herr Kriminalrat wollen fremdgehen?» Sie hatte eine sehr helle Stimme, und er wusste, dass sie früher einmal - was sie vergeblich geheim halten wollte - Gesangsunterricht genommen hatte, bis die Einsicht über den Ehrgeiz siegte.

«Ist es so offenkundig, dass ich Hintergedanken habe?»

«Lieber Herr Rat, Sie stehen in dem Ruf, die Kleiderordnung und den Dienstweg hoch zu achten. Was also führt Sie zu mir?»

«Die Hoffnung, dass unser Gespräch in diesen vier Wänden bleibt.» Sie konnte mit dem Gesicht lachen und mit den Augen ernst bleiben: «Hat es was mit der Sitte zu tun?»

«Ja. Es geht um das <Rendezvous>. Wer ist ein gewisser Lutz?»

«Lutz Golonka. Geschäftsführer und Mitinhaber des <Rendezvous>.»

«Kennen Sie die anderen Inhaber?»

«Einen Moment bitte!» Sie sprang auf und sauste an einen Rollschrank. Unter dem hellen Kleid zeichnete sich ihre Figur deutlich ab, und Holm fand, dass sie zu mager war. Eilig blätterte sie in einem dünnen Ordner: «Als Eigentümer des Grundstücks und des Gebäudes ist ein gewisser Otto Schubrick eingetragen. Ob Schubrick den Bau vermietet hat oder am Bordellbetrieb beteiligt ist, können wir nicht sagen.»

Weil sie den Ordner zuklappte und zurückstellte, hatte er Zeit, sich zu fangen und seine Überraschung zu verbergen: «Wie komme ich an Golonka heran?»

«Oje.» Sie zog zischend die Luft ein. «Das <Rendezvous> liegt nicht mehr auf Stadtgebiet, da sind wir nicht mehr zuständig.»

«Schön. Aber seine Nutten kommen mit Sicherheit aus der Stadt. Ich brauche eine, die ich etwas unter Druck setzen kann.»

«Das wird schwerfallen. Er führt seinen Laden im Rahmen der Gesetze. Die Frauen sind registriert und gehen regelmäßig zur Untersuchung. Übrigens auch zu Aids-Tests. Golonka zahlt sogar ehrlich Steuern, soweit ein Puff überhaupt Buchführung machen kann. Wir haben nie gehört, dass dort Erpressung oder Nötigung im Spiel ist, weder bei den Gästen noch bei den Nutten. Keine Gewalttätigkeit, kein Nepp, kein Kobern. Nebenbei duldet Golonka keine Zuhälter.»

Sie brachte es so rasch und zielstrebig vor, dass er vermutete, sie selbst habe sich schon für das «Rendezvous» interessiert. Aber Anders, ihr Chef, war ein übervorsichtiger Mann, der keine Risiken tragen wollte, erst recht nicht die von Mitarbeitern. Deswegen zwinkerte er ihr deftig zu, sie zögerte, holte dann aus ihrer Schreibtischschublade eine schwarze Kladde mit Eselsohren hervor, in der sie zielstrebig blätterte: «Anja Bauer, Steigerwaldstraße 44. Sie nennt sich Nicole.»

«Danke.» Vorsichtshalber notierte er sich die Angaben. «Und wie setze ich sie unter Druck?»

«Sie hat zweimal ziemlich Pech gehabt und ist an böse Zuhälter geraten. Nach der zweiten Abreibung hat sie sich ins <Rendezvous> geflüchtet.» Einen Moment krauste sie die Nase. «Es hat sogar mal das Gerücht gegeben, sie sei mit Golonka enger liiert.»

«Haben Sie gegen Golonka etwas in der Hand?»

«Nein. Nein, leider nicht.»

«Danke, Frau Kollegin. Wie stelle ich es an, ein ganz bestimmtes Callgirl zu mir in die Wohnung zu bestellen?»

«Aber Herr Rat!» Sie wurde tatsächlich rot, was ihn einen Moment ärgerte: «Ich zahle sogar.»

«Das müssen Sie auch!», rutschte ihr heraus. «Mündlich geschlossener Werkvertrag.» Erst danach ging ihr auf, was sie gesagt hatte, das Rot auf ihrem Gesicht wurde lebensgefährlich.

«Spaß beiseite!», brummte er, noch immer verstimmt. «Christine Ermisch, arbeitslose Verkäuferin.»

«Da muss ich nachschauen.» Wieder schoss sie hoch, eilte an einen stählernen Karteischrank und durchforstete die Karten. Hübsche Beine hatte sie und abenteuerlich hohe Absätze, auf denen sie sich völlig sicher bewegte. Holm ahnte, warum sie in der Sitte als außerordentlich tüchtige Ermittlerin galt, die mit den Prostituierten Klartext reden konnte.

Sie kam mit einer Hängemappe zurück. «Ermisch, Christine. Hm, Herr Rat, ich fürchte, da werden Sie Pech haben. Soviel wir wissen, nimmt sie nicht jeden Kunden, Sie müssen ihr erst von einem anderen Kunden empfohlen werden.»

«Was? Brauche ich etwa Bürgen?»

Das Lächeln erreichte ihre Augen nicht: «Das scheint eine neue Masche zu werden. Geschlossener Kundenkreis.»

«Angst vor Aids?»

«Möglich. Aber wir sind in solche Zirkel noch nicht hineingekommen. Sehr abgeschottete Gesellschaften. Die Ermisch können Sie übrigens ruhig auf einen Empfang beim Bürgermeister mitnehmen, die wird Sie nicht blamieren.»

«Sie inseriert nicht als Hostess oder Begleiterin?»

«Nein, das hat sie nicht nötig.»Jetzt war sie zerstreut. «Da ist noch etwas. Wie alle Callgirls geht sie in Männerwohnungen. Mit anderen Kunden scheint sie sich aber in angemieteten Wohnungen zu treffen, die nur für diesen Zweck benutzt werden.»

«Nur dafür?», griente er, doch sie wollte seine Erheiterung nicht erwidern: «Wenn es nur so wäre! Eine Wohnung, die meist leer steht, für die aber viele Männer und einige Frauen Schlüssel haben, eignet sich gut als Bunker oder Übergabeort.»

«Sie vermuten doch etwas! Raus mit der Sprache!»

«Koks. Einige - hm - Stammkunden dieser Damen sind so prominent, dass sie es sich kaum leisten können, bei einem normalen Dealer zu kaufen. Aber vielleicht wollen sie ja auch einmal harmlos schnupfen.»

Ihr Zögern verstand er sehr gut. Kein Handel, sondern freundschaftliche Geschenke. Untadelige Prominenz. Unauffällige Frauen, korrekt gemietete Wohnungen, nein, das ergab blitzschnell eine Grauzone, in der ein eifriger Polizist von der Sitte oder vom Rauschgiftdezernat leicht stolpern konnte.

«Haben Sie Anschriften solcher - na - Treffpunkte?»

«Hagenaustraße 33. Richardstraße 117. Birkenhalde 1.» Es kam wie aus der Pistole geschossen, er schrieb hastig und knurrte: «Der Oberbürgermeister lädt mich selten ein. Vielen Dank, und wir haben uns lange nicht gesehen.»

«So ist es, Herr Rat.»

In der Zentrale saß er stumm an seinem Schreibtisch. Es gab also eine Verbindung Mischa - Benno Eiche - Otto Schubrick - Lutz Golonka - Delta. Zugegeben, eine lockere, vielleicht zufällige Verbindung, unter Umständen hatte sie nichts zu bedeuten, aber das musste er eben untersuchen ... Hier wurde er nicht wirklich benötigt. Alle Terminals waren besetzt, und gedankenverloren starrte er die Frauen an, die unermüdlich fleißig Berichte, Meldungen und Hinweise eingaben. Für ihn sahen sie alle gleich aus, und er war sich sicher, dass er auf der Straße keine von ihnen wiedererkennen würde. Zumal sie sich alle gleich benahmen, höflich, kurz angebunden, effizient, die ideale Verlängerung der Maschinen in den Menschen. Dass sie alle mit höchster Konzentration eine anstrengende Arbeit verrichteten, war ihm klar, und desto mehr verbiesterte ihn, dass sie nie müde zu werden schienen und nie - wie er - über die Kabelbündel stolperten, die von Tag zu Tag zahlreicher und dicker wurden. An der Wand war ein Metallgestell errichtet worden, auf dem zwölf Tonbänder schräg eingehängt waren; sie liefen an und stoppten so unregelmäßig wie die Gewinnscheiben von Spielautomaten. Es war so ziemlich die einzige Ablenkung. Zwei junge Männer huschten durch den Saal, wechselten Bänder, Videokassetten oder Disketten aus, alles leise, leise, nur die hübschen Damen nicht stören. Die meisten trugen Kopfhörer und bedienten mit den Füßen den Ein-/Aus-Schalter der Bandgeräte. Holm langweilte sich nicht zum ersten Mal und kam wieder darauf zurück, was wohl passieren würde, wenn er einer der so in die Arbeit versunkenen Damen die Schuhe klauen würde. Über das abgrundtief verächtliche Lächeln war er in seiner Fantasie noch nicht hinausgekommen.

Alle fünfundfünfzig Minuten erwachte das Marionettentheater zum Leben: Dann rollte der Kaffeenachschub an, einige Tastenmäuse verschwanden Richtung Toilette; es war eine so ungewohnt menschliche Regung, dass Holm immer wieder verwundert den Kopf schüttelte. Noch während der Kaffeelieferung schnarrten die Drucker los, fünf Stück, die einen - gemessen an der sonstigen Stille - höllischen Lärm verursachten, trotz der Lärmschutzhauben. Schultheiß hatte sich entschuldigt und allen Ernstes beklagt, dass «man» seinen Antrag auf Laserdrucker abgelehnt habe, sodass er den konzentrationshinderlichen Radau auf fünf Minuten je Stunde konzentriert hatte. Sonst war «man» aber sehr spendabel, was neue Maschinen und Geräte betraf, und die Schnelligkeit, mit der Schultheiß sie herbeischaffen konnte, war nicht nur Holm aufgefallen. Lincke hatte die «PDK-Pause» ausdrücklich gelobt.

«Die bitte was?»

«Die Pinkel-Drucker-Kaffee-Pause, Herr Schultheiß.»

Mit dieser Bemerkung verscherzte er sich bei dem erstaunlich humorlosen Schultheiß einiges Ansehen. Das Gebirge von Ausdrucken wurde abends, kurz vor der «Tagesschau», zerlegt und auf große Stöße sortiert, die wiederum im Handumdrehen gelocht und in Ordnern verstaut waren.

Holm hatte lange gebraucht, den Grund seines Unbehagens festzustellen: Es war diese fünfundfünfzigminütige unnatürliche Stille. Niemand lachte, kicherte, sprach oder quatschte. Dann fünf Minuten menschlicher Lärm, und wieder: Ende, Ruhe, verbissener Ernst. Zwei Tische weiter saß Lincke, und Holm bewunderte ihn von Tag zu Tag mehr: Immer in Uniform, allenfalls die beiden oberen Jackenknöpfe einmal offen, blütenweiße Hemden, die Krawatte in tadellosem Knoten im Kragen. Was immer geschah, er blieb ruhig und behielt die Übersicht, ließ sich nicht drängen, bedachte kurz seine Entscheidungen, die er nie abzuändern brauchte. Er war auch der Einzige, der gelegentlich aufstand und zu der großen Funkanlage ging, sich mit einem Kollegen oder einer Kollegin verbinden ließ, lobte oder sachlich tadelte. Die Funker trugen Kopfhörer und benutzten Kehlkopf-Mikrofone; wenn sie lautlos sprachen, erinnerten sie an Fische im Aquarium. Einzig Linckes Stimme unterbrach die geheiligte Stille: «Wachtmeisterin Busch? Gute Arbeit!» - «Hauptmeister Weber? Ich wünsche in Zukunft mehr Sorgfalt.» Lincke achtete auch ohne jedes kumpelhafte Zwinkern darauf, dass die Hierarchie gewahrt blieb. Wenn etwas Wichtiges zu entscheiden war und Holm sich im Saal aufhielt, kam er zu ihm an den Tisch; sie waren sich zwar immer einig, aber Lincke überließ ihm das letzte Wort. Holms Hauptaufgabe war die Abstimmung mit den anderen Ressorts geworden. Ein als Penner verkleideter Zivilfahnder hatte in einer Kneipe aufgeschnappt, dass ein «dickes Ding» im Kaufhaus Dettling geplant sei. Das konnte ein Einbruch sein - Schultheiß stand schon mit glänzenden Augen sprungbereit -, das konnte aber auch eine Brandstiftung sein; eine autonome Gruppe hatte solche Aktionen auf Flugblättern «gegen die Tempel des Ausbeutungskommerzes» angekündigt. Der Schutz des Kaufhauses hatte Vorrang vor der Festnahme von Einbrechern; Schultheiß stelzte steif von dannen. Die Verkehrspolizei wollte eine Alkoholkontrolle durchführen - Holm musste dafür sorgen, dass die Zufahrtsstraßen zu ihren Objekten frei blieben. Am Bahnhof war ein Container mit Pelzen verschwunden - die Bahnpolizei musste in die laufende Aktion einbezogen werden. Im Gegenzug entlockte Holm den Bahner-Kollegen die Schwulen- und Pennerkartei der Männer und Frauen, die «Bahnhofsverbot» hatten. Das Betrugsdezernat hatte eine Druckerei gefilzt und die schon abgepackten Handzettel «Sonderposten Kofferradios» wohl registriert, aber keine Meldung erstattet, obwohl sie durch Delta wusste, dass «taiwanesische Quäker» wie sauer Bier feilgeboten wurden. Also galt es, mit der nötigen Diplomatie die Kollegen zu stärkerer Kooperation zu ermuntern. Der Laden lief auch ohne ihn. Er stand auf, nickte Lincke zu und wandte sich an einen der Funker: «Geben Sie mir bitte Obermeisterin Schmitz, Helga, wenn sie im Dienst ist.»

Nach dreißig Sekunden meldete sie sich: «Frau Schmitz? Zeus hier. Wo sind Sie jetzt? - Gut, warten Sie bitte auf mich im Café Rech.» Er setzte sich neben eine der jungen Frauen und registrierte die nun schon übliche Verkrampfung: «Versehen Sie bitte den Namen Ermisch, Christine, mit Sperrvermerk. Alle weiteren Kontakte nur mit meiner Zustimmung.»

«In Ordnung, Herr Rat.» Ihre Finger tanzten schon.

«Gleicher Sperrvermerk auch an alle Personen, die im Bericht Nummer – Moment», er kramte die zerknitterte Kopie aus der Jackentasche und erhaschte noch einen halb verächtlichen, halb mitleidigen Blick «Delta 214HS 16 aufgeführt sind.» Weil sie gemerkt hatte, dass ihm ihr unwillkürlicher Kommentar nicht entgangen war, blieb sie jetzt stocksteif stumm, und das wiederum vergrätzte ihn so, dass er hörbar die Nase hochzog und laut erklärte: «Ihr Parfüm gefällt mir sehr gut.»

Im Café Rech winkte ihm eine kurvenreiche Blondine mit einem tiefbraunen Gesicht zu. Ihr Kleid war modisch kurz und weit, mit Volant und Türkenbundfalten, sie hatte herausfordernd lange Beine, und weil Holm schmunzelte, klagte sie schnell: «Ich darf mich nirgendwo alleine hinsetzen, es hagelt nur so Angebote.»

«Ist das die neue Dienstuniform?», fragte er trocken.

«Halb und halb, Herr Rat», flüsterte sie. «Ich hab für den Kauf einen Zuschuss beantragt, den Sie ja abgezeichnet haben.»

«Was?» Er wollte hochfahren, stimmte dann aber doch in ihr Lachen ein. «Ich zeichne so viel ab.»

«Ich trag’s auch wirklich nur dienstlich. Mein Mann schimpft, die Polizei würde mich mehr schlecht als recht für meinen Kopf bezahlen, aber als nymphomanes Dummerchen sollte ich Erschwerniszulage verlangen.» Sie hatte ein lustiges Gesicht mit einer spitzen Nase, und auf der Straße erkundigte er sich neugierig: «Wo erschweren Sie sich denn das Leben?»

«In der neuen Bodega in der Krämergasse. Die ist so in, dass der kundige, weitläufige Yuppie zur Zeit dort aufreißt.»

«Und von wem wollen Sie sich aufreißen lassen?»

«Kaufen soll ich. Dort wird Schmuck angeboten, ganz offen, zu sagenhaften Preisen.»

«Diebesgut?»

«Möglich. Es ist wohl über Delta gelaufen. Aber bis jetzt haben wir noch nichts identifiziert. Die Typen sind eiskalt, schlagen sogar selbst vor, man solle sich vorher von einem Juwelier beraten lassen.» Ausgelassen schlenkerte sie ihre Handtasche. «Die fühlen sich verdammt sicher.»

«Na schön. Sie müssen mich nur bei dieser Studentin aus dem Ortex Büro einführen.»

«War es falsch, dass ich mich als Polizistin ...»

«Nein, im Gegenteil, Sie haben sich richtig verhalten. Aber an der Geschichte kann mehr dran sein.»

Sie hängte sich bei ihm ein. Es machte Spaß, mit ihr über eine belebte Straße zu flanieren, er freute sich über die neidischen und neugierigen Blicke. Sie spielte ihre Rolle als lebenslustige Freundin auch jetzt an seiner Seite. Wahrscheinlich hatte sie einen Hang zur Boshaftigkeit, der ihn nicht störte, sondern, wenn er nur groß genug war, sogar amüsierte.

«Martina Klein. Albertstraße 13.»

Martina Klein entpuppte sich als hübsche Person mit großen Träumen in einer winzigen Wohnung, deren Möbel vom Sperrmüll zu stammen schienen. Unter der Tür hatte sie ihrer neuen Freundin noch fröhlich, wenn auch unter Schmerzen zugelacht; als Obermeisterin Schmitz sich als Polizistin und ihn als Kriminalrat vorstellte, veranstaltete sie einen wüsten Zirkus, mit Tränen, Geschrei und Kopflosigkeit. Holm musste immer wieder drei Versprechen beteuern: Ihr Freund würde nichts von der Affäre Lutz erfahren - sie musste ihren zerschlagenen Körper nicht noch einmal vorführen - niemand würde sie zwingen, gegen Lutz Anzeige zu erstatten. «Kann ich dann gehen, Herr Rat?», fragte die ungeduldige Obermeisterin, und erschöpft wedelte er mit der Hand. Martina Klein war anstrengend.

Über Golonka erzählte sie nicht viel. Holm hätte sie aufklären können, dass sie Objekt eines klassischen Anwerbeversuchs gewesen war, aber der Moment der Trennung interessierte ihn mehr. Bis zu dem Moment, als sie entsetzt ablehnte, war Lutz «nett und zuvorkommend» gewesen. Doch dann, wirklich von einer Sekunde auf die andere, wurde er zu einem «reißenden Tier» - mehr als diese Umschreibung wollte sie nicht zugestehen. Für Holm bestand kein Zweifel, dass Golonka es darauf angelegt hatte, sie durch die Vergewaltigung zu demütigen, aber gleichzeitig auch körperlich zu verletzen. Als sie zu schreien begann, drohte er, den Achim zu holen, der sich in der Nähe des Hauses herumtrieb.

«Welcher Achim?», wollte Holm sehr beiläufig erfahren.

Ein großer Blonder. Was genau er machte, wusste sie nicht, vielleicht Fahrer. Oder ein Angestellter bei Lutz. Jedenfalls entfernte er sich nie weit von Lutz, und entweder war sie so naiv, oder sie hatte Angst, die Wahrheit auszusprechen. Ein Leibwächter, und im «Rendezvous» wohl eine Art Rausschmeißer.

«Wie war das nun mit Ihrer Kündigung bei der Ortex?»

Ohne Arg wiederholte sie, wenn auch recht konfus, ihre Geschichte. Delta hatte sie beschimpft, nachdem Lutz ihn angerufen hatte ...

«Das steht also fest - Lutz hat Ihren Chef angerufen?»

«Ja ja.»

«Kein Irrtum möglich?»

«Nein, Lutz, dieser ... dieser ... also, Lutz hat meinen Chef angerufen und mich angeschwärzt.» Weil sie ein neues Taschentuch für eine neue Tränenflut hervorkramen musste, verdaute er schweigend diese eigenartige Verwicklung. Ein Bordellbesitzer hatte eine junge Frau vergewaltigt und konnte ihrem Chef befehlen - oder mit Erfolg nahelegen -, sie Knall auf Fall zu entlassen. Merkwürdig!

«Lutz hat Ihnen ein goldenes Armband geschenkt ...»

«Nehmen Sie’s, nehmen Sie’s bloß mit, ich will’s nicht mehr sehen, und wenn Oliver ...» Nun war ein Deich gebrochen, und Holm zog eilig mit einem goldenen Armband ab, für das er ihr eine Quittung regelrecht aufdrängen musste.

Langsam fuhr er quer durch die Stadt in den Hirtenwald, parkte neben der Ausflugsgaststätte «Zur alten Tränke» und studierte die Tafel mit den Wanderwegen. Der Hirtenwald zog sich über gut sechs Kilometer hin, mit Vorsprüngen, Buchten und Einschnitten, im Grunde nicht mehr als ein zweihundert bis dreihundert Meter breites grünes Band zwischen der Bahnlinie im Osten und dem Stadtteil Heimingen im Westen. Hier, an der alten Tränke, senkte sich das Gelände in das Heimerbachtal. Wenn er den Kopf nach rechts drehte, konnte er den hohen Eisenbahndamm sehen, und wenn er sich umdrehte, die Unterführung für die Talstraße, den Bach und die Wanderwege.

Nach einem Blick auf die Uhr lief er los. Vom Parkplatz führten drei Wanderwege strahlenförmig in den Wald, und Holm nahm den linken, der, von kleinen Schlenkern abgesehen, eine Generalrichtung beibehielt. Fünf Minuten, sechs Minuten - links voraus die ersten Hecken und Zäune, Dächer und Obergeschosse. Das war schon der Waldsaum. Hohe Buchen und Eichen, überhaupt kein Unterholz, allenfalls mal Wurzeln, über die man stolpern konnte. Drei Männer mussten einen Seitenschneider, Hammer, Keil, ein Schweißgerät und zwei Gasflaschen tragen - hin. Und zurück das Werkzeug plus jener Beute, mit der sie gerechnet hatten. Was mochten die Gasflaschen wiegen? Vielleicht beschwerlich, aber sehr viel ungefährlicher, als einen Wagen im Waldsaum selbst oder in einer der Sackgassen zu parken, die vom Waldsaum abzweigten. Und wenn die Beute, die sie ins Auge gefasst hatten, etwa aus Schmuck bestanden haben sollte - er machte kehrt und bummelte zurück.

Der Wirt studierte seinen Dienstausweis, als wolle er ihn anschließend aus dem Gedächtnis reproduzieren. Endlich brummte er: «Nee, ich mache spätestens um 23 Uhr dicht, dann ist keiner mehr in dieser Bude - nee, nee, ich wohne in der Stadt.»

«Aber auf dem Parkplatz stehen dann noch Autos?»

«Bei schönem Wetter immer.» In seinen Bronchien rasselte es. «Die Romantik stirbt nicht aus, gut für die Rente.»

«Dauerparker über Nacht ...»

«Nee, das nicht. Manchmal lass ich meinen Lieferwagen stehen, aber wer die alte Möhre klaut, ist selber schuld.» Früher, vor vielen Jahren, hatte er einen Wachdienst engagiert. Aber bei den steigenden Preisen, also, so ab ein, zwei Uhr war’s hier menschenleer. «Und Einbrüche, wissen Sie, was gibt’s hier schon zu holen?»

Das fand Holm auch, der Handbewegung nachblickend, die Schäbigkeit der Gaststube suchte ihresgleichen.

Schultheiß verbarg sein Misstrauen nur unvollkommen, als Holm das Armband ablieferte und anordnete, es solle mit gesuchter oder gemeldeter Diebesbeute verglichen werden.

«Wie hoch schätzen Sie den Ladenpreis?»

«Je nach Geschäft ...», er wog das schwere Stück in der Hand, «doch sechs- bis achttausend Mark, Herr Holm.»

Noch immer sicherte er nach allen Seiten, wenn er auf seinem Hof in die Garage fuhr, aber der Pistolenheld riskierte keinen zweiten Versuch. Allmählich irritierte es ihn, weil sein erster Verdacht anscheinend doch falsch gewesen war.

Am nächsten Morgen parkte er seinen Wagen zwei Straßen entfernt und achtete auf mögliche Verfolger, schlug eigens einen Haken und war sicher, dass er unbeobachtet das Hochhaus Steigerwaldstraße 44 betrat, nachdem er auf gut Glück irgendwo geklingelt hatte. Der Aufzug war über und über mit Sprüchen verziert: «Freiheit für Grönland - weg mit dem Packeis!» - «Als Gott den Mann schuf, übte sie nur.» - «Legal, illegal, scheißegal.» - «Ohne Bullen keine Ochsen.» - «Es gibt so viel zu tun, lassen wir es liegen.» - «Ohne Preis kein Fleiß.» Die fehlende Aktualität wurde durch erstaunlich korrekte Orthographie ersetzt.

Die junge Frau ließ ihn nach dem Klingeln lange warten, und als sie endlich öffnete, verriet das schnelle Zucken ihrer Augen, dass sie sofort den Polizisten erkannt hatte: «Ja?»

«Ich möchte mit Ihnen reden!» Er sagte es so freundlich bestimmt, dass sie einen Moment nachdachte: «Sind Sie neu in der ... in der Abteilung?»

«Nein, ich habe mit der ... Abteilung nichts zu tun.»

Wieder musterte sie ihn, hob endlich die Schultern und trat zur Seite: «Ich wüsste zwar nicht, was wir ... aber bitte.»

Sie ging voran in einen großen Wohnraum, der bis auf einen Sessel, einen Fernseher und eine große Stereoanlage völlig leer war, hockte sich im Schneidersitz auf den Boden und deutete unbestimmt auf den Sessel: «Was wollen Sie von mir?»

«Informationen über Golonka.»

«Sie sind verrückt.» Sie stellte es völlig ruhig fest, umklammerte nur ihre Knie, als wollte sie ihre Hände ruhig halten.

«Nein, ich biete Ihnen ein Geschäft an: Informationen gegen Geld.» Sie trug einen engen, schwarzen, dünnen Trainingsanzug, der Arme und Beine bedeckte, darüber eine Art hellrosa Badeanzug, der im Sonnenlicht obszön fleischfarben aussah.

«Zwecklos. Ich bin nicht lebensmüde.»

«Das verlangt auch keiner von ihnen. Sie sollen nicht schnüffeln, nicht rumstöbern. Sie sollen nur Augen und Ohren offen halten.» Ihr Blick irrte ab; er wusste, dass sie jetzt fieberhaft nachdachte. «Passen Sie auf, ich bin nicht von der Sitte, das <Rendezvous> interessiert mich nicht. Aber Golonka macht Nebengeschäfte, und darüber würden wir gern etwas erfahren.»

«Und wenn ich nun zu Golonka gehe und ihm erzähle, dass mich ein Bulle anwerben wollte?»

«Das werden Sie nicht tun. Denn Sie wissen genau, was Golonka dann tun wird. Er schmeißt Sie hochkant raus und hetzt die Luden auf Sie.»

Unwillkürlich verzog sie das Gesicht zu einer Grimasse, und er stand auf: «Ich zwinge Sie zu nichts. Ich verpfeife Sie auch nicht. Ich warte jetzt darauf, dass Sie mich anrufen. Je nachdem, was die Information wert ist, stecke ich einen Schein in einen Briefumschlag ohne Absender und schicke ihn an diese Adresse.»

«Und wenn ich nicht anrufe?»

«Dann habe ich eben Pech gehabt. Ich heiße Holm, Arno Holm. Sie können mich jederzeit im Präsidium anrufen.»

Geistesabwesend kaute sie auf einem Daumen und starrte auf das blanke Parkett. Langsam ging er zur Tür und drehte sich dort um: «Wie auch immer - wir werden uns niemals wieder treffen.»

«Sehr gut!» Ihr spontaner Stoßseufzer war so ehrlich, dass er schmunzeln musste: «Und noch eins - nie etwas Schriftliches!»

«Keine Sorge!», schnappte sie. Vor dem hellen Fenster und der blendenden Sonne hatte ihr Aufzug einen abstoßenden Effekt: Nackter Körper, aber Arme und Beine bedeckt. «Sie heißen Holm? - Ich habe gehört, Sie tauchen nach U-Booten.»

Sieh mal an, Wello hatte gespurt! Aber wie war das bis zu ihr gelangt? Ihr Gesicht war nicht deutlich zu erkennen, und deswegen mahnte er freundlich: «Auch das sollten Sie für sich behalten.» Leise verließ er die Wohnung. Im Aufzug studierte er zwei weitere beherzigenswerte Sprüche: «Wer sündigt, schläft nicht.» - «Wer nicht arbeitet, soll wenigstens gut essen.»

Sammelband 4 Horst Bieber Krimis: Zeus an alle / Was bleibt ist das Verbrechen / Moosgrundmorde / Nachts sind alle Männer grau

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